Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr
Von Paul Widmer
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Über dieses E-Book
Voltaire staunte, dass die Schweiz einen Platz in der Weltgeschichte ergattern konnte, obschon sie nichts als ein paar Felsbrocken anzubieten habe. Warum nehme man überhaupt von ihr Notiz? Seine Antwort: weil sie mehr Freiheit biete.
Immer wieder schaffte es die Schweiz, sich mit ihrer Demokratie, dem Föderalismus, der Neutralität und der Mehrsprachigkeit von den vorherrschenden Trends abzuheben. Sie war eine Alternative.
Die Schweiz muss ihre Eigenart bewahren. Entweder hat sie etwas Spezielles zu bieten, oder sie geht im Mainstream auf. Auf Voltaires Frage gäbe es dann keine Antwort mehr. Die Schweiz würde zwar dem Namen nach noch existieren, aber das wäre auch alles. Als Alternative hätte sie abgedankt.
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Buchvorschau
Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr - Paul Widmer
Inhalt
Cover
Titelei
Einleitung
Das Modell Schweiz – eine Alternative
Der Name Schweiz – ein Wirrwarr
Der Begriff Schweiz – eine Benchmark
Die Nation Schweiz – eine Nation avant la lettre
Die Schweiz als Staat – ein notwendiges Übel
Die neutrale Schweiz – eine gefährdete Erfolgsgeschichte
Fazit
Ausgewählte Literatur
Personenverzeichnis
Ebenfalls bei NZZ Libro erschienen
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Über den Autor
Über das Buch
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Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
2. Auflage 2024
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 2. Auflage 2024 (ISBN 978-3-907396-73-5).
© 2024 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Lektorat: Kerstin Köpping
Korrektorat: Ulrike Ebenritter
Umschlag: Felix Wallbaum, Weiß-Freiburg GmbH
Gestaltung, Satz, Datenkonvertierung: 3w+p GmbH, Rimpar
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ISBN Print 978-3-907396-73-5
ISBN E-Book 978-3-907396-74-2
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Einleitung
Noch ein Essay zur Schweiz, als ob es deren nicht schon genug gäbe! Ich höre schon den Seufzer, wie man ihn nach endlosen Wortmeldungen auf langweiligen Tagungen vernimmt: Mein Gott, alles ist schon gesagt, nur noch nicht von allen. Und gibt es zur Schweiz überhaupt noch etwas Positives zu sagen? Nein, das sollte man besser unterlassen, meinte der britische Historiker Tony Judt im Leibblatt der linksliberalen Trendsetter, in der New York Review of Books. Die Schweiz heutzutage zu rühmen, sei völlig altbacken; das sei, als ob man ein Loblied aufs Zigarettenrauchen anstimmte.¹ Und der luzide Intellektuelle, den es Jahr für Jahr nach Mürren im Berner Oberland zog, tat es 2010 in seinem letzten Lebensjahr trotzdem.
Mein Vorhaben ist, ich gestehe es, etwas vermessen. Dennoch will ich, Trend hin oder her, nicht davon absehen. In der Schweiz lief einiges anders als in den Ländern ringsum. Es lohnt sich, darauf einen Blick zu werfen. So stelle ich einige Überlegungen zur Schweiz als Modell, als Name, als Begriff, Nation und Staat an, ergänzt um einige Beobachtungen zur Neutralität. Das tönt relativ abstrakt, ist es aber nicht. Ich operiere weniger mit Definitionen als mit konkreten Beispielen aus Geschichte und Gegenwart. Zuweilen greife ich tief in die Vergangenheit zurück, um die Gegenwart zu erklären. Der Philosoph Hermann Lübbe lehrt, dass man das, was stutzig macht, was vom Üblichen abweicht, nur historisch erklären kann.² Man muss den besonderen Grund aufdecken, weshalb etwas so geworden ist, wie wir es vorfinden. Die Schweiz weicht in den sechs Bereichen, die ich analysiere, markant von den anderen Staaten ab. Sie schlug eine Sonderentwicklung ein.
Bei meinem historisch grundierten Ansatz leitet mich die Überzeugung, dass man aus der Geschichte lernen kann – zwar weniger, wie man es machen muss, als wie man es nicht machen darf. Denn eine Situation präsentiert sich in der Gegenwart nie genau gleich wie in der Vergangenheit. Die Zukunft ist stets offen für verschiedene Varianten. Die Vergangenheit dagegen ist abgeschlossen. Dort kann man das Verhältnis von Ursache und Wirkung studieren. Man kann Erfolg und Misserfolg erklären. Geschichtliche Erfahrung liefert keine Erfolgsrezepte für die Gestaltung der Zukunft, aber sie hilft, Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Ja, die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.
Was also ist an der Schweiz erklärungsbedürftig?
Da ist vorab ihr eigenständiger politischer Weg. Zu allen Zeiten erhielt die Schweiz deswegen viel Aufmerksamkeit, im Positiven wie im Negativen. Für einige verkörpert sie die Kleinstaaterei in Reinkultur, andere jedoch sehen in ihr ein modellhaft gutes Staatswesen. Dabei werden zwei verschiedene Züge hervorgehoben. Die einen empfehlen die Schweiz wegen ihrer lebendigen Demokratie, die anderen wegen ihres ausgeprägten Föderalismus und nicht wenige wegen beidem zusammen.
Dann gibt es einiges zum Namen zu sagen. Ich kenne kein anderes Land, das in der Namensgebung einen solchen Wirrwarr aufweist. Die Schweizer setzten sich über alle Ansätze zu einer Normierung respektlos hinweg. Auf derart Nebensächliches legten sie wenig Wert. Eine solche Nonchalance konnten sie sich nur leisten, weil die Schweiz als Nation längst gefestigt war, als der Sprachnationalismus aufkam und die nationalen Attribute für sakrosankt erklärte.
Erstaunlich ist die Schweiz auch als Begriff. Wer von ihr redet, ruft starke Assoziationen hervor. Überall in der Welt kann man sich darunter etwas vorstellen, nicht nur geografisch, sondern auch politisch, gar staatskundlich. Nicht nur in den Nachbarländern, selbst auf anderen Kontinenten verbindet man die Schweiz mit Demokratie, Neutralität oder Frieden. Sie steht für einen bestimmten Typus von Staat. Dass ein kleines Land zu einem Aushängeschild oder, neudeutsch gesprochen, zu einer Benchmark wird, kommt eher selten vor. Die frühe Entstehung des Begriffs Eidgenossenschaft schon im 14. Jahrhundert trug wesentlich dazu bei.
Und die Schweiz als Nation: Ist sie eine oder ist sie keine? Natürlich ist sie eine, aber keine Sprachnation, sondern eine Willensnation. Was die Schweiz zusammenhält, ist der Wille zur Freiheit. Daraus ist die Eidgenossenschaft entstanden. Und dieser Wille hält sie bis heute zusammen. Mit grosszügigen direkt-demokratischen Rechten und einem starken föderalistischen Schutz vor zentraler Macht gewährt sie mehr Freiheit als die Staaten ringsum. Sollte dies eines Tages nicht mehr der Fall sein, wäre es um ihre Daseinsberechtigung schlecht bestellt.
Zum Staat dagegen hatten die Schweizer lange ein distanziertes Verhältnis. Nichts von Staatsvergötterung, nichts von Verfassungspatriotismus. Den Staat, genauer den Zentralstaat, betrachteten sie eher als ein notwendiges Übel. Die Eidgenossen liessen den Ausbau der Verwaltung, diesen sicht- und spürbarsten Ausdruck des Staates, nur mit grösster Zurückhaltung zu. Dagegen suchten sie mit einem feinmaschigen Milizwesen die öffentlichen Aufgaben selbst zu erledigen. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung schätzte man höher als einen machtvollen Staat. Die Kraft der mittelalterlichen Gemeindeautonomie wirkte über Generationen nach, bis sich die moderne Schweiz mit der Bundesverfassung von 1848 eine föderalistische Gestalt gab. Inspiriert vom Verfassungsmodell der Vereinigten Staaten und in Symbiose mit Errungenschaften der Französischen Revolution floss alteidgenössisches Gedankengut in die neue Ordnung ein. Die Staatsskepsis ist mittlerweile stark abgeflacht. Doch selbst heute noch dürfte die Staatsgläubigkeit in der Schweiz um einiges niedriger sein als in anderen Ländern. Politisches Denken in der Schweiz hat nicht selten einen antistaatlichen Stachel.
Schliesslich noch die Neutralität. Sie gehört so selbstverständlich zur Schweiz wie das Matterhorn. Während Jahrhunderten machte die Eidgenossenschaft die Neutralität zur Grundlage ihrer Aussenpolitik. Auf dem Wiener Kongress (1814/15) spielte sie gar eine Pionierrolle. Die Signatarstaaten bestätigten, dass ihre bewaffnete und immerwährende Neutralität legitimer Teil einer Friedensordnung ist. Sie erkannten sie völkerrechtlich an. Inmitten von Grossmächten bemühte sich die Schweiz seither, mit grosser Konstanz eine Neutralitätspolitik zu verfolgen, nicht immer ganz lupenrein, im Grossen und Ganzen aber doch recht zuverlässig. Damit ist sie ausserordentlich gut gefahren.
Und heute? Im Ukrainekrieg hat es die Schweiz mit einer wankelmütigen Politik fertiggebracht, dass die Hauptantagonisten in Moskau und Washington in dem einen Punkt übereinstimmen, die Schweiz hätte ihre Neutralität aufgegeben. Wenn ein solcher Eindruck aufkommen kann, dann ist einiges falsch gelaufen. Ist der Schweiz der Mut zum Anderssein abhandengekommen? Schauen wir die Sonderentwicklungen im Detail an.
Endnoten
¹Tony Judt: Magic Mountains. In: The New York Review of Books, May 27, 2010.
²Hermann Lübbe: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Basel und Stuttgart 1977, 35 ff.
Das Modell Schweiz – eine Alternative
Die Formulierung sitzt, wie bei fast allem, was er sagte. In seinem Essai sur les moeurs et sur l'esprit des nations konstatiert Voltaire mit Erstaunen, dass es den Eidgenossen gelungen sei, einen Platz in der Weltgeschichte zu ergattern. An sich sei die Schweiz nichts als ein armseliges Stück Land in unwirtlichen Bergen. Warum nehme man überhaupt von ihr Notiz? «Man erregt nur Aufmerksamkeit, wenn man selber etwas ist. Doch alles, was die Natur in drei Vierteln dieses Landes zu bieten hat, ist ein verhangener Himmel, unfruchtbare und steinige Böden, Berge und Abhänge. Dennoch streitet man sich mit gleichem Eifer um die Souveränität dieser Felsbrocken wie um das Königreich Neapel oder um Kleinasien.»³
Was also ist es, das die Schweiz anzubieten hat? Die Antwort des Chef-Aufklärers: Freiheit. So sah