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Schatten über der Villa Patumbah: Zweiter Fall für Josephine Wyss
Schatten über der Villa Patumbah: Zweiter Fall für Josephine Wyss
Schatten über der Villa Patumbah: Zweiter Fall für Josephine Wyss
eBook306 Seiten4 Stunden

Schatten über der Villa Patumbah: Zweiter Fall für Josephine Wyss

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Über dieses E-Book

Zürich, im März 1920: Josephine Wyss, seit Kurzem offiziell als Privatdetektivin tätig, schlägt sich mehr schlecht als recht mit kleinen Aufträgen durch. Durch Zufall erfährt sie von einem Mord in einem noblen Zürcher Herrenhaus: In der Villa Patumbah, einst mit Geld aus den Tabakplantagen auf Sumatra erbaut und seit einigen Jahren als Altersheim geführt, wird ein Bewohner erwürgt in seinem Zimmer aufgefunden. Die Tatumstände deuten darauf hin, dass der Mord etwas mit der Geschichte des extravaganten Hauses zu tun hat.

Da die Polizei auf der Stelle tritt, beauftragt die Heimleiterin die junge Ermittlerin, selbst Nachforschungen anzustellen. Dabei kommt Josephine erneut Detektiv-Wachtmeister Bader in die Quere, und auch sonst gibt es einige Leute, denen ihre Fragen ungelegen kommen. Plötzlich sieht sie sich nicht nur mit einem mysteriösen Verbrechen, dessen Spuren in die koloniale Vergangenheit weisen, sondern auch mit ihrer eigenen Geschichte konfrontiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberZytglogge Verlag
Erscheinungsdatum11. März 2024
ISBN9783729624207
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    Buchvorschau

    Schatten über der Villa Patumbah - Miriam Veya

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    1

    2

    3

    4

    5

    6

    7

    8

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    21

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    23

    Nachwort der Autorin

    Dank

    Über die Autorin

    Über das Buch

    Miriam Veya

    Schatten über der Villa Patumbah

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit ei‍n‍em Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

    Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:

    Dr. Adolf Streuli-Stiftung

    © 2024 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Thomas Gierl

    Korrektorat: Anna Katharina Müller

    Coverbild: Villa Patumbah, Stadt Zürich, Baugeschichtliches Archiv

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub: 978-3-7296-2420-7

    www.zytglogge.ch

    Miriam Veya

    Schatten über der

    Villa Patumbah

    Zweiter Fall für Josephine Wyss

    Roman

    empty

    1

    «Fräulein Zimmermann, zu Ihren Diensten, Madame», sagte die ältliche Frau, die vor der Tür stand.

    Josephine musterte sie von oben bis unten. Gouvernante, ging es ihr durch den Kopf, aber wie aus dem Bilderbuch. Die Frau trug ein langes, braunes Kleid aus festem Stoff, darüber einen Mantel in einem fast identischen Ton. Auch die Handschuhe hoben sich farblich nicht ab. Ein schlichter Hut, unter dem ein Mausgesicht hervorschaute, ordentlich frisierte Haare und blitzblank geputzte Schuhe rundeten das Bild ab. In der einen Hand hielt sie einen Regenschirm, in der anderen eine sperrige Tasche.

    «Es tut mir leid, Sie müssen sich in der Adresse geirrt haben», sagte Josephine.

    «Ich denke nicht. Sie sind doch Frau Josephine Wyss, oder?»

    «Ja, die bin ich. Aber was meinen Sie mit ‹zu Ihren Diensten›?»

    «Ich arbeite ab heute für Sie. Ich wurde für heute Samstag, den 13. März 1920, um neun Uhr bestellt, und hier bin ich, pünktlich auf die Minute.»

    Josephine schüttelte den Kopf. «Das muss ein Missverständnis sein.»

    «Ganz bestimmt nicht. Ich wurde bereits für die ersten drei Monate bezahlt. Haben Ihre Eltern Sie denn nicht informiert?»

    Ihre Eltern! Es konnte nichts Gutes heißen, wenn die dahintersteckten. «Was haben meine Eltern?»

    «Nun, Ihre werten Eltern hatten die Freundlichkeit, mich bei Ihnen anzustellen, um Ihnen den Haushalt zu führen. Laut ihrer Auskunft leben Sie seit Ihrem Einzug vor zwei Wochen ohne Bedienstete hier.»

    «Ja, das tue ich, und das ist auch in Ordnung so.»

    «Aber wer kocht und putzt denn für Sie?»

    «Das mache ich selbst.»

    Fräulein Zimmermann schaute sie mit großen Augen an. «Wie bitte?»

    «Ich kümmere mich allein um meinen Haushalt. Meine Eltern sind bestens informiert darüber.»

    «Aber Sie sind doch eine gebürtige Vonarburg? Die Tochter einer der angesehensten Familien der Stadt?»

    «Für eine Angestellte tun Sie Ihre Meinung sehr offen kund.»

    «Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht. Sie kümmern sich selbst um den ganzen Haushalt?»

    «Fräulein Zimmermann, so war doch Ihr Name? Ich denke, es geht Sie nichts an, wie und was ich mache. Bitte gehen Sie jetzt und richten Sie meinen Eltern aus, dass ich ausgezeichnet zurechtkomme.» Sie schob die Tür langsam zu. Doch Fräulein Zimmermann drückte von außen dagegen.

    «Frau Wyss, ich bitte Sie, schicken Sie mich nicht weg!»

    Josephine hielt inne. «Aber ich weiß wirklich nicht, was ich mit Ihnen anfangen soll.»

    «Wenn ich so direkt sein darf: Ich brauche diese Stelle. Mein vorheriger Arbeitgeber musste mich aus wirtschaftlichen Gründen entlassen, und es ist momentan sehr schwierig, eine Anstellung zu finden. Alle sind am Sparen. Seit dem Krieg wurden viele Haushalte verkleinert, und wir Gouvernanten, Hausmädchen und Diener stehen auf der Straße. Niemand will uns mehr. Wenn das so weitergeht, werden wir alle armengenössig.» Ihre Stimme zitterte.

    Josephine musterte sie, und erst jetzt fiel ihr auf, dass ihre zwar sauberen Schuhe abgenutzt waren, ihr Hut schon bessere Tage gesehen hatte und ihr rechter Handschuh ein kleines Loch aufwies. Was sollte sie tun? Es kam überhaupt nicht in Frage, dass diese Frau hier wohnte und ihr den Haushalt besorgte. Was hatten sich ihre Eltern nur dabei gedacht? Wobei, typisch war es schon, sie konnten sie einfach nicht in Ruhe lassen. Und seit sie hier im Haus ihres Schwagers wohnen durfte, witterten sie natürlich die Chance, dass sie in die gehobenen Kreise zurückkehren würde. Oder war sie das sowieso schon? Das Haus stand am Parkring im Zürcher Enge-Quartier, einer noblen Adresse.

    «Was sagen Sie, Frau Wyss?», unterbrach Fräulein Zimmermann ihre Gedanken. «Ich weiß wirklich nicht, was ich sonst machen soll. Mein Zimmer, das ich vorübergehend gemietet hatte, habe ich gekündigt. Ich bin heute ausgezogen, da ich davon ausging, dass ich nun hier wohnen würde.»

    Das wurde ja immer besser! Wenn sie die Frau wegschicken würde, landete diese womöglich in der Gosse. «Fräulein Zimmermann, es tut mir leid, ich weiß nicht ...»

    Ein lautes Bellen drang von der Straße zu ihnen, und ein grau-weißes Fellknäuel sprang am schmiedeeisernen Zaun, der den Garten umgab, hoch.

    «Alma!», rief Josephine, stürmte aus der Tür und ließ das verdutzte Fräulein Zimmermann stehen. Sie öffnete das Tor, und der Bobtail sprang wie verrückt um sie herum. «Was machst du denn hier? Bist du ganz allein?»

    «Natürlich ist sie nicht allein.» Charlotte, ihre Schwester, kam auf dem Gehsteig auf sie zu. «Wir waren gerade auf dem Heimweg, da muss sie dich gehört haben.»

    Die beiden Schwestern umarmten sich, und Charlotte fragte: «Mit wem hast du denn gesprochen?» Sie spähte durch die Gitterstäbe des Zauns zur Haustür. «Ach, ist das Fräulein Zimmermann?»

    «Du kennst sie?»

    Charlottes Wangen nahmen einen rötlichen Farbton an. «Also kennen wäre übertrieben, aber ... nun, ich weiß von ihr.»

    «Charlotte, was hat das zu bedeuten? Hast du irgendetwas damit zu tun, dass diese Frau bei mir einziehen will? Steckst du etwa mit Mama und Papa unter einer Decke?»

    «Jetzt reg dich nicht gleich auf. Hast du sie nicht einmal ins Haus gebeten?»

    Sie schauten beide zu Fräulein Zimmermann, die unschlüssig auf der obersten Treppenstufe stand und sich auf ihrem Schirm abstützte.

    «Du hast wirklich keine Manieren», Charlotte fasste Josephine am Arm und zog sie in Richtung Haus. Alma trottete hinter ihnen her.

    «Fräulein Zimmermann, mein Name ist Charlotte Cramer, ich bin Frau Wyss’ ältere Schwester und wohne mit meiner Familie nebenan.»

    «Sehr erfreut», Fräulein Zimmermann machte einen kleinen Knicks.

    «Charlotte, was mischst du dich jetzt ein? Es ist alles in bester Ordnung», Josephine schob sich an ihrer Schwester vorbei und stellte sich vor die Eingangstür.

    «Ganz offensichtlich nicht. Sonst würdest du Fräulein Zimmermann nicht einfach hier draußen in der Kälte stehen lassen.»

    «Es ist Mitte März, so kalt ist es nun auch wieder nicht.»

    Charlotte ignorierte sie und wandte sich an Fräulein Zimmermann: «Treten Sie doch bitte ein, dann können wir alles in Ruhe besprechen.» Sie schob die Frau an Josephine vorbei ins Haus.

    «Charlotte!» Es blieb ihr nichts anderes übrig, als den beiden in den Salon zu folgen, und auch Alma schlich sich hinter ihr durch die Tür.

    «Setzen wir uns. Josephine, bestell uns doch Tee, dann können wir uns besser entspannen, und Fräulein Zimmermann kann sich aufwärmen.»

    Josephine schaute ihre Schwester nur spöttisch an.

    «Was guckst du so?»

    «Ich überlege nur gerade, bei wem ich Tee bestellen soll. Siehst du irgendwo einen Kellner?»

    Charlotte verzog den Mund. «Na siehst du? Du brauchst Fräulein Zimmermanns Unterstützung!»

    «Liebe Schwester, ich kann sehr wohl Wasser aufsetzen, ich habe dies zehn Jahre lang täglich getan, falls du dich daran erinnern kannst.»

    «Bitte, machen Sie sich keine Umstände meinetwegen», meldete sich Fräulein Zimmermann zu Wort, «wir können dieses Gespräch auch ohne Tee führen. Ich wäre wirklich froh, wenn sich diese Situation rasch klären ließe.»

    Die Schwestern schauten sie erstaunt an. Eine solche Direktheit waren sie von einer Angestellten nicht gewohnt.

    «Gut, setzen wir uns», übernahm Charlotte wieder das Zepter.

    «Also, was geht hier vor?», fragte Josephine, «ich scheine die Einzige zu sein, die nicht weiß, worum es geht.»

    «Josephine, Mama und Papa machen sich Sorgen um dich. Natürlich sind sie sehr erleichtert, dass du hier in Emils Haus wohnen kannst und nicht mehr in Freds Büro übernachten musst. Emil ist mein Mann, Emil Cramer», erklärte sie der Gouvernante, «und Fred Wyss war der Mann meiner Schwester. Er ist leider letztes Jahr bei einem Verkehrsunfall verstorben.» Sie stockte kurz und fuhr dann an Josephine gewandt fort: «Aber du kannst hier nicht allein wohnen, das gehört sich nicht für eine Frau. Mindestens eine Hausangestellte muss hier im Haus sein, sonst geht das nicht. Du weißt doch, dass das auch Emils Wunsch ist. Und jetzt, wo Alma bei uns lebt, fühlst du dich bestimmt auch oft einsam.»

    «Nein, überhaupt nicht. Ich bin den ganzen Tag im Büro am Arbeiten und treffe dadurch viele Leute. Abends bin ich mit Klara unterwegs oder einfach froh, wenn ich niemanden mehr sehen muss. Ich bin nicht einsam.»

    Charlotte faltete die Hände. Fräulein Zimmermann blickte nervös zwischen ihnen hin und her.

    «Wenn ich Alma zurücknehme, darf ich dann allein hier wohnen?», fragte Josephine und lehnte sich nach vorne.

    «Nein, natürlich nicht! Es geht ja nicht um den Hund. Wir haben uns doch geeinigt, dass er bei uns besser aufgehoben ist, wegen der Kinder und des Personals, die sich um ihn kümmern. Du wolltest es doch so, damit du arbeiten gehen kannst.» Charlotte zeichnete Gänsefüßchen in die Luft.

    «Was meinst du mit ‹arbeiten›?», Josephine ahmte die Geste ihrer Schwester nach.

    Fräulein Zimmermann räusperte sich und unterbrach die beiden: «Entschuldigen Sie bitte, aber ich müsste jetzt dann schon wissen, ob ich nun hierbleiben kann oder nicht. Wenn nämlich nicht, muss ich mir schleunigst eine Unterkunft suchen, sonst schlaf’ ich heute Nacht unter der Brücke.»

    «Keine Sorge», sagte Charlotte schnell, «Sie bleiben hier.»

    «Sehr gut, dann zeigen Sie mir bitte mein Zimmer, damit ich ablegen kann. Und dann mache ich Ihnen den gewünschten Tee. Falls Sie das noch möchten.»

    «Ganz bestimmt nicht!», widersprach Josephine, «weder, dass Sie auf Dauer bleiben, noch den Tee.» Sie überlegte. «Aber heute Nacht können Sie bleiben, unter der Brücke schlafen lasse ich Sie trotz allem nicht.»

    «Gut, dann haben wir das geregelt.» Charlotte stand auf, «ich muss jetzt auch los, ich habe schon viel zu viel Zeit mit diesem Unsinn verloren. Ich komme morgen wieder vorbei und sorge dafür, dass du zur Vernunft kommst.» Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer, Alma folgte ihr brav. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Josephine und Fräulein Zimmermann sahen sich unschlüssig an.

    Der Duft nach Kaffee stieg Josephine in die Nase, als sie am nächsten Morgen die Tür ihres Schlafzimmers öffnete und in den Flur hinaustrat. Von unten drang lautes Klappern und das Klirren von Gläsern zu ihr herauf. Machte sich Fräulein Zimmermann etwa, ohne sie zu fragen, in ihrer Küche breit? Eigentlich hatte sie gehofft, dass die Frau das Haus bereits verlassen hätte. Sie eilte die Treppe hinunter und öffnete resolut die Tür zur Küche. Fräulein Zimmermann, die am Herd stand, fuhr herum.

    «Da sind Sie ja, guten Morgen, Frau Wyss. Kaffee?» Sie streckte ihr eine Tasse entgegen. Josephine war so verdutzt, dass sie ihr, ohne zu überlegen, die Tasse aus der Hand nahm.

    «Haben Sie gut geschlafen, Madame?» Sie wartete keine Antwort ab und fuhr fort: «Das nehme ich an, so lange, wie Sie in den Federn gelegen haben. Es ist ja schon seit zwei Stunden hell. Aber wie ich sehe, sind Sie bereits angezogen. Brauchen Sie dazu keine Hilfe?»

    «Nein, Fräulein Zimmermann, ich kann mich allein anziehen.» Josephine setzte sich an den Küchentisch.

    «Möchten Sie den Kaffee und Ihr Frühstück nicht lieber im Esszimmer einnehmen? Es ist alles bereit.»

    «Ich trinke meinen Kaffee immer hier in der Küche und ein Frühstück brauche ich nicht. Ich nehme ein Stück Brot mit und esse es im Büro.»

    «Im Büro?»

    «Ja, im Büro.»

    «Und das lässt Ihr Chef zu?»

    «Ich habe keinen Chef, ich arbeite im ehemaligen Büro meines Mannes.»

    «Ja, aber was machen Sie denn da?»

    Josephine stellte die Tasse auf den Tisch. Fräulein Zimmermann hatte anscheinend keine Hemmungen, sie auszufragen.

    «Wenn Sie das unbedingt wissen müssen: Mein Mann hatte eine Auskunftsstelle für vermisste Personen, Flüchtlinge und Kriegsgefangene. Nach seinem Tod letzten Herbst habe ich mich entschieden, das Büro zu behalten und als Privatdetektei weiterzuführen.»

    «Eine Privatdetektei? Also was soll denn das heißen? Sind Sie etwa Detektivin?»

    «Ja, genau, Privatdetektivin. Und stellen Sie sich vor, ich bin allerlei Reaktionen auf meinen Beruf gewohnt, und meistens sind es keine positiven. Also behalten Sie Ihre Meinung für sich. Was mich viel mehr interessiert, ist, wann Sie mein Haus wieder zu verlassen gedenken?»

    Die Gouvernante – eben noch aufgeweckt und geschäftig – neigte jetzt den Kopf und sah Josephine unter ihrer Haube hervor flehend an. «Frau Wyss, ich weiß, dass ich Ihnen ungelegen komme, aber bitte, schicken Sie mich nicht weg. Sie können doch wirklich jemanden gebrauchen, der das Haus in Schuss hält.» Sie fuhr mit dem Zeigefinger über das Regal neben dem Herd und zeigte Josephine die fettige Spur, die an ihrer Fingerbeere klebte. Noch bevor Josephine etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: «Was halten Sie davon, wenn ich die drei Monate, für die ich ohnehin schon bezahlt bin, bei Ihnen bleibe und mich nützlich mache? Wenn Sie nach dieser Zeit immer noch der Meinung sind, dass Sie mich nicht brauchen, suche ich mir eine andere Stelle.»

    Josephine nahm einen Schluck Kaffee und rutschte auf dem Stuhl hin und her.

    «Dieses Haus gibt doch so viel zu tun. Vor allem, da Sie arbeiten gehen.» Erwartungsvoll schaute sie sie an. «Was sagen Sie?»

    Auf keinen Fall wollte Josephine jemanden bei sich im Haus haben, vor allem niemanden, den sie nicht kannte. Und sicher keine Angestellte. Als sie noch mit Fred zusammen in ihrer Wohnung in Zürich-Wiedikon gelebt hatte, hatte sie es immer genossen, dass es nur sie beide dort gab. Und Alma natürlich. Niemand, der einfach ins Zimmer kam, niemand, der sie störte. Ganz anders als damals in ihrem Elternhaus, wo dauernd Leute um sie herum gewesen waren. Aber konnte sie diese Frau einfach vor die Tür stellen? Sie hatte keine Arbeit und kein Dach über dem Kopf und natürlich hatte sie recht, dass es in der heutigen Zeit schwierig war, etwas zu finden. Der Krieg hatte seine Spuren auch in der Schweiz hinterlassen.

    Sie schob den Stuhl zurück und stand auf.

    «Einen Monat», sagte sie, «und ich empfehle Ihnen, sich so bald wie möglich nach einer anderen Arbeit umzuschauen.»

    2

    Klara schnappte sich zwei Champagnergläser vom Tablett, das ein Diener an ihnen vorbei balancierte. «Hübsch siehst du aus», sagte sie und reichte Josephine eines der Gläser. «Mein Kleid steht dir wirklich phänomenal.»

    «Es ist aber unglaublich unbequem.»

    «Na ja, Schönheit muss leiden!»

    «Eigentlich leide ich so schon genug.»

    Ihre Freundin grinste. «Ach komm, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Und gratis Trinken und Essen ist doch wunderbar.»

    Josephine schaute sich im großzügigen Salon ihrer Eltern um. Er wimmelte nur so von elegant gekleideten Menschen.

    «Gratis? Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich einen ziemlich hohen Preis dafür zahle. Einladung der feinen Gesellschaft bei meinen Eltern. Das wollte ich eigentlich nie mehr. Aber ja, ich hätte wissen müssen, dass Emil mir das Haus nicht einfach ohne Gegenleistung geben würde. Sein Plan – und damit natürlich auch Charlottes – war von Anfang an, dass ich wieder mehr Kontakt mit meinen Eltern habe und in den Schoß der Familie zurückkehre. Dass sie mich aber gleich so unter Druck setzen, überrascht mich schon. Ich bin doch gerade erst eingezogen.»

    «Na, dann hoffen wir, dass du mit deiner Anwesenheit heute Abend deine Pflicht wieder für eine Weile erfüllt hast.»

    «Da wäre ich mir nicht so sicher», Josephine seufzte, «aber wenigstens bist du auch hier.» Sie drückte den Arm ihrer Freundin.

    «Aber selbstverständlich, ich muss doch ab und zu in Erinnerungen an unser früheres Leben schwelgen. Damit ich meine Freiheit dann wieder voll und ganz genießen kann.»

    «Stimmt! Vielleicht ist es ganz gut für mich, mir den goldenen Käfig von Zeit zu Zeit von innen anzuschauen. Dann weiß ich wieder, dass es sich gelohnt hat, daraus auszubrechen.»

    «Apropos ausbrechen: Wie lebt es sich eigentlich in deinem neuen Haus? Fühlst du dich nicht allein in diesen vielen Räumen?»

    «Schön wär’s, wenn ich allein wäre.»

    «Was meinst du damit? Hat Emil noch jemand anderen einquartiert? Er wird doch kaum eine weitere Verwandte haben, die ihre Bleibe verloren hat.»

    «Nein, bestimmt nicht. So ein Pech hab’ wohl nur ich», antwortete Josephine zerknirscht.

    Klara legte den Arm um sie. «Oder ist Alma wieder bei dir eingezogen?»

    «Das auch nicht. Obwohl ich sie schon sehr vermisse. Aber bei meinen Neffen und Nichten hat sie sicher die interessantere Gesellschaft als bei mir. Und sie kriegt ihren Auslauf und regelmäßig Futter. Nein, ich wohne seit Samstag mit Fräulein Zimmermann zusammen.»

    «Fräulein Zimmermann? Sollte ich die kennen?»

    «Fräulein Zimmermann ist meine neue Gouvernante.»

    «Gouvernante?»

    Josephine erzählte ihrer Freundin von ihrem ersten Zusammentreffen mit der Hausangestellten und wie sie sich schließlich darauf geeinigt hatten, dass sie vorerst bei ihr wohnen konnte.

    «Und das haben deine Eltern eingefädelt?»

    «Du kennst sie doch. Sie können es nicht lassen. Charlotte und Emil waren auch eingeweiht, und meine Schwester wollte unbedingt, dass ich dieses Angebot annehme. Mal schauen, was ich mit diesem Fräulein anfange. Ich hoffe, sie sucht sich wirklich schnell eine neue Anstellung. Bei mir kann sie auf keinen Fall bleiben. Was soll ich mit einer Gouvernante?»

    Klara lachte auf. «Tja, das kann ich mir auch nicht vorstellen! Aber anscheinend zahlst du tatsächlich einen happigen Preis dafür, kostenfrei in Emils Haus wohnen zu können.»

    «Ja, eben. Aber natürlich bin ich meinem Schwager sehr dankbar. Im Büro zu wohnen war auf die Dauer doch sehr anstrengend. Und kalt.»

    Josephine ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Viele Leute waren gekommen, wie immer, wenn Herr und Frau Vonarburg einluden. Das ließ sich niemand entgehen, das Sehen-und-gesehen-Werden in der Villa im vornehmen Zürcher Hottingen-Quartier. Zwischen den illustren Gästen wuselten unzählige Diener herum, welche die edlen Herrschaften mit erlesenen Getränken und Häppchen versorgten. Normalerweise hielten ihre Eltern nichts von neumodischen Dingen wie eben solchen Empfängen, an denen es nur Kleinigkeiten zu essen gab und kein richtiges Abendessen. Doch als alt und verstaubt wollten sie auch nicht gelten. Darum empfingen sie ihre Gäste heute lediglich im Salon, das Esszimmer mit dem großen Tisch und den imposanten Gemälden an den Wänden blieb verwaist. Auch Charlotte und Emil hatten sich ihr gegenüber abfällig über diese neue Art von Anlässen geäußert, bei denen man nie wusste, ob man stehen oder sich setzen soll, und von denen man immer hungrig nach Hause ging. Doch natürlich mussten sie alle hin, und Josephine war leider keine gute Ausrede eingefallen, um zu Hause bleiben zu können.

    Auch wenn es nur ein informeller Empfang war, hatten die Damen ihre schönsten Kleider angezogen und sich mit Schmuck dekoriert, der nur so funkelte, wenn das Licht der Kronleuchter darauf fiel. Auch die Herren waren herausgeputzt, die Schnäuze getrimmt und die Haare geglättet. Doch so elegant auch alle aussahen, wirkten sie doch altmodisch und steif in ihrer Vorkriegsmode. Sie hatten augenscheinlich noch nichts davon gehört, dass die Röcke jetzt kürzer und die Taillen tiefer getragen wurden. Geschweige denn, dass die Damen in Paris und London Fransen, Federn und lange Perlenketten trugen. Und kurze Pagenschnitte, genau solche, wie Klara ihn seit den Ereignissen im letzten Herbst trug. Sie hatte damals entschieden, dass das Leben zu kurz war, um sich mit langen Haaren herumzuschlagen. Die Blicke, die Klara damit auf sich zog, zeigten, dass die Zürcher Gesellschaft noch nicht bereit war für solch modische Extravaganzen.

    Sie und Josephine sahen hier sowieso ein bisschen aus wie von einem anderen Stern. Das Kleid, das Klara ihr für heute Abend geliehen hatte, war aus glänzendem, grünem Stoff und über und über mit Pailletten bestickt. Es endete kurz über ihren Knöcheln und ließ ihre Schultern und Arme frei. Immerhin hatte Klara ihr erlaubt, lange Handschuhe anzuziehen, so fühlte sie sich nicht ganz so nackt. Die Haare hatte sie ihr in aufwändiger Arbeit gewellt und kunstvoll um den Kopf drapiert. Klara stand ihr mit ihrer eigenen Aufmachung natürlich in nichts nach – das wäre ihrer Freundin nie in den Sinn gekommen. Mit ihrem fast identisch geschnittenen Kleid in Dunkelrot sahen sie beide aus wie einer Modezeitschrift entsprungen.

    Josephine selbst besaß nichts von all diesen Dingen, weder Abendkleider noch Schmuck oder Ähnliches. Dazu reichte das Geld, das sie verdiente, nicht. Und auch vom bescheidenen Vermögen ihres Mannes war durch unglückliche Umstände nichts übriggeblieben. Aber das machte ihr nichts aus, am wohlsten fühlte sie sich sowieso in ihren bequemen und praktischen Alltagskleidern. Immer häufiger trug sie auch Hosen.

    Eine der eleganten Damen trat jetzt zu ihnen heran und sagte strahlend: «Fräulein Vonarburg, was für eine Freude, Sie hier zu sehen.»

    War das nicht die Bekannte ihrer Eltern, mit der sie letztes Jahr einen sehr unangenehmen Abend hatte verbringen müssen? Wie hieß sie gleich noch mal? «Frau Zbinden», sagte sie dann laut.

    «Sehr

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