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Die Banken und ihre Schweiz: Perspektiven einer Krise
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eBook339 Seiten4 Stunden

Die Banken und ihre Schweiz: Perspektiven einer Krise

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Über dieses E-Book

Erfolg und Bedeutung ihres Finanzplatzes gehören zur Identität der Schweiz. In den letzten Jahrzehnten konnten die (Gross-)Banken die öffentliche Meinung immer stärker beeinflussen und die offizielle Schweiz für ihre gigantischen Expansionspläne gewinnen. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten haben die Schweiz auf dem falschen Fuss erwischt. Die Krise macht uns zu dem, was wir eigentlich sind: ein kleines Land inmitten Europas, das existenziell vom internationalen Umfeld abhängig ist. Der nationale Mythos unserer politischen Unabhängigkeit wird demontiert.
Der Autor zeigt die Entwicklung des Finanzplatzes als Teil unserer jüngsten Geschichte auf - er kombiniert ökonomische und sozialwirtschaftliche Fragen, um die Finanzmarktkrise in grössere Zusammenhänge einzuordnen. Peter Hablützel plädiert dafür, die Chancen der Krise zu erkennen, das Bild der Schweiz ernsthaft zu überprüfen und neue Schritte in die Zukunft zu wagen. Unser Land darf kein politischer Sonderling werden. Es muss aus der selbst konstruierten Falle des Sonderfalls ausbrechen!
SpracheDeutsch
HerausgeberOesch Verlag
Erscheinungsdatum26. Juni 2012
ISBN9783035040104
Die Banken und ihre Schweiz: Perspektiven einer Krise

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    Buchvorschau

    Die Banken und ihre Schweiz - Peter Hablützel

    Einleitung:

    Ausgangspunkt und Absicht der Studie

    Mit einer heftigen Implosion der Finanzwirtschaft ist im Herbst 2008 der wichtigste Leitsektor der modernen Dienst leistungsgesellschaft dramatisch eingebrochen. Die Erschütterung trifft die Weltwirtschaft als Ganze und nicht nur sie. Auch die Denk- und Verhaltensmuster einer an Geldwert und Gewinn orientierten Kultur sind von dieser Finanzkrise tangiert. Fast alles in unserem sozialen Leben hat sich in den letzten Jahren zunehmend um Finanzen gedreht. In Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – auf Märkten, in Organisationen, am Arbeitsplatz, ja, bis in die persönlichen Beziehungen hinein – haben wir eine Monetarisierung beinahe aller Werte erlebt. Geld ist – wie vom Soziologen Georg Simmel vor hundert Jahren vorausgeahnt – zum allumfassenden Wertmassstab und in Form von «Vermögen», von Kapital, zugleich zum wichtigsten Wert an sich geworden. Der finanzielle Gewinn als mächtigster Treiber steuert nicht nur die globalisierte Finanzwirtschaft, sondern fast jede Entwicklung in unserer Welt. Umso mehr herrscht heute überall grosse Unsicherheit, welche Bedeutung wir der Finanzmarktkrise zumessen sollen und woran wir uns in Zukunft orientieren können.

    Finanzmarktkrise: eine Systemkrise?

    Bedeutung und Erfolg des Finanzplatzes Schweiz bilden ein zentrales Element im Selbstverständnis sowie im politischen Denken und Handeln unseres Landes. Ein florierender Finanzplatz ist gewissermassen die wirtschaftliche Inkarnation unserer Identität als nationaler Sonderfall. Nun erleben wir gleichsam als eine Ironie der Zeitgeschichte, dass uns ausgerechnet eine Krise der Finanzmärkte zu dem macht, was wir eigentlich sind: ein kleines Land inmitten Europas, das mit seiner offenen Volkswirtschaft vom Umfeld besonders abhängig ist. Ein kleines Land, das grosse Mühe hat, mit den politischen und kulturellen Folgen der Globalisierung umzugehen, die es mit seiner erfolgreichen Export- und Finanzwirtschaft doch selber wesentlich vorangetrieben hat. Ein kleines Land auch, das mit den spezifischen Problemen und Risiken seines überdimensionierten, hochkonzentrierten und mit dem Ausland eng verflochtenen Bankensystems nur schwer zu Rande kommt.

    Die Finanzmarktkrise ist für die Schweiz eine besonders heikle Erfahrung, denn sie demontiert den nationalen Mythos unserer politischen Unabhängigkeit. Sie führt uns drastisch vor Augen, wie existenziell wir vom internationalen Umfeld abhängig sind. Schmerzhaft wird uns bewusst: Auf globalisierten Märkten bieten Landesgrenzen vor Systemkrisen keinen Schutz mehr. Die Katastrophe an der Wall Street hat auch den Finanzplatz Schweiz in eine tiefe Krise gerissen. Vieles ist bedroht, was wir bisher für selbstverständlich hielten. Die Krise, die mehr und mehr auch auf die Realwirtschaft übergreift, droht ökonomische und politische Gewissheiten aufzuzehren. Es brechen bange Fragen auf, nicht nur zum Finanzplatz Schweiz, sondern auch zur Zukunft von Volkswirtschaft, Beschäftigung und sozialer Sicherheit in unserem Lande sowie zur Einbettung der Schweiz in eine global vernetzte und immer stärker politisierte Welt. Die Finanzmarktkrise hat uns unsanft aus einer Art nationaler Selbstüberschätzung gerissen und in eine Welt katapultiert, deren grundlegende Veränderungen wir in den letzten Jahrzehnten partiell nicht mehr wahrnehmen wollten. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten und ihre Auswirkungen auf Politik und Gesellschaft haben uns gleichsam auf dem linken Fuss erwischt und die Schweiz in eine der schwierigsten Orientierungskrisen ihrer Geschichte geführt. Wir müssen uns heute mit Problemen befassen und nach Antworten suchen, wo wir bis vor kurzem nicht einmal ernsthaft Fragen stellten.

    Die Finanzmarktkrise demontiert nicht nur unsere Unabhängigkeitsfantasien. Sie demaskiert auch unser politisches System. Sie demonstriert, wie willfährig sich die Behörden gegenüber wirtschaftlichen Grossinteressen verhalten. In der jüngsten Vergangenheit haben nicht nur höchste Repräsentanten der Schweiz mehrfach ihr Gesicht verloren. Auch das System als Ganzes büsste an Glaubwürdigkeit ein. Man könnte etwas pointiert formulieren, die Krise habe der Schweiz die liberale Maske vom Gesicht gerissen. Es ist zwar nicht gerade so, dass darunter die Fratze einer Bananenrepublik zum Vorschein kommt – aber immerhin Tatsachen, die ein gerne idealisiertes Selbstbild erschüttern können. Zwei Ereignisse werden diesbezüglich noch lange im Gedächtnis haften bleiben: Im Oktober 2008 mussten Bund und Nationalbank mit einer massiven Finanzspritze der grössten Bank zu Hilfe eilen, die sich mit einer verfehlten Geschäftspolitik an den Rand des Abgrunds manövriert hatte. Und im Februar 2009 verletzten die Behörden schweizerisches Recht, um dieses Flaggschiff des Finanzplatzes aus den Fängen der US-Justiz zu befreien, in die es aufgrund mutwilliger Verstösse gegen amerikanische Gesetze geraten war. Diese beiden Ereignisse sind von symbolischer Bedeutung und werfen die kritische Frage auf, welchen Stellenwert liberale Ordnungspolitik und Rechtssicherheit in unserem Lande noch haben, wenn handfeste Geschäftsinteressen einer privaten Grossbank auf dem Spiele stehen.

    Opportunismus in der Politik ist gewiss nichts Neues. Gerade in der kleinen Schweiz mit den vielfach verbandelten Interessen und einem starken Milizsystem hat die föderalistisch und direktdemokratisch ausgebremste Politik schon immer Mühe bekundet, mächtige Akteure der Wirtschaft an strenge Re geln zu binden. Aber dass bei uns – in Abwandlung eines Zitats von Clausewitz – Politik die Fortsetzung des privaten Geschäfts mit andern Mitteln sein könnte, hätte man in dieser Deutlichkeit vorher doch kaum zu behaupten gewagt. Der doppelte Sündenfall vom Oktober 2008 und vom Februar 2009 ist eine radikale Herausforderung an die schweizerische Politik, die auch ernst genommen werden muss, falls die direkten Folgen der Krise nicht so dramatisch ausfallen wie ursprünglich befürchtet. Wer ohne strukturelle Änderungen am (Finanz-)System zum Courant normal zu rückkehren will, macht Politik in diesem Land vollends unglaubwürdig und nimmt bewusst in Kauf, dass wir schon bald wieder vor ähnlichen oder noch schlimmeren Problemen stehen.

    Die Diskussionen um die Finanzmarktkrise und um die Frage, wie Wirtschaft und Politik der Schweiz darauf reagieren sollten, erinnern mich an die Studien vor mehr als dreissig Jahren im Zusammenhang mit meiner Dissertation, in der ich verschiedene Formen von politischem Krisenbewusstsein und die je damit korrespondierenden historischen Perspektiven untersuchte (Hablützel 1980). Die damals propagierte Unterscheidung in der Perzeption von Krisen lässt sich auch heute nutzbringend verwenden: Wer das bestehende System bewahren will, interpretiert Turbulenzen gerne als zufällige Ereigniskrise und möchte mit möglichst geringen Änderungen im System den Status quo rasch wiederherstellen. Wer nicht nur zufällige, sondern im System angelegte technische Fehler als Ursachen einer Strukturkrise ortet, versucht mit Änderungen am System eine Wiederholung der Krise zu verhindern. Wer indes unsere kulturelle Einbindung in tradierte Handlungsabläufe erkennt und sieht, dass wir an Strukturen anknüpfen und diese mit unserem Denken und Handeln immer wieder (re-)produzieren, wird Turbulenzen als Ausdruck einer Systemkrise verstehen und sie als Chance nutzen wollen, um mit einer bewussten Änderung des Systems neue Entwicklungsmöglichkeiten zu erschliessen.

    Problemstellung und Zielsetzung dieser Studie

    Damit sind wir mitten in der zentralen Problemstellung der vorliegenden Studie: Was machen wir aus der Krise, in die wir geraten sind? Wenn wir sie kleinreden, könnten wir die riesige Chance verpassen, unsere vertrauten Bilder der Wirklichkeit den erlebten Realitäten wieder anzunähern und damit an Zukunftsfähigkeit zu gewinnen. Das gilt sowohl bezüglich Weltwirtschaft und Finanzindustrie wie auch in Bezug auf das politische System der Schweiz.

    Sind Krisen immer auch Chancen? Wohl nur, wenn wir die Möglichkeiten erkennen, die sie uns bieten. Krisen verunsichern zwar, weil manche Gewissheiten schwinden. Unsere Konstruktionen der Wirklichkeit verlieren an Überzeugungskraft. Dafür tun sich jedoch neue Sichtweisen auf. Krisen helfen, Denkmuster aufzubrechen und Handlungsroutinen zu hinterfragen. Sie bringen Diskurse über unsere Herkunft und unsere Zukunft in Gang. Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte geraten so in Bewegung. Die kommunikative Aufweichung von individueller und gesellschaftlicher Erinnerung macht Gegenwart mehrdeutig. Damit gewinnt der historische Prozess gewissermassen einen höheren Freiheitsgrad und öffnet uns neue Möglichkeiten derpolitischen Gestaltung. Wer Krisen so zu nutzen weiss, stärkt Lernvermögen und Zukunftsfähigkeit.

    Was kann die jüngste Finanzmarktkrise bewegen? Welche Gewissheiten, welche Wirklichkeitskonstruktionen brechen auf? Und bietet diese Krise Chancen? Auch für die Schweiz, die vom Schicksal der Finanzwirtschaft besonders betroffen scheint? Welche neuen Perspektiven eröffnet diese Krise auf Vergangenheit und Zukunft unseres Landes? Sind wir bereit, die traditionelle Sicht der historischen Entwicklung kritisch zu hinterfragen? Sind wir fähig, unser politisches Handeln zu überdenken? Und sind wir denn auch willens, die daraus entstehenden Chancen zu nutzen? Diesen Fragen will ich in der vorliegenden Studie nachgehen, weil sie für unser Land und seinen Finanzplatz von existenzieller Bedeutung sind.

    Man könnte nun vorschnell meinen, für die Beantwortung solcher Fragen sei in erster Linie die Ökonomie zuständig. Und in der Tat gibt es inzwischen Beiträge aus dieser Wissenschaft, die den Ausbruch der Finanzmarktkrise einleuchtend erklären und ihren Verlauf auch trefflich beschreiben. Die Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Ökonomen heute die Krise als eine völlig normale Erscheinung darstellen, lässt uns staunend mit der Frage zurück, weshalb sie denn diese Krise nicht früher kommen sahen und entsprechend davor gewarnt haben. Ich bin im Lauf meiner Recherchen immer mehr zur Überzeugung gelangt, dass wir die eigentliche Bedeutung der Krise erst erkennen können, wenn wir sie in ihrer historischen Dimension zu verstehen versuchen. Wer die Implosion der Finanzwirtschaft begreifen will, muss den Prozess ihrer Aufblähung untersuchen. Ihr Aufstieg zur wirtschaftlichen Vormacht und zur politischen und kulturellen Hegemonie ist das Aussergewöhnliche, das die letzten Jahrzehnte geprägt hat. Doch wer sich für die Veränderung unserer Wirtschaft hin zu einer immer mehr durch die Finanzen getriebenen Entwicklung interessiert, wird durch die gängige Ökonomie kaum hilfreich unterstützt. Die neoklassischen Theorien des Mainstreams mit ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit bauen ihre Modelle auf anthropologischen Konstanten auf (wie dem immer rational entscheidenden Homo oeconomicus). Sie halten Geld für ein neutrales Zahlungsmittel ohne spezifischen Eigenwert, dessen Geschichte man ruhig vernachlässigen kann, und interessieren sich kaum für den Wandel von Auffassungen und Werthaltungen. Und schliesslich pressen sie ihre Erkenntnisse in mathematische Formeln, die der Veränderung von historischen Kontexten viel zu wenig Beachtung schenken. Aber gerade darin liegt das Problem: Geschichte ist der blinde Fleck der modernen Ökonomie. Historische Entwicklungen spielen sich, wenn überhaupt, in den kaum diskutierten Randbedingungen ab, um die sich andere Wissenschaften kümmern müssen.

    Eigenartig: Die Wirtschaft ist das gesellschaftliche Subsystem mit der radikalsten Veränderungsdynamik und mit dem grössten Beeinflussungspotenzial auf alle andern Subsysteme. Aber sie wird durch eine Wissenschaft «professionell» beobachtet und beschrieben, die aufgrund ihrer Gleich gewichtsmodelle von Systemumwelten und Systementwicklungen wenig wissen will und damit Gefahr läuft auszublenden, dass der ökonomische Wandel auch seine gesellschaftlichen Grundlagen und damit den Rahmen, die Qualität und die Bedeutung jeglichen Wandels, also auch sich selbst, verändert. Diese fatale Verdrängung der Historizität aus der ökonomischen Reflexion macht die Wirtschaftswissenschaft oft unsensibel für das Problem der Reichweite ihrer Theorien und verführt sie zum Opportunismus im Sinne einer Legitimation dessen, was sich historisch durchgesetzt hat.

    Falls wir die Finanzmarktkrise mit ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Implikationen wirklich verstehen und ihre Bedeutung für unsere Zukunft ergründen wollen, kommen wir um eine kritische Aufarbeitung ihrer historischen Dimensionen nicht herum. Wir sollten dabei vor allem den furiosen Aufstieg der Finanzindustrie in den letzten Jahrzehnten zu erklären versuchen. Das gilt namentlich auch für unseren «Sonderfall» Schweiz mit seiner überdimensionierten, hochkonzentrierten und stark auslandabhängigen Finanzwirtschaft. Wenn wir die Krise als Chance für eine kritische Aufarbeitung unserer nationalen Entwicklung und ihrer Einbettung in übergreifende Kontexte wahrnehmen, kann auch der «Sonderfall» Schweiz in einem neuen Licht erscheinen. Es hängt von unseren kritischen Fragen und konstruktiven Antworten ab, ob es uns heute gelingt, die Krise für die Neugestaltung der Zukunft zu nutzen, und ob wir morgen dann sehen können, dass die Finanzmarktkrise als Wendepunkt in unserer Zeitgeschichte verstanden werden darf.

    Grundlagen und Quellen

    Was wissen wir über die Zeitgeschichte der Schweiz und über die Vorgeschichte der Finanzmarktkrise? Welcher Stellenwert kam der Finanzwirtschaft in der Geschichte unseres Landes vor allem in den letzten Jahrzehnten zu? Worauf kann ich mich stützen, wenn ich die Entwicklung des Finanzplatzes und der Finanzmarktpolitik analysieren und als Teil unserer jüngsten Geschichte interpretieren will?

    Auf Zeitgenossenschaft ist nicht immer Verlass, aber ich will trotzdem nicht leugnen, dass mein Bild in vielem durch eigene Beobachtungen und persönliche Erinnerungen geprägt worden ist. Das beginnt mit meiner Kindheit in der frühen Nachkriegszeit und in einer Familie, in der das freiwirtschaftliche Gedankengut einen hohen Stellenwert genoss. Auch während Studium und Beruf bewegte ich mich meist in politisch sehr interessierten Milieus; da konnte die 68er-Zeit nicht spurlos an einem vorbeigehen. 1980 bis 2005 war ich mit Ausnahme von fünf Jahren im Eidgenössischen Finanzdepartement beschäftigt und direkt dem Finanzminister unterstellt; ich erlebte vier Bundesräte aus nächster Nähe. An der Schnittstelle von Politik und Verwaltung kriegt man vieles mit, was die systemische Betrachtungsweise fördert; so war es für mich immer klar, dass am Schicksal der Finanzwirtschaft gerade auch die Behörden massgeblich beteiligt sind. Seit 2007 bin ich im Auftrag der Sunflower Foundation für deren MoneyForum tätig und habe manche Kontakte zu Praktikern und Theoretikern der Finanzwirtschaft knüpfen können, was mein Interesse für diese Branche wecken, mein Verständnis für ihre Prozesse und Gepflogenheiten fördern und damit meinen Horizont einschlägig erweitern half.

    Das Problem von Nähe und Distanz taucht in der Zeitgeschichte immer wieder auf. Es wird deutlicher, wenn man die eigenen Zugänge zum Thema mit den Arbeiten anderer vergleichen kann. Zur Finanzplatzentwicklung und zu einzelnen Banken und Problemen ist in den letzten Jahren viel Wissenschaftliches, Autobiografisches und Journalistisches publiziert worden. Wissenswertes kann man auf den Websites des Swiss Banking Institute und der Universität St. Gallen finden. Die Entwicklungen vor und in der Krise, namentlich was die UBS oder das Bankgeheimnis betrifft, sind in Darstellungen aufgearbeitet worden, die sich spannend wie Kriminalromane lesen, aber dennoch einen seriös recherchierten Eindruck machen (Baumann/Rutsch 2008, Zaki 2008, Hässig 2009, Parma/Vontobel 2009). Kritisches kann man heute auch in den Medien lesen, zum Beispiel die Kolumnen von Binswanger, de Weck, Strahm und Schöchlin, natürlich in der WoZ oder bei kontrapunkt (Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik). Auch unter Volks- und Betriebswirten melden sich scharfe Kritiker der Finanzwirtschaft zu Wort, so etwa neuerdings selbst Wittmann 2009; einige haben die Krise vorausgeahnt (Bernet 2005) oder schon seit langem vor ihr gewarnt (vgl. Malik 2008).

    Die Sicht der wichtigsten Akteure vermitteln die Websites SwissBanking der SBVg (Schweizerischen Bankiervereinigung), der Finanzmarktaufsicht FINMA (bis 2008 Eidg. Bankenkommission EBK), des Eidg. Finanzdepartements EFD respektive der Eidg. Finanzverwaltung EFV. Hilfreich ist die Schweizerische Nationalbank, namentlich mit ihren Jahresund Stabilitätsberichten; ihre grosse Festschrift «Die Schweizerische Nationalbank 1907–2007» (SNB 2007) ist ein Meisterwerk und eine wahre Fundgrube für den Wirtschaftshistoriker. Hier zeigen sich Ansätze einer selbstreflexiven und systemischen Sichtweise, die man auch allen andern Akteuren gerne wünschen würde.

    Sehr verpflichtet fühle ich mich dem analytischen Zugriff von Paul Krugman; des Nobelpreisträgers (von 2008) souveräne Darstellung von Finanzindustrie und Weltwirtschaftsentwicklung der letzten 20 Jahre trägt viel zu einem historischen Verständnis der Finanzmarktkrise bei (Krugman 2009). Ebenso erhellend war für mich die kritische Analyse «Kasino-Kapitalismus» aus der Feder des Präsidenten, Hans-Werner Sinn, des Weltverbands der Finanzwissenschaftler (Sinn 2009). Krugman und Sinn weichen nicht grundsätzlich von den Erkenntnissen internationaler Organisationen ab, die das Geschehen auf den Finanzmärkten professionell beobachten (z. B. International Monetary Fund IMF, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich BIZ), aber sie schürfen mit ihren Analysen tiefer und kommen deshalb für die künftige Finanzmarktpolitik auch zu radikaleren Forderungen. Die Wirtschaftssoziologie bringt die Finanzmarktkrise in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung; ihr Modell des «Finanzmarkt-Kapitalismus» (Windolf 2005, Deutschmann 2008) basiert auf den Erkenntnissen der Politischen Ökonomie (Huffschmid 2002) und kann aus meiner Sicht die schwierigen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte besonders gut erklären.

    Was unsere jüngere Zeitgeschichte betrifft, so gibt es zwar eine Menge schöner Monografien, vor allem auch zur Aufarbeitung der Schweizer Geschichte im Zweiten Weltkrieg wie etwa den bekannten Bergier-Bericht (UEK 2002) oder den spannenden Sammelband «Gedächtnis, Geld und Gesetz» (Tanner/Weigel 2002), aber auch die brillante Studie «Verweigerte Erinnerung», die unter anderem die Debatte seit den 1990er Jahren über die anonymen Bankkonten in der Schweiz im Detail schildert (Maissen 2005). Doch an eine integrierte Darstellung der Schweizer Zeitgeschichte seit 1945 hat sich – mit Ausnahme vielleicht von Dejung (2008) – seit unserer 2. Auflage (Gilg/Hablützel 1986), also seit nunmehr 23 Jahren (!), meines Wissens niemand mehr gewagt. Auch aus heutiger Perspektive halte ich unsere damalige Interpretation der Nachkriegsjahrzehnte noch immer für vertretbar, bin aber selber sehr erstaunt, wie stark sich Probleme, Lebensgefühl und Sichtweisen seit Mitte der 80er Jahre verändert haben. Wer sich über neuere Interpretationsansätze zur gesellschaftlichen Entwicklung der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten schlau machen will, muss zu den Soziologen, Politologen und Ökonomen hinüberschielen, soweit sich diese trotz akademischer Spezialisierungs- und Quantifizierungszwänge überhaupt noch zu qualitativen oder gar historischen Aussagen von Belang verleiten lassen (etwa Eberle/Imhof 2000 oder Imhof/Eberle 2005 und Scholtz/Nollert 2007).

    Um im Meer von Fakten und Meinungen nicht zu ertrinken und den Überblick über das Geschehen einigermassen zu wahren, hilft die «Année politique suisse / Schweizerische Politik im Jahre …», eine professionell gemachte Chronik des öffentlichen Lebens, die vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern herausgegeben wird. An diesem seit 1966 erscheinenden Jahrbuch habe ich in jungen Jahren selbst mitgewirkt. Für das Jahr 1977 verfasste ich damals das Kapitel «Geld, Währung und Kredit»; gegen meine Darstellung der Chiasso-Affäre drohte die Schweizerische Kreditanstalt mit einer Klage, musste dieses Vorhaben aber bald wieder fallen lassen, da weitere Fakten ans Tageslicht kamen, die meine kritische Interpretation bestätigten.

    Inhalt, Aufbau und Absicht

    Wie ist diese Studie gegliedert? Wie gehe ich vor? Was ist das Erkenntnisinteresse und welche forschungsstrategischen und politischen Absichten verfolge ich?

    Wir gehen von der Frage aus, welche Bedeutung der Finanzmarktkrise zukommt und ob die Krise einen Wendepunkt in der historischen Entwicklung darstellt (Kapitel 1). Die Überlegungen dazu dienen gleichzeitig auch als Einführung in Theorie und Methodik der Zeitgeschichte und zur Darstellung des Finanzmarkt-Kapitalismus als eines idealtypischen Erklärungsmodells für die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.

    Auf dieser Grundlage sollen dann der steile Aufstieg des Finanzplatzes Schweiz zu nationaler Dominanz (Kapitel 2) und seine seit Mitte der 1990er Jahre zunehmend problematische Transformation im Zeichen der Globalisierung (Kapitel 3) geschildert werden, denn die gegenwärtige Krisensituation ist ohne ihre Entstehungsgeschichte kaum verständlich.

    Die Analyse der Finanzmarktkrise (Kapitel 4) setzt bei der Frage an, wie sich aus Spekulationsblasen schliesslich eine weltweite Systemkrise entwickeln konnte. Aufgrund von Bedeutung, Konzentration und Auslandverflechtung ihres Finanzplatzes ist die Schweiz von dieser Krise besonders betroffen. Weil die Behörden das nicht offen zugeben wollen, greift ihre Krisenpolitik zu kurz. Auch die Hoffnung, angesichts einer veränderten internationalen Konstellation die überkommenen Standortvorteile im nationalen Alleingang ans Trockene zu bringen, erweist sich Schritt für Schritt als Illusion. Die Schweiz ist mit ihren früher erfolgreichen Denk- und Verhaltensmustern an wirtschaftliche und politische Grenzen gestossen. An der Aussenfront, vor allem bei der sturen Verteidigung von Bankgeheimnis und Steuerhinterziehung, erlebt die Finanzmarktpolitik der Schweiz ihr «Beresina».

    Weil die Finanzmarktkrise einen zentralen Leitsektor der westlichen Gesellschaft betrifft, muss die Analyse thematisch noch etwas breiter und tiefer ausgreifen. Ich werde versuchen, die geschilderte Entwicklung der Finanzwirtschaft im Kontext ausgewählter gesellschaftspolitischer und sozialwissenschaftlicher Diskurse der letzten Jahrzehnte zu interpretieren (Kapitel 5). Das kann natürlich nur mit einer engen Auswahl von möglichen Perspektiven geschehen; Fragen zur Nachhaltigkeit des Wirtschaftswachstums, zum Verhältnis von Markt und Staat sowie zur kulturellen Einbindung des Einzelnen in die Gesellschaft stehen dabei im Fokus des Interesses.

    Gerade in der Finanzmarktkrise zeigen sich Besonderheiten unseres Landes, und es stellt sich die Frage, ob die Schweiz den Sonderfall ihrer historischen Entwicklung auch in Zukunft pflegen und so endgültig zum politischen Sonderling mutieren will (Kapitel 6). Bei solchen Fragen geht es immer auch um das Problem der Kontingenz, also um Veränderbarkeit und Freiheit respektive um Pfadabhängigkeit und Schicksal der historischen Entwicklung. Erst im Zusammenhang dieser Überlegungen wird eine historische Ortsbestimmung der Gegenwart möglich, die sinnvolles und selbstverantwortliches, auf Zukunftsfähigkeit gerichtetes politisches Handeln erlaubt. In sieben Thesen fasse ich zusammen, was sich nach meiner Einschätzung aus der Finanzmarktkrise für die Schweiz als politisches Fazit ergibt (Kapitel 7).

    Ich will nicht verhehlen, dass diese Studie aus einer tiefen Sorge um die Zukunft der Schweiz geschrieben worden ist. Unsere Zukunftsfähigkeit hängt davon ab, welche Schlüsse wir aus bisherigen Entwicklungen und Erfahrungen für unser künftiges Verhalten ziehen – vor allem auch davon, ob es uns gelingen wird, aus der selbst konstruierten Falle des Sonderfalldenkens auszubrechen. Die Schweiz kann allein nicht prosperieren; sie ist wirtschaftlich und politisch auf internationale Kooperation angewiesen. Erst die Einsicht in diese Notwendigkeit lässt uns die Freiheit politischer Gestaltung richtig nutzen. Die Finanzmarktkrise holt uns auf den Boden der Realität zurück. Sie bietet einmalige Chancen für eine politische Neuorientierung. Wir sollten sie deshalb zum Anlass nehmen, um unser Bild der Schweiz ernsthaft zu überprüfen.

    Was mich beim Niederschreiben der Gedanken zunehmend ärgert und erschreckt, sind Indizien, dass manche Meinungsmacher und Entscheidungsträger diese Krise kleinreden und verdrängen, um nicht daraus lernen zu müssen. Man kriegt immer öfter den Eindruck, die konjunkturellen Aufhellungen der zweiten Hälfte des Jahres 2009, die wir den massiven Interventionen von Regierungen und Zentralbanken, also öffentlichen Geldern, zu verdanken haben, würden nun zum Anlass genommen, die postmoderne Party der privaten Bereicherung und des «anything goes» einfach so weiterzufeiern. Um Verantwortung abzuschieben, wird teilweise gar als völlig normal erklärt, was uns noch vor wenigen Monaten bis an den Rand des ökonomischen und politischen Abgrunds geführt hat. Doch wie will man die Fehler korrigieren,

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