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Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927–1938
Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927–1938
Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927–1938
eBook254 Seiten3 Stunden

Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927–1938

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Über dieses E-Book

Die Zwischenkriegszeit ist in Österreich auch heute noch eine ideologische Kampfzone. Berichte über den "Schattendorf-Prozess" und den folgenden Brand des Justizpalastes 1927 sind oft fehlerhaft, wichtige Fakten werden ausgelassen und Ereignisse einseitig dargestellt. Ähnliches gilt für die Februarkämpfe 1934, in denen die Gewalt zwischen den verfeindeten Lagern eskalierte. Die Historikerin Gudula Walterskirchen präsentiert die unterschiedlichen Sichtweisen, Widersprüche, Lücken bzw. Unrichtigkeiten, analysiert die Quellen und fördert auch völlig Neues zutage. Brisant ist auch die Zeit des Dollfuß- und Schuschnigg-Regimes. "Ständestaat" wie Sozialdemokratie zielten auf den falschen Feind. Statt gemeinsam gegen den Terror des Nationalsozialismus zu kämpfen, bekämpften sie einander, mit fatalen Folgen: Die politisch geschwächte österreichische Politik hatte Hitlers Einmarsch nichts entgegenzusetzen. Die blinden Flecken der Geschichte prägen den Diskurs bis heute: Es gibt keine gemeinsame Gedenkkultur zu den damaligen Ereignissen, Gedenkveranstaltungen sind immer auch politisch eingefärbt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. März 2017
ISBN9783218010764
Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927–1938

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    Buchvorschau

    Die blinden Flecken der Geschichte - Gudula Walterskirchen

    1. BLUTIGER AUFTAKT: SCHATTENDORF UND DAS GEMETZEL VOM JULI 1927

    ZUR VORGESCHICHTE DER EREIGNISSE VON SCHATTENDORF

    Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Zerfall des einst riesigen Habsburgerreiches blieb das heutige Österreich als „Rest zurück. Bitter arm und von instabilen, teils neuen Staaten umringt. Die kommunistischen Putsche 1919 in Bayern und Ungarn, der kommunistische Putschversuch in Wien, zuvor die blutigen Revolutionen in Russland 1917 und 1918 – all dies jagte dem Bürgertum einen gewaltigen Schrecken ein und bildete in Österreich eine reale Grundlage für den starken Antikommunismus. Bald folgten Bedrohungen anderer extremer politischer Strömungen, etwa durch den gescheiterten Putsch der Nationalsozialisten in München 1923. Die Machtübernahme durch das rechtsgerichtete Horthy-Regime in Ungarn und die jahrelangen Grenzstreitigkeiten im Burgenland destabilisierten Österreich zusätzlich und verunsicherten die Bevölkerung. Dazu kam die schlimme Wirtschaftskrise mit hohen Arbeitslosenraten und Hyperinflation, durch die immer breitere Bevölkerungsschichten verelendeten. Die Überwindung der Wirtschaftskrise bedeutete somit die größte Herausforderung für die jeweilige Regierung. Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel, der an der Spitze der – mit kurzen Unterbrechungen – seit 1920 an der Macht befindlichen Christlichsozialen Partei stand, schien dies zu jenem Zeitpunkt, 1926/27, bereits gelungen zu sein: Er erreichte eine Völkerbundanleihe und führte die Schillingwährung ein, wodurch die Hyperinflation beendet wurde. Doch die innenpolitische Stimmung verschärfte sich nach einer Zeit relativer Ruhe wieder. Den Auftakt machte der Parteitag der Sozialdemokraten im November 1926 mit dem Beschluss des „Linzer Programms, in dem kämpferisch von der „Diktatur des Proletariats" die Rede war. Wenn es sich auch um bloße Parteirhetorik handelte, das Bürgertum hatte sofort das Bild der blutigen Russischen Revolution vor Augen und geriet in Angst.

    Die zunehmende Präsenz der paramilitärischen Verbände führte zu einer immer gewalttätigeren innenpolitischen Auseinandersetzung. Seit dem Kriegsende hatten sich in Österreich verschiedene Frontkämpfervereinigungen gebildet, die mit Waffen aus dem Ersten Weltkrieg ausgerüstet waren. Die 1920 gegründeten Frontkämpfer waren strikt antikommunistisch und antisemitisch ausgerichtet und wollten sich nicht mit der Republik abfinden. Als ehemaligen Soldaten hing ihnen auch noch das Trauma des verlorenen Kriegs nach. Es gab daher auch umstürzlerische und monarchistische Tendenzen und Kontakte mit derartigen Gruppierungen, die in der leidenschaftlichen Gegnerschaft zu den Austromarxisten geeint waren.

    Als besonders brisant gestaltete sich die Lage im Burgenland: Das frühere Westungarn wurde zwar 1918 Österreich zugesprochen, wurde aber von Ungarn nicht freigegeben und konnte erst nach Kämpfen der Gendarmerie 1921 endgültig erobert werden. So erlebte die Bevölkerung die kommunistische Räteregierung in Ungarn, was lange Zeit nachwirken sollte und das Misstrauen und die Radikalisierung auf beiden Seiten verstärkte. Die Sozialdemokraten verdächtigten die Frontkämpfer, das Burgenland wieder Ungarn zuschlagen zu wollen, und die Frontkämpfer fürchteten, dass die Linke in Österreich eine kommunistische Diktatur errichten würde. Beides war nicht ganz unbegründet. Die Ungarn betrieben aktive Wühlarbeit im Burgenland und manipulierten die Volksabstimmung, wodurch Ödenburg (heute Sopron) Ungarn zugeschlagen wurde. Die Kommunisten hatten tatsächlich immer wieder Putschversuche unternommen, angefangen bei der Gründung der Republik, als es vor dem Parlament sogar zu Schießereien und Toten gekommen war. Und der Schutzbund hegte im Geheimen ebenfalls Pläne für einen Umsturz.

    Der sozialdemokratische Schutzbund wurde im Jahr 1923 gegründet, jedoch gab es auch zuvor schon Kampfformationen auf Seiten der Arbeiterschaft. Der Schutzbund stieg unter der Leitung von Julius Deutsch zu einer straff geführten, schlagkräftigen Truppe auf. Mitte der zwanziger Jahre zählte er mehr als 80.000 aktive Mitglieder und war zahlenmäßig weitaus stärker und besser mit Waffen ausgerüstet als das Bundesheer. Auf der „Gegenseite wurden zeitgleich die ebenfalls paramilitärisch organisierten Heimwehren gegründet, die allerdings in den Anfangsjahren mäßigen Erfolg hatten und intern zerstritten waren. Sie litten unter Finanznöten und verloren, als die akute Gefahr eines kommunistischen Putsches gebannt war, viele Mitglieder. Erst durch das radikale „Linzer Programm 1926 erlebten die Heimwehren plötzlich einen Aufschwung und regen Zulauf.

    DIE VERHÄNGNISVOLLEN EREIGNISSE AM 30. JÄNNER 1927

    Zusammenstöße zwischen den bewaffneten Einheiten der politischen Hauptgegner – Schutzbund und Frontkämpfervereinigung – waren in jener Zeit an der Tagesordnung. Meistens handelte es sich nur um Raufereien oder gegenseitige Provokationen. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Lage eskalieren würde. Am 30. Jänner 1927 war es in dem kleinen Ort Schattendorf an der burgenländisch-ungarischen Grenze so weit. Anhand der umfangreichen Prozessakten¹ lassen sich die Ereignisse recht exakt rekonstruieren:

    Für den 30. Jänner 1927, es war ein Sonntag, hatten die örtlichen Frontkämpfer eine Versammlung bei der Behörde angemeldet. Versammlungsort war das Gasthaus Tscharmann, dessen Wirt ein aktiver Frontkämpfer war. Dazu hatte man Prominenz aus Wien eingeladen, unter ihnen den bekannten Führer der Frontkämpferorganisation, Oberst Hermann Hiltl. Als nun der örtliche Schutzbund davon Wind bekam, beschloss man, ebenfalls eine Kundgebung abzuhalten. Diese wurde jedoch nicht bei der Behörde angemeldet, sondern spontan anberaumt.² Vor allem die „Gäste aus Wien" waren den Sozialdemokraten ein Dorn im Auge, sie fühlten sich provoziert. Man forderte aus den umliegenden Ortschaften Unterstützung an. Ein Aufmarsch oder eine aktive Verhinderung der Gegenversammlung war vom Schattendorfer Schutzbund aber nicht geplant. Dies teilte zumindest der Bürgermeister von Schattendorf, Johann Grafl, gleichzeitig Obmann des örtlichen Schutzbundes, Sonntagmittag dem sich erkundigenden Gendarmen mit. Inzwischen war die Verstärkung in Form des Schutzbund-Bezirkskommandanten Thomas Preschitz mit seinen Leuten eingetroffen, Schattendorfer Schutzbündler schlossen sich an, und gemeinsam marschierten alle zum Gasthaus Tscharmann. Dort kam es zu Wortgefechten, aber keinen Handgreiflichkeiten. Preschitz ordnete an, man solle die Tür absperren, worauf der Gastwirt in Panik geriet und seinem Sohn befahl, die Gendarmerie zu rufen. Dieser flüchtete in den Wohntrakt des Hauses, wo er aus seinem Jagdgewehr zwei Schüsse in die Luft abgab, um die Gendarmerie zu alarmieren. Der Gendarm eilte ins Gasthaus Tscharmann, wo die Schutzbündler ihm mitteilten, es sei auf sie geschossen worden. Der erste Fehlschluss, dem noch etliche folgen sollten.

    Ohne seine Einvernahme abzuwarten, marschierte Preschitz mit den Schutzbündlern ab, Richtung Bahnhof. Dort wollte man die Frontkämpfer aus Wien abfangen. Auf dem Weg dorthin trafen sie auf Frontkämpfer aus Loipersbach, die ebenfalls zum Bahnhof marschierten, um die Kollegen zu empfangen. Es kam zu einer Schlägerei, bei der einige Frontkämpfer verletzt wurden und diese flohen. Sie trafen auf zwei Gendarmen, denen sie berichteten, sie seien von den Schutzbündlern mit Leibriemen geschlagen und es seien sogar Schüsse auf sie abgegeben worden. Ob tatsächlich ein Frontkämpfer durch einen Schuss verletzt wurde, konnte später nicht zweifelsfrei geklärt werden.

    Inzwischen, es war 14 Uhr 30, fuhr am Bahnhof der Personenzug mit den zur Kundgebung eingeladenen Frontkämpfern aus Wien und diversen burgenländischen Ortschaften ein, insgesamt dreizehn Mann. Hiltl war nicht unter ihnen. Sie wurden von mehr als hundert Schutzbündlern erwartet, die sie anhielten und aufforderten, gleich wieder in den Zug zu steigen und heimzufahren. Sie weigerten sich, woraufhin sie verprügelt und verletzt wurden. Einige Frontkämpfer konnten flüchten und trafen im Wartesaal des Bahnhofs auf die Gendarmen. Die Schutzbündler drängten nach, der Zugang wurde jedoch von der Gendarmerie versperrt. Die Gendarmen ordneten an, dass die Frontkämpfer nach Hause zurückkehren sollten und die Schutzbündler sich ebenfalls zu entfernen hätten. Letztere zogen zurück nach Schattendorf zu ihrem Vereinslokal, unter Absingen von Liedern und Schmährufen gegen die Frontkämpfer. Als der Zug am Gasthaus Tscharmann schon fast vorbeigezogen war, bogen einige Schutzbündler ab, um in der Gaststube die dort anwesenden, teils Karten spielenden Frontkämpfer zu provozieren. Ohne Ergebnis, sie zogen wieder ab.

    Allerdings war inzwischen die Kunde von der Schlägerei am Bahnhof nach Schattendorf und ins Gasthaus Tscharmann gedrungen. Es hieß, es seien sogar Tote zu beklagen, zumindest ein Frontkämpfer erschlagen worden – ein verhängnisvolles Gerücht! Daraufhin gerieten einige Frontkämpfer in Panik und verschanzten sich im benachbarten Wohntrakt des Gasthauses, unter ihnen der Sohn des Gastwirts, Josef Tscharmann, sein Bruder Hieronymus und deren Schwager Johann Pinter. Diese hatten Gewehre und Munition mitgebracht und bereitgelegt, um auf einen eventuellen Angriff der Schutzbündler vorbereitet zu sein. Da die Tür zum Wohntrakt verschlossen und die Fenster vergittert waren, befanden sie sich nicht in unmittelbarer Gefahr. Sie hatten nicht mitbekommen, dass das Eindringen der Schutzbündler ohne Gewalt ablief und diese gleich wieder abzogen. Angeblich seien von den Schutzbündlern Schüsse abgegeben worden. Die verschanzten jungen Männer gingen von einem Angriff auf das Gasthaus aus – der nächste Fehlschluss. Sie gaben einige Schüsse auf die Gasse ab, und einige Menschen sanken zu Boden. Die Schützen überblickten jedoch die Situation nicht, da sie immer wieder Deckung suchten. Als klar war, dass sie jemanden getroffen hatten, gerieten sie in Panik und flohen. Sie befürchteten, dass es nun zu einer Eskalation kommen würde. Auch alle anderen Beteiligten flohen in Panik, die Schutzbündler in ihr Vereinslokal, das Gasthaus Moser.

    Das schreckliche Resultat der blinden Schießerei: Zwei Tote, nämlich der mit den Schutzbündlern marschierende Matthias Csmarits, der wegen einer Kriegsverletzung ein Glasauge trug, sowie ein Schulkind, das aus Neugier vom Straßenrand aus zusah: Josef Grössing. Es gab weitere fünf Verletzte, unter ihnen ein Kind. Soweit der Ablauf der Ereignisse anhand der Polizeiberichte und Zeugenaussagen im Gerichtsakt.

    DIE DARSTELLUNG DER EREIGNISSE IN DEN ZEITGENÖSSISCHEN MEDIEN UND IHRE MOTIVE

    Unmittelbar nach den Vorfällen war der tatsächliche Ablauf noch nicht im Detail bekannt, dafür gab es umso mehr Gerüchte, die gern geglaubt und nicht überprüft wurden. Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschösterreichs wandte sich in einem offenen Brief mit wilden Gerüchten und kämpferischer Rhetorik an seine Anhänger: „Genossen und Genossinnen! Wieder sind Blutopfer der Arbeiterklasse gefallen. Die Mörderbanden der Frontkämpfer haben unseren Genossen, den Kriegsinvaliden Zmaritsch (sic), haben das einzige Kind unseres Eisenbahnergenossen Grössing meuchlerisch ermordet. Die burgenländischen Frontkämpfer sind die Spione Horthys im Burgenland. […] Die Republik wird keinen Tag sicher sein, solange die Regierung der Republik in den Händen der Feinde der Republik liegt! Das Leben des Arbeiters wird nicht sicher sein, solange uns die Protektoren hochverräterischer Mordbanditen regieren! Ihr müßt die Republik, ihr müßt euer Leben selbst schützen! Bauet den Republikanischen Schutzbund aus!"³

    Wenige Tage später, am 4. Februar, fand eine reguläre Sitzung der Nationalversammlung statt. In dieser stellten der frühere sozialdemokratische Staatskanzler Karl Renner und Genossen eine Dringliche Anfrage an die Regierung, mit der Aufforderung, dass die Täter zur Verantwortung gezogen und die Frontkämpfervereinigung aufgelöst werden müssten. Bundeskanzler Seipel nahm daraufhin zum ersten Mal zu den Vorfällen Stellung: „Es ist Blut vergossen worden; in diesem Fall ganz bestimmt unschuldiges Blut. Ein Arbeiter und ein Kind sind ein Opfer von Leidenschaften – oder vielleicht ein Opfer der Angst, die ja auch eine Leidenschaft ist – geworden. Wir alle stehen erschüttert vor diesem Ereignis. Wir wünschen eine derartige Austragung von Kämpfen, welcher Art immer sie seien, in unserem Land nicht, […] daß in diesem Falle von den zuständigen Behörden und von den Gerichten alles geschehen wird, daß die Tat so gesühnt wird, wie sie es verdient, und die Regierung ist sich ihrer Pflicht vollkommen bewußt, darauf zu sehen, daß es so sei."

    In seiner Replik auf die Rede des Bundeskanzlers gestand Renner diesem zu, mäßigend zu wirken, und auch er selbst beteuerte, dass die Arbeiterschaft keineswegs Bürgerkrieg oder Umsturz anstrebe, sondern sich vorbildlich zurückgehalten habe. Somit stand diese Rede Renners im Gegensatz zur kämpferischen Parole, die der Parteivorstand zuvor in der „Arbeiter-Zeitung" ausgegeben hatte. Zeitungen bildeten in jener Zeit die wichtigste Nachrichtenquelle. Sie berichteten aber nicht nur, sondern bezogen Stellung, produzierten Stimmungen, beeinflussten die Geschehnisse wesentlich und machten somit Politik. Aus diesem Grund wird hier Zitaten aus den auflagenstärksten Medien breiter Raum gegeben. Von den Redakteuren der wichtigen Zeitungen wurden die Ereignisse völlig unterschiedlich dargestellt, je nach politischer Ausrichtung.

    Die sozialdemokratische „Arbeiter-Zeitung schrieb am Montag, den 31. Jänner 1927: „Ein grauenhafter Mord wurde gestern im Burgenland verübt: Es war keine Sonntagsrauferei, kein Geplänkel, kein Zusammenstoß; nein, es war ein Mord, ein wirklicher Mord, nach allen Regeln der Mordtechnik vorbereitet. Die sozialdemokratische Partei hatte für gestern in Schattendorf eine Versammlung einberufen. […] Um die Ruhe der gestrigen Versammlung zu verbürgen, waren daher Schutzbündler als Versammlungsschutz aus der Umgebung herangezogen worden. Die Soldaten des Soldatenauspeitschers (Hiltl, Anm.) hatten nun offenbar beschlossen, unter allen Umständen die sozialdemokratische Versammlung zu sprengen. Sie versammelten sich, einige Häuser vom sozialdemokratischen Versammlungsort entfernt, im Gasthaus des Josef Tscharmann, eines bekannten Frontkämpfers. Noch bevor die Versammlung begonnen hatte, fielen aus dem Frontkämpfergasthaus einige Schüsse auf die vor dem sozialdemokratischen Versammlungslokal angesammelte Menge. Die Folge war eine Panik. Hoffmann (der Referent, Anm.) und der Bürgermeister Grafl bemühten sich, im Verein mit den Vertrauensmännern die Menge zu beruhigen und sie zu bewegen, sich in das sozialdemokratische Versammlungslokal zu begeben. Während der Versammlung hörte man plötzlich ein regelrechtes Gewehrfeuer aus dem Gasthaus Tscharmann: Die Frontkämpfer hatten eine Abteilung des Schutzbundes, die von auswärts zu der sozialdemokratischen Versammlung gekommen war, unter Gewehrfeuer genommen: einem Kriegsinvaliden wurde der Schädel zertrümmert, ein achtjähriges Kind erschossen, ein sechsjähriges Kind schwer verwundet, vier Schutzbündler leichter durch die Schüsse verwundet. Nachdem der feige Mord geschehen war, flüchteten die Mörder von hinten aus dem Wirtshaus. Dieser feige, infame Mord darf nicht ungesühnt bleiben.

    Dieser Bericht war sehr einseitig und entsprach großteils nicht den Tatsachen. Ebenfalls sehr polemisch berichtete die christlichsoziale „Reichspost über die Vorfälle: „Im Burgenlande ist gestern Blut geflossen. Den Versuch der sozialdemokratischen Schutzbündler, die Frontkämpfer an ihrer erfolgreichen Werbetätigkeit im Burgenlande zu hindern und eine Versammlung, die für gestern angesagt war, zu vereiteln, müssen zwei Menschen mit ihrem Leben und mehrere andere mit Verletzungen verschiedensten Grades bezahlen. Dieses traurige Ereignis […] wird von gewissenlosen Gerüchteerstattern und einer noch gewissenloseren Sensationspresse, die ihrer Parteiarmee willig jeden Lügendienst leistet, zu einem perfiden Anschlag auf die öffentliche Meinung, zu einer frechen Irreführung der Bevölkerung und zu einer aufreizenden Stimmungsmache für die Partei der roten Schutzbündler benützt […]. Nicht dreißig, sondern nur einige wenige Schüsse wurden abgegeben, stellt die amtliche Aussendung fest. Nicht vier, sondern zwei Menschenleben, darunter das eines unbeteiligten Schulknaben, sind zu beklagen. Der Hergang des Zwischenfalles, die Schuldfrage, ist noch gar nicht geklärt und muß erst aufgehellt werden, sagt die amtliche Aussendung, aber die Gewissenlosigkeit der montäglichen Sensationspresse, die für sich keine andere Entschuldigung hat, als daß sie sich von gewissenlosen Informationen bedienen ließ, trug keine Bedenken, die Frontkämpfer als Mordanstifter und Arbeitermörder zu schmähen.

    Die liberale „Neue Freie Presse widmete am 31. Jänner 1927 ihre Titelseite dem Vorfall und versuchte, mäßigend zu wirken: „Das, was sich in dem kleinen Grenzorte Schattendorf abspielte, war kein Krieg im Frieden, sondern traurigster Wahnsinn und alle Politiker und Kreise, die es mit der Ruhe und Ordnung ernst nehmen, die sich ihrer Verantwortung bewußt sind, müssen nun alle Kräfte aufbieten, um die Wiederkehr ähnlicher Exzesse ein für allemal unmöglich zu machen. […] Um so eher kann man annehmen, daß die Sozialdemokraten dieses tiefbedauerliche Vorkommnis zu keiner Staatsaffäre aufbauschen werden, daß sie es unterlassen, Komplikationen zu schaffen, da doch die Pflicht, beruhigend zu wirken, unabweislich ist. Oesterreich befindet sich inmitten einer wirtschaftlichen Krise und die Arbeitslosigkeit wächst von Woche zu Woche. Da muß alles vermieden werden, was unmittelbar oder mittelbar dazu beizutragen vermöchte, das Vertrauen im Auslande zu gefährden und ein falsches Bild von den Zuständen in unserem Staate zu erwecken.

    Und das liberale „Prager Tagblatt berichtete am 1. Februar 1927: „Die Berichte des Schutzbundes und der Frontkämpfervereinigung widersprechen einander. […] Im niederösterreichischen Landtag stimmte der christlichsoziale Landeshauptmann Doktor Buresch der sozialdemokratischen Forderung zu, daß die Frontkämpferorganisationen im Burgenland, die anders geartet seien als die im übrigen Österreich, aufgelöst werden und die Verantwortlichen für den letzten Zwischenfall streng bestraft werden müßten.

    DIE SCHICKSALSWAHL VON 1927

    Zur bereits aufgeheizten Stimmung durch die zunehmende Radikalisierung von linken und rechten paramilitärischen Gruppierungen kam noch die Nervosität in den Parteien. So ist auch die Heftigkeit der Reaktionen zu verstehen. Die Vorfälle von Schattendorf fielen nämlich in eine politisch äußerst sensible und angespannte Zeit, in die Zeit des Wahlkampfes für die Nationalratswahl im April 1927. Diese war wegen der zunehmenden Spannungen im Parlament vorverlegt worden. Es ging dabei für die Sozialdemokraten um „alles oder nichts. Bei den letzten Wahlen hatten die Christlichsozialen nur sechs Prozentpunkte vor der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAP) gelegen, besaßen also nur eine hauchdünne Mehrheit und konnten nicht alleine regieren. Die Christlichsozialen bildeten eine Koalition mit der Großdeutschen Volkspartei und traten 1927 als Einheitsliste an („Heimatblock). Die Sozialdemokraten rechneten sich aufgrund der allgemeinen Unzufriedenheit und Not in der Wirtschaftskrise gute Chancen auf einen Sieg aus. Sie wollten unbedingt die Vorherrschaft der Christlichsozialen brechen und den verhassten Bundeskanzler Ignaz Seipel endlich stürzen, der 1926 zum zweiten Mal Bundeskanzler geworden war. Seipel war katholischer Theologe, Priester und prononcierter Antimarxist. Er galt den Sozialdemokraten schon allein deshalb als Feindbild, aber auch, weil er sich zuvor massiv für die Aufrüstung rechter Verbände, allen voran der Frontkämpfervereinigung, eingesetzt hatte. Seipel war 1924 als Bundeskanzler zurückgetreten, nachdem ein Attentat auf ihn verübt worden war. Die Arbeiterschaft hatte ihn dafür verantwortlich gemacht, dass durch die Einführung der Schillingwährung 1925 die Reallöhne gesunken und die Arbeitslosigkeit stark gestiegen waren. Allerdings war es Seipel wie erwähnt auch gelungen, die

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