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Eiskalter Greifensee: Der erste Fall für Schnyder & Meier
Eiskalter Greifensee: Der erste Fall für Schnyder & Meier
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eBook349 Seiten4 Stunden

Eiskalter Greifensee: Der erste Fall für Schnyder & Meier

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Über dieses E-Book

Am Morgen des dritten Advent wird am verschneiten Ufer des Greifensees die Geigenlehrerin Isadora Heller tot aufgefunden, seltsam herausgeputzt mit Hut und silbernem Schal, aber mit Wanderschuhen an den Füßen. Werner Meier von der Kantonspolizei Uster verdächtigt ihre Schwiegertochter Jane: Ein Motiv hatte sie – Zeugen berichten von einem Streit –, und am Tatort ist sie auch gewesen, denn sie war es, die die Leiche beim Joggen entdeckte. Janes Freundin, die Psychologiestudentin Zita Schnyder, ist von ihrer Unschuld überzeugt und beginnt Nachforschungen anzustellen. Dann gibt es eine zweite Tote: Annemarie Dieci, eine der beliebtesten Frauen in Waldbach und Leiterin der Laufgruppe, zu der auch Zita und Jane gehörten. Meier und Schnyder stoßen auf eine verwirrende Geschichte, die weit in die Vergangenheit reicht. Meier recherchiert intuitiv, Schnyder hält sich an Fakten, aber beide sind eigenwillig – und sie verlieben sich ineinander. Doch dann gerät Zita in die Hände des Mörders…
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. März 2023
ISBN9783715275192
Eiskalter Greifensee: Der erste Fall für Schnyder & Meier
Autor

Gabriela Kasperski

GABRIELA KASPERSKI studierte Anglistik und war Radio- und Fernsehmoderatorin, Schauspielerin, Sprecherin und Dozentin, bevor sie ihren Kindheitstraum verwirklichte, Schriftstellerin zu werden. Heute schreibt sie Krimis, die in Zürich oder in der Bretagne spielen und die Schweizer Bestsellerliste verlässlich im Sturm erobern, sowie die Kinderbuchreihe um das Adoptivmädchen Yeshi. Mit Quittengrab war sie für den Zürcher Krimipreis nominiert, mit Zürcher Filz für den Zürcher und den Schweizer Krimipreis.

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    Buchvorschau

    Eiskalter Greifensee - Gabriela Kasperski

    Für Franz, Flo, Beni und Samira

    Jane rannte keuchend durch den Waldbacher Wald, den Blick starr in die Morgendämmerung gerichtet. Sie nahm nichts von der Schönheit wahr – nicht die verschneiten Tannen und auch nicht die glitzernden Eiszapfen, die in bizarren Formen den Weg säumten. Abrupt hielt sie inne. Dicht vor ihr stand ein Reiher. Elegant hob er ein Bein und sah sie an, atemlos erwiderte sie seinen Blick. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit erschien, klappte der Vogel die Flügel aus und schwang sich in die Luft.

    Für einen Augenblick war es totenstill. Bis sich Jane umdrehte und zurücklief, ihren eigenen Fußspuren folgend. Endlich erreichte sie die kleine Lichtung, wo eine eigenartige Gestalt starr im jungfräulichen Schnee lag. Jane ging näher. Und noch näher. Der Hut und der silberne Schal waren unverkennbar, ihre Schwiegermutter hatte beides mit Stolz und Würde getragen.

    Gott sei Dank ist sie tot, dachte Jane. Nun kann der alte Besen nicht nach Waldbach ziehen. Und niemand wird von Paddy erfahren.

    Sonntag

    ScarLett Hammer, die Wetterfee des Privatsenders Greifensee Total, zwinkerte; ein Klümpchen Wimperntusche hatte sich in ihrem Auge festgesetzt.

    »Fuck!« Kameramann Sven fuhr aus seinem Dämmerschlaf. Wenn sie die Aufzeichnung nicht bald im Kasten hatten, mussten sie live auf Sendung. Und Sven hasste das, besonders am frühen Sonntagmorgen und ganz besonders mit ScarLett, die immer für eine Überraschung gut war.

    Aber die Wetterfee moderierte sich mit strahlendem Lächeln durch ihre anderthalb Minuten: »In der zweiten Tageshälfte kann es nochmals zu neuem Schneefall kommen. Die Wetterlage ist zurzeit extrem extrem.«

    Sven stöhnte auf. ScarLett hatte zwar ihrem Namen entsprechende Hammerbrüste und ein ultracharmantes Lächeln, aber eindeutig ein Sprachproblem – der Chef stand eben mehr auf Titten als auf Sprache. ScarLett zwinkerte erneut. Eine Träne samt Klümpchen löste sich vom unteren Lidrand. Sven hielt den Atem an. Sie drehte den Kopf und linste von der Seite in die Kamera. Das konnte sie wie keine andere, und so lief die Träne unbeachtet in ihre Halsgrube.

    »Zum Schluss noch einen Hinweis an alle Walker, Jogger und Hundehalter: Wenn Sie rausgehen, packen Sie sich warm ein, und tun Sie es gleich, später kann es zu spät sein.« Sie hielt beide Arme hoch, so wie sie das jedes Mal tat. »Viel Spaß, trockene Füße und tschau bis in einer Stunde, wenn es wieder heißt: Im Wetter-Bett mit ScarLett.«

    Zita Schnyder schreckte aus alkoholgeschwängertem Tiefschlaf hoch und schlug sich den Kopf an. »Verdammt!« Noch immer hatte sie sich nicht an die Dachschräge gewöhnt, obwohl sie seit bald drei Monaten hier wohnte. Ihre Augen waren verquollen, halb blind tastete sie nach dem brummenden Telefon. Als sie die Nummer sah, stöhnte sie auf. Gunnar Hodler! Sie hatte es geahnt. Nach acht endlosen Jahren Studium hatte sie im letzten Sommer ihre Masterarbeit in Angriff genommen. Familienkonstellationen im modernen Frauenroman war das Thema, das ihre beiden Fächer Anglistik und Psychologie vereinte. Da sie in ihrer WG in Zürich nicht zum Arbeiten kam, war sie vorübergehend an den Greifensee gezogen, sie, die das Landleben eigentlich hasste. Das Projekt konzentriertes Schreiben war dennoch super angelaufen. Bis zu dem Moment, als ihre langjährige Mentorin plötzlich eine Frühgeburt erlitten hatte. Und der Stellvertreter, Gunnar Hodler, in Erscheinung getreten war: Ein phantasieloser Mittfünfziger, der schon das Thema an sich für verfehlt hielt. Als Zita den Abgabetermin nicht einhalten konnte, hatte er die Frist zähneknirschend verlängert. Montag um neun – das war sein ultimatives Angebot. Und daran erinnerte er sie jetzt, an einem Sonntagmorgen kurz vor sieben. So ein Idiot!

    Zita kuschelte sich wieder in die warme Decke. Gestern Abend hatten sie eine tolle Party gefeiert, ihre Zimmerwirtin Helen Himmel hatte richtig zugeschlagen. Es war das erste Mal, seit ihr Mann Heinrich vor zwei Jahren gestorben war, dass sie so viele Leute eingeladen hatte. Das halbe Dorf war gekommen, und die Letzten waren erst um drei Uhr früh gegangen. Zitas Freundin Eski hatte sämtliche Vorurteile, das Landleben sei langweilig, begraben – besonders angesichts des jungen Försters Max Reinhard, mit dem sie sich den ganzen Abend ein Glas Punsch geteilt hatte. Eski, bei der sogar eine pflegeleichte Wohnzimmerpalme nach drei Tagen die Wedel hängen ließ, interessierte sich plötzlich brennend für alle Vorgänge in der Natur. Eski und der Förster, was für eine Schnulze. Zita verzog den Mund und richtete sich schwerfällig auf. Elender Kater, unmöglich, so zu arbeiten. Ihr Blick blieb an der Trainingshose hängen, die auf einem Kleiderhaufen lag. Ob sie joggen gehen sollte?

    Nachdem sie damals die ersten Tage hier in völliger Einsamkeit vor ihrem Laptop verbracht hatte, gebeutelt von einer fürchterlichen Landdepression, hatte Helen sie zum Lauftreff geschickt. »Jetzt stell dich nicht so an. Du wirst sehen, es bringt dich auf andere Gedanken.« Äußerst widerwillig hatte sich Zita überreden lassen. Aber die Ladies trabten locker, redeten dabei miteinander, die Stimmung war großartig. Und Zita hatte mitgehalten. Am Ende erfuhr sie, dass sie erstaunlicherweise acht Kilometer zurückgelegt hatte. Beflügelt von ihrem persönlichen Rekord war sie auch zum nächsten Training gegangen und hatte Jane kennengelernt. Jane war einige Jahre älter als sie, mager und klein, sprach kaum und lief leidenschaftlich. Nachdem Zita und sie mehrere Wochen lang nebeneinanderher gerannt waren und Jane alles über Zita wusste – das endlose Studium, die kurzlebigen Affären, die selbst diagnostizierte Beziehungsneurose –, begann auch Jane zu erzählen. Sie stammte aus Schottland, hatte drei Jungs im Alter von fünf bis zwölf, in einem früheren Leben war sie bei einer Nachrichtenagentur in Edinburgh angestellt gewesen. Sie litt unter dem Machogehabe ihres Mannes, unter den Teenagerallüren ihres ältesten Sohnes und unter der Anwesenheit ihrer Schwiegermutter Isadora, die einen Kurzbesuch spontan verlängert hatte. Angeblich, um die musikalische Erziehung der Jungs voranzutreiben – sie war eine renommierte Geigenlehrerin. Jane schilderte die Zustände in ihrem Haushalt mit Galgenhumor, trotzdem kam sie Zita ziemlich unglücklich vor. Um sie abzulenken, hatte sie Jane zu Helens Party eingeladen. Jane war tatsächlich aufgetaucht. Unschlüssig zuerst, nur auf Zitas Drängen hin hatte sie den Mantel abgelegt. Aber nach einem Glas Punsch war sie aufgetaut und mit dem Volleyballtrainer Paddy ins Gespräch gekommen. Mit ihm hatte sie dann erstaunlicherweise den ganzen Abend geflirtet, obwohl er um Jahre jünger war als sie. Jane, der kleine Feger, wer hätte das gedacht?

    Zita lachte auf. Es ging ihr viel besser, ihr Kopf brummte kaum noch. Sie griff nach ihrer Trainingshose: Eine kleine Runde durch den Schnee, dann würde sie sich ans Korrigieren machen.

    Werner Meier stand unter der Dusche und sang. Er war bestens gelaunt – sein erster freier Sonntag seit Langem. Da die Kantonspolizei Uster chronisch unterbesetzt war, wurde Meier oft für Wochenenddienste eingeteilt. Was ihm gar nicht so ungelegen kam, so lief er nicht Gefahr, sich über seine gescheiterte Ehe und sein abgebrochenes Kunststudium den Kopf zu zerbrechen. Auf den heutigen freien Sonntag allerdings hatte er sich gefreut. Er wollte die Buddha-Ausstellung im Rietbergmuseum in Zürich besuchen und abends würden er und seine drei Freunde mit ihrem Streichquartett erstmals öffentlich auftreten. Ein großer Moment, auch wenn es nur ein Kirchenkonzert in der kleinen Gemeinde Waldbach war. Dort gab es nämlich den Hirschen, wo er gerne ein Feierabendbier trank, und Vreni Hugentobler, die Wirtin, die immer ein warmes Abendessen für ihn bereithielt, selbst wenn die Küche schon geschlossen war. Da hatte er auch Dorfpfarrer Keller kennengelernt, der neu war, innovativ, bemüht, die Menschen in die Kirche zu locken und von der Idee eines Adventskonzerts sofort begeistert gewesen war.

    Meier schmetterte den Triumphmarsch aus Aida gegen die Kacheln. Wasser und Seife liefen ihm in den Mund, er gurgelte sich noch durch einen Takt, bevor er zwangsläufig verstummte. Beim Abtrocknen sah er missbilligend auf seinen Bauch. Ich muss abnehmen. Ab sofort ist das Frühstück gestrichen und morgen fange ich an zu joggen. Als er aus dem Fenster sah, staunte er: Alles war verschneit, die Häuser wie von einer gewaltigen Puderzuckerschicht bedeckt, auf der gewöhnlich sehr befahrenen Hauptstraße schlingerte ein einziges Auto. Ein verzauberter Wintertag, wie schön!

    Meier pfiff noch einige Takte des Marsches, bevor er aus seinem reich bestückten CD-Regal Glenn Goulds Goldberg-Variationen auswählte. Unterwegs in die Küche kam er an seinem neuen Anzug vorbei, den er im Weihnachtsverkauf erstanden und bis jetzt nicht aus der Tüte genommen hatte. Der erste Anzug seit Jahren! Meiers bevorzugte Uniform waren Jeans und ein passendes T-Shirt, ergänzt durch eine Lederjacke.

    Glenn Goulds virtuose Finger hüpften über die Tasten, und Meier stand vor dem Küchenschrank. Vielleicht ein kleines Müsli? Das machte nicht dick und stillte den Hunger, der an ihm nagte, seit er sich eben vorgenommen hatte, nichts mehr zu essen. Er füllte eine Schüssel mit Flocken und goss Milch dazu; der Kaffee lief bereits durch die Maschine. Die Sonntagszeitung schenkte er sich, schließlich hatte er frei. Dafür schaltete er den kleinen Fernseher ein, der neben dem Mikrowellengerät stand und ihm während seiner seltenen Kochorgien Gesellschaft leistete. Als Meier ScarLetts großzügiges Dekolleté erblickte, pfiff er anerkennend. Eine Anzüglichkeit, die ihm diebisches Vergnügen bereitete und die er sich nur leistete, wenn er allein war. ScarLett verhaspelte sich wie üblich beim Wort Wetterlage und meinte charmant verlegen, dass es bald wieder megamäßig schneien würde. Meier grinste, goss den Kaffee in eine Tasse und schäumte Milch darüber. Da wurde das Wettersignet unvermittelt vom Newsflash unterbrochen. Ein aufgeregter Moderator verkündete, dass der bekannte Politiker Anton Marti bei der gestrigen Anti-Weihnachtskommerz-Demonstration getötet worden sei.

    »Schtärnesiech!«

    Meier verschüttete das Schokoladenpulver und blickte gebannt auf den Bildschirm. Vermummte Gestalten, die sich im Schneefall erbitterte Duelle lieferten, von gedämpften Geräuschen untermalt. Bizarr, wie aus einem Spielfilm. Übergangslos folgte der nächste Beitrag, ein Porträt von Anton Marti, dazwischen die Stimme des Moderators, der wissen wollte, ob er wieder auf Sendung sei. Das Ganze wirkte chaotisch, offenbar waren die Macher von Greifensee Total ziemlich überfordert.

    Meier schaltete den Fernseher aus, seine gute Laune verflog. Nicht aus Kummer über Marti, sondern weil sein freier Tag auf dem Spiel stand. Im Geist sah er bereits seinen Chef Fausto Signorelli, der einen Großeinsatz anordnete und sich dabei schwungvoll über den kahl geschorenen Schädel strich. Automatisch tastete Meier nach seinem Handy. Aber dieses lag samt Hose im Wäschekorb. Im Badezimmer schlugen ihm eiskalte Luft und der Klingelton entgegen. Einen Augenblick lang zögerte er. Einfach ignorieren? Im Rietbergmuseum würde ihn keiner vermuten, offiziell hatte er frei. Sein Pflichtbewusstsein siegte. Er ließ Müsli und Milchkaffee stehen und eilte los.

    »So, fertig.« Helen Himmel hängte das feuchte Küchentuch an seinen Platz und sah sich zufrieden in der aufgeräumten Küche um. Das Fest hatte einen wahren Energieschub in ihr ausgelöst. Zum ersten Mal seit langer Zeit war ihr Haus wieder von Fröhlichkeit und Lärm erfüllt gewesen. Heinrich hätte sich gefreut. Dies hatten ihr ihre beiden Söhne Samuel und Jonas versichert, die auch da gewesen waren. Das allein genügte, um Helen glücklich zu machen. Sie hing an ihren Kindern und vermisste sie jeden Tag, besonders seit auch Nesthäkchen Marie vor einem halben Jahr ausgezogen war und Helen auf Anraten ihres Nachbarn Pablo Liimes den Dachstock an die Studentin Zita Schnyder vermietet hatte.

    Auf dem Weg ins Wohnzimmer schaltete Helen den Fernseher ein, gleich würde das Wetter kommen. Hoppla, es war schon auf Sendung! Helen trat näher und lachte herzlich über ScarLetts Versprecher. Sie war ein Fan der Wetterfee, die ihren großen Busen so stolz in die Kamera hielt. Helen musterte das hautenge Top bewundernd, irgendwann würde sie auch so mutig sein. Vielleicht sogar schon diesen Abend: Pfarrer Keller hatte sie nämlich zum Adventskonzert eingeladen, höchstpersönlich.

    Summend füllte Helen die Spülmaschine mit den letzten Gläsern. Plötzlich hielt sie inne. Wo war eigentlich die Flasche mit Pablos Quittenschnaps? Gewöhnlich stand sie ganz vorne im Regal, gleich neben dem alten Wecker. Aber da war sie nicht. Helen gab die Suche nach kurzer Zeit wieder auf; der Schnaps würde vermutlich beim Putzen des übrigen Hauses auftauchen. Aus ihrer Kräuterteesammlung wählte Helen eine Eisenkraut-Pfefferminz-Mischung und deckte den Tisch. Zopf, Butter, Johannisbeermarmelade: Helen frühstückte für ihr Leben gern gemütlich und ausgiebig. Sie wollte sich gerade setzen, als ihr einfiel, dass sie ihrer Freundin Bescheid geben sollte. Susanna Maag war auch in Waldbach aufgewachsen. Eine Zeit lang hatten sie sich aus den Augen verloren, bis sie vor einigen Jahren mit ihrem Mann Christian wieder ins Dorf gezogen war. Sie hatte ein Reinigungsinstitut eröffnet, das prächtig anlief. Aber dann war die Wirtschaftsflaute gekommen, Susanna musste ihre Angestellten entlassen und alles alleine machen. Das unangenehme Gefühl, das Helen zu Beginn überkommen hatte, wenn ihre alte Schulkameradin bei ihr putzte, war schnell der Freude gewichen, gemeinsam zu arbeiten. Denn Helen half natürlich immer mit. Die Vorstellung, auf dem Sofa zu dösen, während Susanna schuftete, erschien ihr völlig absurd.

    Helen tippte Susannas Handynummer ein. Die freundliche Stimme der Mailboxdame teilte ihr mit, die Teilnehmerin sei zurzeit nicht erreichbar. Helen sah auf die Uhr. Halb acht, vielleicht war das noch etwas früh zum Putzen, immerhin war Sonntag. Sie beschloss, die Zeitung zu holen und sich eine Pause zu gönnen.

    Pablo Liimes beobachtete, wie sich seine Nachbarin in Nachthemd, Faserpelz und Gummistiefeln durch den Schnee zum Briefkasten kämpfte. Typisch Helen, im Morgengrauen ins Bett und schon wieder munter. Er selbst war kein Frühaufsteher, aber nach einem Albtraum hatte er nicht mehr einschlafen können. Langsam ging er zur chromglänzenden Kochinsel, gefolgt vom wedelnden Basko. Mit einer knappen Geste befahl er dem Hund, sich hinzulegen. Er brühte einen Espresso auf und trank ihn viel zu heiß, dann kehrte er zu seinem Arbeitstisch zurück. Als er die Schleifmaschine ansetzte, fräste er eine wüste Kerbe ins Metall. »Jesus fucking Christ!« Er ließ das Gerät sinken. Konzentration war heute ein Ding der Unmöglichkeit. Aber spielte das eine Rolle? Er konnte tun und lassen, was er wollte.

    Vor zwei Jahren war Pablo aus den USA nach Waldbach heimgekehrt. Er hatte die alte Spinnerei seiner Eltern in ein loftartiges Wohnatelier umbauen lassen und jeden Auftrag, von den Spengler- bis zu den Malerarbeiten, im Dorf vergeben. Die Bewohner dankten es ihm mit Achtung und Respekt, beim Aufrichtefest tranken sie seinen selbst gebrannten Schnaps. Und keiner war ihm böse, wenn ihm die Frauen etwas zu tief in die Augen schauten. Manchmal kam eine bei ihm vorbei, genoss einen italienischen Kaffee und bat ihn wegen ihrer Blumen um Rat. Denn Pablo war nicht nur Künstler, sondern auch ein begnadeter Gärtner. »Das ist unfair«, pflegte Helen zu jammern. »Ich arbeite mir den Rücken krumm, trotzdem werden meine Rosen von jeder Laus befallen, während du deine Pflanzen einmal intensiv anschaust, und schon gedeihen sie prächtig.«

    Pablo stellte sich erneut an die lang gezogene Fensterfront. Als ihm Helen mit der Sonntagszeitung zuwinkte, reagierte er nicht. Ein Frühstück mit ihr war das Letzte, was er sich jetzt wünschte. Er atmete auf, als sie hinter ihrer adventlich geschmückten Haustür verschwand.

    Sein Handy klingelte. Er zuckte zusammen. Dann machte sich Erleichterung in ihm breit. Sie musste es sein. Niemand sonst würde sich trauen, ihn so früh anzurufen.

    Susanna Maag starrte auf ihr Handy. Wieso ging er nicht ran? Er musste doch wissen, dass sie es war.

    »Schatz, was machst du?«

    Schnell ließ Susanna das Telefon in die Tasche ihres Bademantels gleiten, obwohl sie nichts zu befürchten hatte: Ohne seine Brille war ihr Mann Christian blind wie ein Maulwurf. Außerdem war er völlig verschlafen, vergangene Nacht hatte er zu viel getrunken und zu lange Karten gespielt.

    »Warum bist du schon auf, Schatz? Es ist doch viel zu früh.« Sein Atem verursachte ihr Übelkeit.

    »Ich muss aufs Klo.« Sie ging ins Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Dann tastete sie erneut nach dem Handy.

    »Ich mach uns mal Kaffee!«, rief Christian.

    Vertraute Geräusche drangen zu ihr. Ein Filter wurde eingelegt, Kaffeepulver reingeschüttet, Wasser abgemessen: zwei Tassen für sie, eine für ihn. Schlurfende Schritte, der Fernseher wurde eingeschaltet, dann ertönte die fröhliche Stimme der Wetterfee.

    Susanna tippte die Wahlwiederholung an. Auch diesmal meldete sich nur die Mailbox. »Verdammt noch mal!« Wütend warf sie das Handy ins Waschbecken.

    »Susanna, ist alles in Ordnung?«, fragte Christian ängstlich.

    Endlich ging die Tür wieder auf. Susanna stand da, hellwach, die eisgrauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Durch das Oberteil ihres schwarzen Trainingsanzugs zeichneten sich ihre Brüste ab. Christian seufzte, zu gerne hätte er sein Gesicht darin vergraben. Als ahnte sie seine Gedanken, zog sie ein unförmiges T-Shirt darüber. Hinter ihnen verkündete die Wetterfee, dass die Schneefälle früher als ursprünglich vorausgesagt wieder einsetzen würden.

    »Ich muss los, Annemarie wartet sicher schon.«

    »Du willst bei diesem Wetter joggen?«

    Susanna schlüpfte in die Turnschuhe. »Soll ich dir ein Geheimnis verraten?«

    Christian nickte erleichtert. Ihre schlechte Stimmung schien verflogen.

    »Ich will Annemarie beim Silvesterlauf schlagen.«

    »Das wirst du auch, mein Schatz. Du bist die Größte!«

    Er trat näher, doch sie drehte sich weg. Der zärtliche Augenblick war verflogen, bevor er begonnen hatte.

    Susanna eilte zur Tür, ihren Rucksack eng an den Rücken geschnallt. »Nachher geh ich noch bei Helen vorbei und helfe ihr beim Aufräumen. Vor dem Nachmittag musst du nicht mit mir rechnen«, rief sie ihm aus dem Treppenhaus zu.

    Annemarie Dieci und Georg Reinhard lagen in dem etwas zu schmalen Bett, das im Schlafzimmer stand, seit sie vor über dreißig Jahren geheiratet hatten, und tranken Milchkaffee aus einer gemeinsamen Tasse.

    »Das war wirklich ein schönes Fest«, meinte Georg und strich seiner Frau eine braungraue Strähne aus der Stirn.

    Annemarie antwortete nicht.

    »Was ist denn los mit dir, hat es dir nicht gefallen?«

    »Doch, doch …« Sie setzte sich auf.

    Beinahe wäre die Flüssigkeit übergeschwappt, Georg konnte die Tasse gerade noch retten. »Ach so«, lächelte er. »Du überlegst, ob du heute vielleicht noch einige Kilometerchen mehr schaffst als gestern.«

    Annemarie nickte zögernd. Eigentlich hatte sie an etwas ganz anderes gedacht, aber darüber wollte sie jetzt nicht reden. Georg hatte recht, bis zum Silvesterlauf blieb nur noch wenig Zeit. In der kommenden Woche würde sie täglich trainieren. Seit einem halben Jahr war sie Frührentnerin, Opfer einer Sparrunde der Zürcher Regierung. Ihren Job als Sportlehrerin am Gymnasium Waldstadt vermisste sie immer noch. Gleich an ihrem ersten arbeitslosen Tag hatte sie eine Laufgruppe gegründet mit dem Ziel, den Zürcher Silvesterlauf und später mal den New Yorker Marathon zu bestreiten. Für Annemarie war klar, je härter die Bedingungen, desto größer die Herausforderung.

    »Willst du wirklich in den Wald, bei dem Wetter?«, fragte Georg, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

    »Natürlich! Du gehst ja später auch.«

    Georg war der Förster von Waldbach. Seit dem verheerenden Sturm Lothar pflegte er regelmäßig jene Stellen zu kontrollieren, die für Spaziergänger gefährlich werden konnten.

    »Da liegst du völlig falsch.« Er lachte und kuschelte sich in die Kissen. »Max hat gestern Nacht eine Runde gemacht.«

    Max war Georgs und Annemaries Sohn, der bald die Arbeit seines Vaters übernehmen würde. »Aber Max hat doch den ganzen Abend diese dürre Stadtpflanze nicht aus den Augen gelassen.«

    Georg schmunzelte. »Du bist vielleicht ein gehässiges Muttertier. Das Mädchen heißt Eski und ist sehr nett. Sie hat Max begleitet.«

    Annemarie schlug ihre Bettdecke zurück. »Ach so, ein romantischer Waldspaziergang im Schnee. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er dabei einen klaren Kopf hatte?« Sie stand auf. »An deiner Stelle würde ich nochmals gehen.«

    Georg schaute ihr zu, wie sie sich das schreckliche T-Shirt mit der Aufschrift des örtlichen Sponsors überstreifte. Gerne hätte er sie wieder zu sich ins Bett gelockt. Doch aus Erfahrung wusste er, dass sie nichts vom Laufen abhielt. Was ihn nicht wirklich betrübte, denn danach war sie manchmal einem angereicherten Nachmittagsschläfchen nicht abgeneigt.

    »Ich habe großes Vertrauen in Max. Er hat die Bäume bestimmt gründlich überprüft, auch wenn seine neue Flamme dabei war. Du weißt doch, wir Reinhard-Männer sind die Könige des Multitasking.«

    Er hatte noch nicht fertig gesprochen, als die Sonntagszeitung auf seinem Kopf landete.

    »Georg Reinhard, du bist ein selbstgerechter Wichtigtuer! Darf ich dich an die Nacht erinnern, in der wir zwei zwischen Tannenwurzeln lagen, während eine ganze Rehherde die Waldstraße blockierte?«

    »Und wärst du nicht gewesen, würde sie heute noch dort stehen. Aber das war eine Ausnahme.« Er deutete auf die Zeitung. »Hast du das gesehen? Der Marti wurde gestern ermordet.«

    Annemarie, ihr Stirnband zurechtzupfend, schüttelte den Kopf. »Ermordet? Du glaubst auch alles, was dieses Käseblatt schreibt. Schau dir doch den Marti mal an: dick und untrainiert. Er hatte vermutlich einen Herzinfarkt, weil er einige Schritte zu Fuß gehen musste. Geschieht ihm recht, diesem Manipulator.«

    Georg unterdrückte eine Antwort. Anders als seine Frau war er mit Martis Politik in bestimmten Bereichen durchaus einverstanden. Dass solche Meinungsverschiedenheiten zu keinem Streit führten, war ein Zeugnis ihrer reichen Beziehung.

    Annemarie zog die Turnschuhe an, die sie immer in die Nähe der Heizung stellte, damit sie geschmeidig blieben. »Wenn gestern jemand einen ermordet hat, dann Christian Maag den Pablo«, murmelte sie.

    Georg antwortete nicht, er war in den Artikel über Marti vertieft.

    »So viel zum Thema Reinhard-Männer und Multitasking. Ich bin in zwei Stunden wieder da. Würde mich über ein spätes Frühstück freuen.«

    Er nickte. »Eier und Speck. Geht in Ordnung, Boss!«

    Zu diesem Zeitpunkt beobachtete Marie Himmel, Helens Tochter, den schlafenden Elias Heller. Seine Mundwinkel zuckten, es sah aus, als würde er weinen. Marie legte ihm die Hand auf die Stirn, sogleich glätteten sich die Falten. Sie lehnte sich zurück. Das Feuer im Kamin war erloschen. Morgenlicht sickerte hellgrau durch die beiden Fenster, die auf den Greifensee hinausgingen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie daran dachte, wie sie Elias gestern auf der Fete ihrer Mutter kennengelernt hatte.

    Dabei hatte Marie gar nicht gehen wollen. Ihre Brüder Samuel und Jonas hatten sie überredet. Paddy, ihr ehemaliger Trainer, würde dort sein. Selbst wenn sie Waldbach keine Träne nachweinte, den Volleyballklub vermisste sie. Und so war Marie in die fröhlich pulsierende Party geplatzt. Bereits im Flur gab es ein Riesengedränge, halb Waldbach schien eingeladen zu sein. Marie hatte die Runde gemacht, da ein Wort gewechselt, dort ein paar alte Kollegen begrüßt. Bis sie ihre Mutter entdeckt hatte, die in einem unmöglichen Sackkleid viel zu nah neben einem Typen mit schmuddeliger Mähne stand. Beide grinsten wie Idioten. Und dann sah Marie, wie sich ihre Finger berührten. Fuck! So eine Schlampe! Sie hatte kein Recht, zusammen mit diesem Riesen Suppe aus der Schüssel zu schöpfen, die eigentlich ihrem Vater gehörte! Marie hatte sich abgedreht und ein Glas Punsch in sich hineingeschüttet. Und gleich noch eins.

    »He, Marie, wie geht’s?« Paddy stand vor ihr. »Ich stell dir einen Kumpel vor, Elias, er ist neu hier.«

    Elias hatte gefragt, ob sie die Gastgeberin sei.

    Sie hatte den Kopf geschüttelt. »Meine Alte.«

    »Hast du Probleme mit ihr?«

    Sie hatte genickt.

    Er hatte gelächelt. »Das kenn ich.«

    Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie waren in die Bibliothek gegangen, die im hinteren Teil des Hauses lag. Stundenlang hatten sie dort gesessen. Irgendwann rückten sie enger zusammen, irgendwann küssten sie sich, und irgendwann beschlossen sie zu gehen. Als sie an der Fotowand vorbeikamen, war Elias stehen geblieben. Da hingen unzählige Bilder in verschiedenen, zum Teil sehr kunstvollen Rahmen. Marie hasste die Wand; sie zeigte ihren Vater, ihre Mutter, ihre Brüder, sie selbst. Beweise dafür, dass sie mal eine fröhliche Familie gewesen waren.

    Plötzlich war Elias’ Blick an einem Bild hängen geblieben. »Wer ist das?«

    »Mein Vater.« Sie hatte auf den lachenden Mann mit dem korrekten Seitenscheitel gezeigt. »Warum willst du das wissen?« Bevor Elias antworten konnte, hatte Helen den Raum betreten. Stinksauer, weil Marie sie nicht begrüßt hatte. Typisch ihre Alte. Sie stritten eine Weile, bevor Marie an den angetrunkenen Kartenspielern vorbei nach draußen gestürmt war. Elias war ihr gefolgt. Zusammen waren sie durch die klirrende Winternacht zu seinem Haus gewandert, das hinter Bäumen versteckt dicht am Ufer des Greifensees lag.

    Es war heller geworden. Marie seufzte. Elias murmelte etwas und legte den Arm um sie. Hätte sich Marie umgesehen, hätte sie den Fotorahmen erblickt, der aus der Bauchtasche von Elias’ Kapuzenjacke ragte.

    Fausto Signorelli, der Chef der Kapo Uster, stand im großen Sitzungszimmer und stellte eine Task Force zusammen. Er hatte viel zu wenig geschlafen, was bei ihm keine Müdigkeit, sondern Hyperaktivität auslöste. Am Abend vorher war er mit Frau und Kindern auf Schwiegerelternbesuch im Tessin gewesen, als er aus

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