Die Schweiz – vom Sonderfall zum Normalfall?: Ein Land in der Identitätskrise
Von NZZ Libro
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Die Schweiz – vom Sonderfall zum Normalfall? - NZZ Libro
Fridolin Stähli, Peter Gros, Karl Haltiner (Hrsg.)
Die Schweiz – vom Sonderfall zum Normalfall?
Ein Land in der Identitätskrise
Verlag Neue Zürcher Zeitung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2016 (ISBN 978-3-03810-202-1)
© 2016 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
Lektorat: Sigrid Weber, Freiburg
Titelgestaltung: TGG Hafen Senn Stieger, St. Gallen
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-03810-231-1
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Inhalt
Titelei
Vorwort
I Die Schweiz zwischen Globalisierung und Sonderfalldenken
Karl Haltiner, Peter Gros, Fridolin Stähli
Identität und Globalisierung
Kulturelle Homogenisierung und Modernisierung als Bedrohung
Der Nationalstaat als Auslaufmodell?
Wohlstandsgewinn versus Sicherheit
Und die Schweiz – ein Sonderfall?
Konjunkturen im Sonderfalldiskurs
Der Neo-Sonderfalldiskurs – die Schweiz in der sich globalisierenden Welt
Europa als Bedrohung?
Globalisierungszwänge
Schweizer Kerninstitutionen auf dem Prüfstand
Von der Eidgenossenschaft zur Drittelgenossenschaft
«Sonderfallphantasien»?
Identitätskrise – was nun?
II Eigenständige Politik unter befreundeten Staaten
Paul Widmer
Freundschaft zwischen Staaten
Machtpolitik und Diplomatie
Eigenständigkeit der Schweiz
Aussenpolitische Herausforderungen
Mut zum Sonderfall und zur Zusammenarbeit
III Mitten in Europa – Verflechtung und Abgrenzung als «condition d’être» des Kleinstaats Schweiz
André Holenstein
Verflechtung als Überlebensstrategie
Abgrenzung als Identitätsstiftung und Legitimationsstrategie
Schweizer Geschichte als Integrationsgeschichte
Schweizer Geschichte in transnationaler Perspektive
IV Mythos der Unabhängigkeit versus Offenheit als Stärke: das Dilemma der Schweiz
Katja Gentinetta
Der Mythos: die unabhängige Alpenrepublik
Reale Offenheit: die globalisierte Volkswirtschaft
Das Konzept der Souveränität
Souveränität in einer globalisierten Welt
Das Globalisierungstrilemma
Mögliche Auswege aus dem Dilemma
V Eine Willensnation muss wollen! Gedanken zum Erfolgsmodell Schweiz und seinen Anfechtungen
Kaspar Villiger
Die Erfahrungsformel – ein Versuch, komplexe Prozesse zu verstehen
Was ein erfolgreiches Land ausmacht
Bedingungen für Wohlstand
Die politische Kultur der Schweiz
Die direkte Demokratie
Der Föderalismus
Der solide Staat
Politische Kultur als Basis unseres Erfolgs
Die äussere Erosion unserer Stärken
Die innere Erosion unserer Stärken
Was nun?
Weltoffenheit und Anpassung
VI Die Schweiz im europäischen Abseits?
Günter Verheugen
Die EU ist nicht Europa
Das Verhältnis EU – Schweiz heute
Eine neue gesamteuropäische Perspektive
Die EU in der Sinnkrise
Das Subsidiaritätsprinzip ernst nehmen
Schweizer Optionen
VII Zwischen Sonderfall, Lachnummer und Aufmüpfigkeit: La Suisse existe. Ein paar philosophische Anmerkungen über ein gar nicht so leides Thema
Ursula Pia Jauch
Vorbemerkung einer Patriotin
Stefan Zweig an der Schweizer Grenze
Vom Kriegsschauplatz Europa zur Lachnummer Schweiz
Dürrenmatt: Hassliebe zur Schweiz
Die Schweiz ist kein Sonderfall des Witzes
Über sich selbst lachen
VIII Zur «intimen Tragik» der Schweiz
Adolf Muschg
Die Schweiz als tragischer Fall?
Wofür steht die Schweiz?
Die globalisierte Welt ist aus den Angeln
Engagement für das Gemeinwesen
Die Schweiz im Abendlicht einer europäischen Idylle
Und das gelobte Land der Aufklärung
Die bürgerliche Revolution 1848
Gottfried Kellers traurige Diagnose
Friedrich Schillers Tell als Versöhnung
Hegels List der Vernunft
Die Schweiz und die Juden
Gut genug für das Mögliche
Anmerkungen
Herausgeber und Autoren
Dank
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Vorwort
Die Schweiz befindet sich in einem beschleunigten Umbruch. Mit der Verdichtung der Aussenbeziehungen durch die Globalisierung und einem Europa, das trotz Krisen stetig näher und vereinnahmender zusammengerückt ist, sind dem Land neuartige Herausforderungen erwachsen für die direkte Demokratie, die traditionelle Neutralität, die Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung, den nationalen Zusammenhalt und den zu verfolgenden Kurs im internationalen Umfeld. Wie in anderen europäischen Staaten setzen nationalistische und neo-konservative Strömungen vermehrt auf Ab- und Ausgrenzung. Dass eigene Werte und Traditionen als Reaktion auf die verunsichernde Globalisierung und Migration eine allgemeine Renaissance erfahren, wird politisch erfolgreich inszeniert.
Steht die Schweiz vor einer Zerreissprobe? Wie tief ist die Verunsicherung in den verschiedenen Bevölkerungsschichten? Steckt unser Land in einer eigentlichen Identitätskrise? Bleibt die Schweiz mit ihren besonderen politischen Institutionen der oft beschworene «Sonderfall», oder ist sie auf dem Weg zum europäischen Normalfall?
Diese Fragen bildeten den Ausgangspunkt zum Podium Interface, einer öffentlichen Vorlesungsreihe an der Hochschule für Technik FHNW in Brugg-Windisch, das 2015 – im Jubiläums- und Mythenjahr der Schweiz – sein 20-jähriges Bestehen feierte. Sieben bekannte und prominente Persönlichkeiten haben ihre Überlegungen und Thesen zum Leitthema «Identität Schweiz – Sonderfall oder besonders» vorgetragen: Paul Widmer, André Holenstein, Katja Gentinetta, Kaspar Villiger, Günter Verheugen, Ursula Pia Jauch und Adolf Muschg.
Alle Beiträge sind aufgezeichnet und anschliessend transkribiert worden. Auf dieser Grundlage haben die Autoren eine zweite, leicht überarbeitete Version erstellt, die in diesen Band aufgenommen worden ist. Die Texte sind von den Herausgebern – wo nicht schon vorhanden – mit Zwischentiteln und am Schluss jeweils mit wenigen Literaturverweisen und Anmerkungen versehen worden. Trotz der schriftlichen Überarbeitung haben die Beiträge die Eigenschaften der mündlichen Rede beibehalten und wirken mitunter direkt, spontan und persönlich.
Den Vorträgen vorangestellt ist ein längerer Essay der Herausgeber, der im Kern zum einen die umstrittene «Sonderfall Schweiz»-Debatte thematisiert, zum anderen auf die verschiedenen Beiträge der Autoren verweist.
Im Wesentlichen verfolgt der Essayband zwei Ziele: Zum einen skizziert er die Genese und die Widersprüche verschiedener historischer und gegenwärtiger Schweizbilder; zum anderen versucht er, Perspektiven aufzuzeigen, wie die innenpolitische Polarisierung und Blockierung überwunden werden könnte.
Die Herausgeber
I Die Schweiz zwischen Globalisierung und Sonderfalldenken
Karl Haltiner, Peter Gros, Fridolin Stähli
Im Jubiläumsjahr 2015 gedachte die Schweiz der Schlachten bei Morgarten 1315 und 1515 in Marignano, des Wiener Kongresses von 1815, an dem sie von den europäischen Mächten ihre Neutralität garantiert bekam, und des vor 70 Jahren unversehrt überstandenen Zweiten Weltkriegs. Mehr als 700 Jahre umfasst die Spanne, in der sich die nationale Seele und der Stil des europäischen Kleinstaates Schweiz herausbildeten. Ihre wichtigsten Signaturen sind Alpenidylle und bäuerliche Freiheitslegenden, Abgeschlossenheit und naturnahe Selbstgenügsamkeit, gekammerte Kleinräumigkeit, Selbstbestimmung und landschaftliche Melancholie, regionales Sprachtum und kulturelle Eigenheiten, religiöser Streit, Befreiungskriege und ausgreifende Eroberungszüge, eigene und fremde Richtersprüche, transalpiner Handel und Verkehr, politische Händel und diplomatisches Geschick, frühe Volksmitsprache und Trotz gegenüber Mächtigen von oben und aussen, Nichteinmischung und defensive Abschottung, Selbstgewissheit und gefährdeter Zusammenhalt.
Viele glauben, darin einen europäischen Sonderfall zu erkennen. Wie viel davon ist «Sonderfallphantasie»,¹ wie Peter von Matt meint, wie viel hat einen realen Hintergrund? Was verbindet die Begriffe Sonderfall und Identität? Warum steht der Identitätsdiskurs derzeit nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit hoch im Kurs? Welche Wirkungen hat eine beschleunigte Globalisierung generell auf den Nationalstaat und seine Souveränität? Bildet die Schweiz eine Ausnahme? Welche Bedeutung kommt dem Sonderfalldiskurs hierzulande zu und worin unterscheidet sich der aktuelle von früheren? Und schliesslich: Gibt es Gründe anzunehmen, dass das schweizerische Selbstverständnis heute in einer Krise steckt? Wenn ja, was sind die Ursachen und was ist zu tun? Mit den Beiträgen der sieben Autorinnen und Autoren sowie einigen Vorüberlegungen zur Sonderfall- und Identitätsthematik versuchen wir, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Identität und Globalisierung
Die Politisierung des Wortes «Identität» hat in den Medien seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert Konjunktur. «Identitätskonstrukt», «Identitätskrise», «Identitätspolitik», «Identitätsgehabe», «Identitätsgeschwätz» sind Beispiele, die sich mühelos in der Wahlkämpfersprache der letzten zehn Jahre finden lassen.
Es ist kein Zufall, dass im politischen Diskurs der Begriff «Globalisierung» fast gleichzeitig mit jenem der «Identität» immer häufiger verwendet wird. Globalisierung bedeutet wachsende weltweite Vernetzung kommunikativer, ökonomischer, politischer, ökologischer und kultureller Handlungsfelder und Lebensbereiche. Wir werden immer grossräumiger miteinander vernetzt und voneinander abhängig. Dies mit doppelter Folge: Einerseits wirkt die Befreiung der Märkte aus lokalen, regionalen und nationalen Fesseln – beispielhaft sichtbar am europäischen Binnenmarkt – unzweifelhaft als Wohlstandsmotor. Das Weltsozialprodukt ist sowohl in der ersten neuzeitlichen Globalisierungswelle im 19. Jahrhundert als auch in der zweiten von 1945 bis heute fast explosionsartig gewachsen. Der Hunger wurde weltweit zurückgedrängt, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist gestiegen; die Kindersterblichkeit, die zwischenstaatlichen Kriege und die zwischenmenschliche Gewalt sind auf ein historisches Minimum gesunken, wiewohl uns die Schlagzeilen der Medien das Gegenteil suggerieren.² Dieser Trend gilt allgemein, auch wenn die durch diesen Prozess generierten Ungleichheiten zwischen den Menschen, den Gesellschaften und den Regionen nicht zu übersehen sind.
Anderseits lassen innovative Techniken der Kommunikation, dramatisch gesunkene Informationskosten und die schnelle, arbeitsteilig-ökonomische Verdichtung die frühere Distanz zu den anderen rasant schrumpfen: Raum und Zeit werden komprimiert. Wir rücken näher zusammen. Die mediale Integration der Welt über das Internet und die sozialen Medien in ein informationelles globales Netzwerk hat sich in den letzten Jahren fast revolutionär vollzogen. Durch wachsende Nähe, sei sie räumlich, medial oder migratorisch, werden die Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen unmittelbarer sichtbar als früher. Kulturelle Verschmelzungsprozesse sind historisch zwar nichts Neuartiges, sie lassen sich über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg nachweisen. Neu an ihnen ist das Tempo, mit dem sich die Diffusions- und Homogenisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im neuen Millennium mithilfe der modernen Informationstechnologien ausbreiten.
Hier wurzelt die gesteigerte Bedeutung des Identitätsbegriffs, ja seine Transformation in einen Kampfbegriff.³ Denn in dem Masse, in dem wir mit dem Fremden und Andersartigen konfrontiert werden, wird das eigene Selbstverständliche und Unhinterfragte, nämlich das, was man bislang als das begriff, was das eigene Selbst ausmachte, was einem wert und Heimat war, hinterfragbar, «fragwürdig» im Sinne des Wortes. Unser kollektives Selbstbild leitet sich aus der Unterscheidung vom anderen bzw. von den anderen ab. Die Werte und Institutionen, die unsere Identität konstituieren, kontrastieren mit denjenigen der anderen. Jeder Identitätsfall bildet somit definitorisch einen Sonderfall.
Ein Bild, das vor einigen Jahren durch die Weltmedien geisterte, bringt diesen Sachverhalt eindrücklich auf den Punkt: Ein mit einem Bogen bewaffneter Krieger der australischen Aborigines steht mit aufgerissenen Augen vor einem TV-Gerät, auf dem ein Bild einer weissen Frau flimmert, die ihre blonden Haare föhnt. Das Foto gibt einen Eindruck vom Kulturschock, der entstehen kann, wenn unser «Ich» sich einer unerwarteten Andersartigkeit gegenüber sieht. In der Haltung des Aborigine-Mannes manifestieren sich Abwehr und Widerstand. Das Motiv, sich das Eigene nicht einfach so nehmen zu lassen, sich zu behaupten, auf dem Fundament der eigenen Kultur zu beharren, leuchtet reflexartig auf. Statt des Aborigine-Kriegers könnte auch ein anderes Bild erwähnt werden, das in den Schweizer Medien die Runde machte: Ein blonder, etwa zehnjähriger Knabe in einem roten T-Shirt mit weissem Brustkreuz streckte anlässlich des Eidgenössischen Schwingfestes 2013 einem ausländischen Fotografen mit trotzigem Grinsen den Stinkefinger entgegen.
Die Erkenntnis, dass Toleranz gegenüber anderen eine Voraussetzung dafür ist, dass die anderen die eigene Eigenartigkeit tolerieren, dürfte erst als zweiter Gedanke auftauchen. Und dass die in der Erkenntnis des Andersseins steckende kulturelle Offerte womöglich etwas darstellt, das es wert ist, geprüft zu werden, setzt bereits den Individualisten der postmodernen westlichen Gesellschaften voraus, der sich seinen Lebensstil, sprich seine Identität und die Elemente dafür, auch aus einer anderen Kultur eklektisch zusammenstellt.
Kulturelle Homogenisierung und Modernisierung als Bedrohung
Identitäten konstituieren sich über Werte. Werte bilden das ab, was einem Individuum bzw. einem Kollektiv wichtig ist. Zwischen unserer Identität und dem Wert Sicherheit besteht ein enger Zusammenhang. Erst die Wahrnehmung einer Gefährdung dessen, was uns lieb und teuer ist, lässt uns gewahr werden, wer wir sind und was uns wie viel wert ist. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob die Bedrohung real oder nur imaginiert ist. Es gilt das Thomas-Theorem:⁴ Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich. In den genannten Bildern des australischen Eingeborenen wie des Schweizer Knaben manifestiert sich die Janusköpfigkeit des weltweiten Modernisierungsprozesses. Während die Handelsschranken zwischen den Nationen fallen und die Welt arbeitsteilig zu einem einzigen Werkplatz zusammenwächst, in dem es immer schwieriger wird, die Heimat eines Produkts auszumachen, verbreiten sich rund um den Erdball westlich geprägte Lebensweisen und Massenprodukte und bedrohen in der Wahrnehmung der betroffenen Menschen und Gesellschaften eigene kulturelle Gewohnheiten und Traditionen. Das Englische wird – auch in der nichtenglischen multikulturellen Schweiz – zur Zweit- und Weltsprache. Die global anschwellenden Migrationsströme, die vorab von den armen Peripherien in die reichen Zentren verlaufen und die Multikulturalisierung der Gesellschaften dieser Welt vorantreiben, bewirken, dass die zwischengesellschaftlichen Unterschiede abflachen, während die innergesellschaftlichen Unterschiede in Teilen der Welt derzeit fast sprunghaft wachsen. Die ethnische Vielfarbigkeit der europäischen Fussballmannschaften, auch der Nationalmannschaften, dokumentiert diese Tendenz eindrücklich. Der Globalisierungsdynamik wohnt offensichtlich eine erhebliche individuelle und kollektive Verunsicherung inne.
Der Nationalstaat als Auslaufmodell?
Die Welt ist staatlich geordnet. Der territorial definierte Nationalstaat hat im Europa des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug angetreten und ist zum Ordnungsprinzip schlechthin avanciert. Dies, obwohl rund ein Drittel der 200 Staaten dieser Welt als fragil oder «failed» zu gelten hat. Von der Geburt bis zum Tod ist der Staat in unseren Breitengraden die determinierende Institution. Dass der einzelne Nationalstaat für die Lösung der grenzüberschreitenden Weltprobleme – sei es die Klimaveränderung, die Migration, kriegerische Konflikte, neuartige Epidemien, Armutsbekämpfung, Terrorismusbekämpfung u. ä. – zunehmend zu klein ist, für die sogenannten grossen Sorgen der kleinen Leute jedoch häufig zu gross, ist eine Banalität. Ob im Zuge der Globalisierung der Nationalstaat obsolet wird oder nicht, ob er sich verändert, und wenn ja, wie, darüber wird in den Sozial- und Politikwissenschaften viel gerätselt und debattiert. Prägend ist das Wort von Jürgen Habermas,⁵ wonach sich die nationale Konstellation zunehmend in eine postnationale wandeln wird. Die für den Bedarf der Weltsteuerung zwangsläufig stetig enger werdende zwischenstaatliche Kooperation wird das transnationale Element auf Kosten des nationalen verstärken und die Macht des Einzelstaats schwächen. Zumindest drei Funktionen bzw. Aspekte des Nationalstaates sind dabei betroffen:
Erstens: die klassische staatliche Souveränität, wonach kein anderer Staat einem anderen dreinredet und ein Staat keine höhere Herrschaftsinstanz über sich duldet (vgl. dazu Paul Widmer und Katja Gentinetta in diesem Band). Diese Souveränität scheint sich insofern aufzuweichen und «auszufasern», als unter dem Druck internationaler Probleme überstaatliche anstelle von staatlichen Lösungen auch im Eigeninteresse des jeweiligen Staates unausweichlich werden. Der Staat wird «vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager»;⁶ die frühere Unabhängigkeit vermindert sich durch im eigenen Interesse hingenommene Abhängigkeiten. Vereinte der klassische Staat noch alle Merkmale von Staatlichkeit innerhalb seiner Grenzen, nämlich 1. die Macht, souverän kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen, 2. die dafür notwendige Durchsetzungskompetenz und 3. die politisch zu legitimierende Letztverantwortung dafür, so verlagert sich das erste Staatlichkeitsmerkmal zunehmend auf eine suprastaatliche und zum Teil private Ebene. Sie ist, wie Katja Gentinetta in ihrem Beitrag ausführt, heute Verhandlungsmasse: «Wie