Reisefotografie erleben: Menschen - Szenen - Geschichten
Von Jochen Weber
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Über dieses E-Book
In einem einführenden Kapitel erläutert der Autor, wie man beim Fotografieren von Menschen in anderen Kulturräumen sensibel vorgeht. Eingehend beschreibt er in der Folge die Entstehung ausgewählter Fotos sowie die fotografischen Mittel, die eingesetzt wurden, um die gewünschte Bildwirkung zu erzielen. Wo erforderlich ergänzt er die beschriebenen Szenen mit zusätzlichen Fotobeispielen. Abschließend stellt Ihnen Jochen Weber vier beispielhafte Minireportagen vor, denen er praktische Tipps voranstellt, die Sie zu eigenen kurzen Reisereportagen anregen und anleiten.
Kombiniert mit der Ästhetik eines Fotobildbands sind die Bilder und Hintergrundinformationen ein nützlicher Beitrag zu Ihrer fotografischen Weiterentwicklung. Lassen Sie die Bilder auf sich wirken und gehen Sie ihrer Wirkung auf den Grund. Denn die Geschichte, die ein Foto zu erzählen hat, erzählt es nur dem Betrachter selbst.
Aus dem Inhalt:
- Menschen auf Reisen fotografieren
- Szenische Fotografien
- Porträts
- Street-Fotografien
- Minireportagen
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Buchvorschau
Reisefotografie erleben - Jochen Weber
Einführung
Seit Jahrzehnten reise ich leidenschaftlich, und seit die ersten Digitalkameras einigermaßen praxistauglich wurden – so gegen 1998 – fotografiere ich dabei auch. Schon von Anfang an reizte mich dabei neben der Besonderheit einer Szene oder eines Motivs die Ästhetik des Augenblicks, bei der ich die Zeit auf meine Weise anhalten kann, um etwas zu zeigen, damit der Betrachter sich ein besseres Bild eines Geschehens oder einer Person machen kann. So wird die Szene »aus der Zeit herausgeschnitten«: Dann kann sie in aller Ruhe und immer wieder betrachtet, ja studiert werden und auch Gegenstand einer Überlegung oder sogar neuer Inspiration sein.
Im Laufe der Zeit hat sich immer mehr herauskristallisiert, dass das wirklich spannende Motiv für mich der Mensch ist, egal in welcher Form: ob als Porträt, im Bereich der Streetfotografie oder als kleiner Bestandteil einer Landschaftsaufnahme – am Ende macht vor allem der Mensch ein Foto spannend, weil lebendig. Am aussagekräftigsten empfinde ich es dabei, wenn ich nicht nur den Menschen alleine oder gar nur einen Ausschnitt einer Person aufnehme wie bei einem Porträt, sondern ihn in seiner Umgebung fotografiere. Am besten bei dem, was er gerade tut – egal was es ist: Das genau ist ja auch das Spannende, nämlich Fragen wie »Was macht der da?« oder »Warum macht er das?«.
Da diese Art von Fotografien oft in keine der klassischen fotografischen Kategorien passt – mit Ausnahme der Kategorie Menschen bei der Arbeit –, nenne ich sie für mich inzwischen »szenische Fotografien«: Fotos, bei denen im Augenblick der Aufnahme etwas geschieht und die diesen vergleichsweise kurzen Moment exemplarisch für die gezeigte Handlung festhalten und transportieren. Dies mache ich immer bewusster gerade im Unterschied zum Filmen, aber auch zum reinen Sehen, was ja beides kontinuierlich ablaufende, in ihrer Bewegung pausenlose Prozesse sind und somit nichts festhalten können. In diesem Sinne und im besten Fall möchte ich mit diesen Fotos Geschichten erzählen. Geschichten von oder mit Menschen, wobei der Mensch gar nicht immer selbst mit auf dem Foto sein muss – aber er sollte zumindest erkennbar sein hinter dem, was man sieht, als Verantwortlicher für das, was gerade passiert oder passiert ist. Diese Art szenischer Fotos hebt sich klar ab von dem fotografischen Genre, das mit künstlich arrangierten Sets arbeitet – sie ist, genau genommen, das Gegenteil. Mehr über dieses Thema aus meinem Blickwinkel findet sich im nächsten Kapitel Menschen auf Reisen fotografieren.
Sehr wichtig ist mir normalerweise die gute Vorbereitung einer Reise, eines Fotoausflugs oder eines Projekts. Folgende Fragen versuche ich dabei vorab zu beantworten:
› Was gibt es für Motive, Sehenswürdigkeiten, Feste, Prozessionen etc., wann lohnt sich also der Besuch?
› Zu welcher Uhrzeit – oder sogar in welcher Jahreszeit – ist das Licht am besten? Zu welcher Uhrzeit geht die Sonne auf bzw. unter und in welcher Richtung? Unverzichtbares Hilfsmittel ist mir dafür die App The Photographer‘s Ephemeris (TPE, photoephemeris.com) geworden (für iOS, Android oder Desktop).
› Aus welcher Richtung oder Position ergibt sich die beste (schönste, seltenste, spektakulärste etc.) Perspektive?
› Das Internet hat diesen Aspekt der Vorbereitung enorm vereinfacht. Mein beliebtestes Hilfsmittel hierfür ist eine Kombination aus TPE, Google-Bildern und Google Maps/Street/Earth.
› Wie haben andere Fotografen das Motiv umgesetzt? Wie war deren Herangehensweise, was kann ich anders machen?
› Sollte ich gegebenenfalls rechtzeitig Genehmigungen einholen?
Urlaub machen und einigermaßen ambitioniert oder professionell fotografieren, verträgt sich meistens nicht! Bei einer normalen, typischen Urlaubsreise ist man praktisch immer zur falschen Zeit am richtigen Ort und natürlich umgekehrt, zur besten Zeit am falschen Ort … oder man ist überhaupt nicht am richtigen Ort! Morgens früh raus, das Frühstück im Auto oder irgendwo unterwegs oder viel zu spät oder vielleicht sogar gar nicht einnehmen, obwohl es im Hotel bezahlt war, oder abends erst weit nach Sonnenuntergang ein Restaurant suchen – das ist nicht jedermanns/-fraus Sache! Auch nicht, dass sich so gut wie alles nur um das Fotografieren dreht. Nachts raus, tagsüber gute Spots und Standorte suchen, rechtzeitig vor Sonnenuntergang dort sein, eventuell für Nachtfotos länger aufbleiben oder extra früh aufstehen, dazwischen Systempflege, Daten sichern und über Motive diskutieren, vielleicht auch am Laptop schon bearbeiten – so wird man auf Dauer zu einem problematischen Partner. Es sei denn, der Partner/die Partnerin fotografiert ebenfalls intensiv! Es gilt also, im Urlaub Kompromisse zu finden, sonst verpasst man entweder die besten Fotos oder irgendwann seinen Partner! Bei Aufträgen reise/arbeite ich also am liebsten und besten alleine.
Das Motiv sehen: Auf der Suche nach dem Kern der Sache
Ich mache nur Fotos von Situationen und Motiven, die mich selbst berühren, mir persönlich etwas bedeuten, sei es durch einen besonderen Moment, eine besondere Stimmung oder einen spannenden Bildaufbau. Wahrscheinlich ist es mitunter diese Haltung, die auf Dauer zum eigenen Stil, zur eigenen Bildsprache führt. Natürlich sollte man immer wieder versuchen, das Ungewohnte, Neue zu entdecken und auch das Gewohnte neu zu sehen, um so ständig wieder seinen fotografischen Blick zu schulen, mit dem wir die Welt selektiv wahr- und aufnehmen.
Einmal ein lohnendes Motiv ausgemacht, setze ich mich intensiv damit auseinander, nähere mich ihm langsam, kreise es ein wie der Jäger seine Beute. Wenn mich ein Motiv, eine Szene wirklich reizt, gelange ich manchmal beim Fotografieren mit der Zeit in eine Art meditativen Zustand, bei dem ich die Zeit und alles andere um mich herum nicht mehr wahrnehme. Die Psychologie spricht hier wohl von einem »Flow-Erleben«. Dabei entsteht ein Wechselspiel zwischen mir und dem Motiv, bei dem ich es sehr intensiv erlebe, und ich tauche aus diesem Zustand erst wieder auf, wenn die Energie zwischen mir und dem Motiv aufgebraucht ist. Diesen Zustand kann ich leider nicht aktiv auf Knopfdruck hervorrufen, er kommt manchmal von selbst, aber nicht immer! Die Erfahrung zeigt, dass die Intensität eines Fotos umso größer ausfällt, je stärker die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Motiv beim Fotografieren war.
Am liebsten erzähle ich also mit meinen Fotos von Menschen und Orten, ungeschminkt und ungestellt. Die Motive finde ich auf Reisen, egal wo. Wichtig ist mir dabei, Situationen mit Menschen oder Stimmungen in ihrem Kern zu erfassen und das Wesen einer Szene in einer möglichst bewussten Bildsprache festzuhalten. Es gibt dazu ein schönes Zitat vom Meister Henri Cartier-Bresson:
»Fotografieren bedeutet, Verstand, Auge und Herz auf eine Linie zu bringen. Es ist eine Art zu leben.«¹
Das Wesen eines Motivs zu erfassen bedeutet für mich, mich langsam einem Motiv zu nähern, sehr nah heranzugehen und dabei viel auszuprobieren, von Übersichten bis zu kleinen Details des Motivs aus unterschiedlichen Perspektiven (solange eine Szene das hergibt). So bekomme ich ein Gespür für das Motiv und mit der Zeit weiß und spüre ich dann meistens, worauf es mir ankommt. Dies bedeutet aber auch, dass die ersten Fotos eines Motivs oft nicht gut sind, dafür die späteren umso besser. In der Praxis bestätigt sich meine Theorie fast immer.
Bei den hier ausgewählten Fotografien beschreibe ich vor allem die Geschichte und den Hintergrund des Motivs sowie die Entstehung des Fotos. Besonderheiten der Aufnahmesituation oder fotografisch relevante Informationen wie beispielsweise Licht, Bildgestaltung, Bewegung, Aufnahmetechnik oder auch Nachbearbeitung erläutere ich da, wo es mir erwähnenswert erscheint. Diese beiden Textabschnitte sind mit verschiedenen Textfarben gekennzeichnet, einmal schwarz und einmal dunkelblau. Die eigentliche Geschichte aber, die ein Foto mitzuteilen hat, erzählt es immer nur dem Betrachter selbst.
Buddhistischer Mönch, Kloster Lamayuru, Ladakh (»Konzentration auf das Wesentliche«)
Menschen auf Reisen fotografieren
Das Spannende an der Reisefotografie ist ihre Vielfältigkeit, denn sie vereint ganz unterschiedliche fotografische Disziplinen. Je nach Reise sowie den eigenen Schwerpunkten und Vorlieben wechseln diese zwischen Architektur, Dokumentation, Events (Umzüge, Partys, Feste etc.), Landschaft, Museum, Natur & Tiere, People & Street, (situativen) Porträts, Sport, Szenen, manchmal auch noch Available-Light- (AVL) oder Astrofotografie. Was bedeutet, dass der Reisefotograf mehr oder weniger vielseitig begabt sein sollte. In der Praxis ist es jedoch meistens so, dass er nur eine Disziplin wirklich gut beherrscht. Hier sollte sich der Reisefotograf den Zehnkämpfer in der Leichtathletik zum Vorbild nehmen: Auch dieser beherrscht in der Regel eine Disziplin meisterhaft auf allerhöchstem Niveau, aber die anderen neun ebenfalls in einem überdurchschnittlichen Maß. Deshalb wird er nicht umsonst als »König der Leichtathleten« bezeichnet – und kann so Ansporn für den Reisefotografen sein, sich gleichermaßen in mehr als einer Disziplin ständig zu verbessern und überdurchschnittliche Ergebnisse in unterschiedlichen Genres zu erzielen.
Wie ich in der Einleitung bereits erwähnte, hat sich für mich im Laufe der Zeit der Mensch zum spannendsten Motiv entwickelt, weil Personen Fotografien immer lebendig machen – mehr als alles andere. Und dennoch empfinde ich, selbst nach Jahren der Erfahrung, das Fotografieren von Menschen immer noch als eines der schwierigsten Sujets der Fotografie. Da wir uns hier im Genre der Reisefotografie bewegen, geht es mir bei dieser Art der Peoplefotografie weder um gestellte, professionell-formelle Porträts oder Studioaufnahmen noch um formale Event-, Familien- und Hochzeitsfotografie oder Mode- und Aktaufnahmen. Sondern mein Thema ist die informelle, spontane und (möglichst) ungestellte Personenaufnahme … und darüber hinaus geht es mir um eine interkulturelle Betrachtung dieser Menschen bei dem, was sie tun und wer sie sind. Das reicht von situativen Porträts über Milieustudien, natürliche Porträts, Alltagsszenen und Arbeit (People at Work) bis hin zu szenischen Aufnahmen und Reportagefotos mit Menschen sowie Straßenfotos.
Wenn ein Mensch im Mittelpunkt eines Fotos steht, ist es vorteilhaft, den individuellen Charakter dieses Menschen zu zeigen. Wenn es die Szene erlaubt, dann zeigen Sie auch, wie er in unmittelbarer Beziehung zu seiner Umgebung steht.
Büglerin, Hampi, Indien
Auch wenn dieses Buch keine generelle Anleitung zur Peoplefotografie an sich ist – hierfür gibt es viele andere gute Bücher und Anleitungen –, möchte ich dennoch ein paar grundlegende Aspekte dazu anführen und Hintergrundinformationen liefern. Was die Ausrüstung betrifft, ist 85 mm (entsprechend KB-Format) eine typische Brennweite für Porträts. Ist ein Objektiv zu weitwinklig, verzeichnet es übermäßig und die Nase der porträtierten Person tritt zu weit hervor, vor allem wenn Sie sehr nah herangehen. Im Gegensatz dazu wirkt ein Gesicht, mit einem langen Teleobjektiv aufgenommen, zu »platt«. Je nach Situation und Ausrüstung können Sie also mit Brennweiten zwischen 50 mm und 150 mm gute Porträts erstellen. Die Nähe zum Modell hängt natürlich von der gewählten Brennweite, dem gewünschten Bildausschnitt und der gewählten Einstellungsgröße (Porträttyp, siehe unten) ab. Aus eigener Erfahrung, speziell auch denen meiner Fotokurse, kann ich sagen, dass man am Anfang grundsätzlich zu weit vom Modell entfernt ist! Wenn Sie das Gefühl haben, doch schon sehr nah dran zu sein, dann gehen Sie noch näher heran! Diese Nähe zum Motiv schafft später auch Nähe und Intensität beim Betrachter des Fotos. Außerdem interagieren Sie auch besser mit Ihrem Modell, wenn Sie näher dran sind, was zusätzlich gegen zu lange Brennweiten bei Porträts spricht!
Was die Beachtung eines spannenden Bildaufbaus und einer bewussten Bildgestaltung betrifft, sind diese hier natürlich genauso wichtig wie bei jedem anderen Motiv auch. Bei Nahaufnahmen empfiehlt es sich in aller Regel, mit dem Hochformat zu arbeiten. Für Porträts, die die unmittelbare Umgebung des oder der Porträtierten mit einbeziehen, ist das nur noch bedingt der Fall. Gerade bei szenischen Fotografien, Alltagsszenen und Reportagefotos befindet sich die mitwirkende und bildwichtige Umgebung oft seitlich der Personen, selten nur darüber oder darunter, was wiederum für das Querformat spricht. Bezüglich der Formatfrage entwickelt man aber sehr schnell ein sicheres und schnelles Auge dafür, was sich beim jeweiligen Motiv eher eignet. Bei Nahaufnahmen oder Oberkörperporträts ist man in Sachen Gestaltung vielleicht etwas eingeschränkt, aber dann können Sie ruhig auch Anschnitte wagen, gerade oben am Kopf oder an den Seiten der porträtierten Person.
Arbeiter auf einer Kaffeefarm, Brasilien: Gehen Sie nah ran, schneiden Sie an!
Nicht nur bei Kinderporträts gilt: Begeben Sie sich auf Augenhöhe mit den zu fotografierenden Menschen, es sei denn, Sie möchten ganz bewusst bestimmte Wirkungen erzielen oder absichtlich extreme Blickwinkel nutzen. Nehmen Sie jemanden von unten auf, kann die porträtierte Person schnell überheblich, abgehoben oder arrogant wirken, da der spätere Bildbetrachter