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DIE WELTEN DES KAI RIEDEMANN: Die Welten der SF 3
DIE WELTEN DES KAI RIEDEMANN: Die Welten der SF 3
DIE WELTEN DES KAI RIEDEMANN: Die Welten der SF 3
eBook683 Seiten8 Stunden

DIE WELTEN DES KAI RIEDEMANN: Die Welten der SF 3

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Über dieses E-Book

Kai Riedemann, geboren 1957 in Elmshorn, studierte Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft und schloss sein Studium 1987 mit dem Dr. phil. ab. Sein Interesse für unterhaltende Literatur ließ ihn ein besonderes Dissertationsthema finden: die Comicserie »Peanuts« des Amerikaners Charles M. Schulz. Er ging in den Journalismus und arbeitet seit vielen Jahren für eine bekannte TV-Programmzeitschrift.

Die notwendige Detailgenauigkeit wirkt sich auch auf seine Arbeit als Kurzgeschichtenautor aus. In den Anfangsjahren konzentrierte sich Riedemann zunächst auf Science-Fiction-Szenarien – Folge einer intensiven Lektüre, die zum Selbermachen animierte. Die Themen Fantastik und Märchen folgten im Abstand von etwa einem Jahrzehnt.

Kai Riedemann hat einen sicheren Blick für Details, vermeidet unnötige gedankliche Umwege und passt seinen Stil geschickt und gekonnt dem jeweiligen Genre an: hier Science-Fiction, da Fantastik und dort Märchen. Eine Kunst, die viele seiner Kollegen in der breiten Themenpalette der fantastischen Literatur in dieser Form nicht beherrschen.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum23. Feb. 2024
ISBN9783957657343
DIE WELTEN DES KAI RIEDEMANN: Die Welten der SF 3

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    Buchvorschau

    DIE WELTEN DES KAI RIEDEMANN - Kai Riedemann

    Zwei Schritte ins Chaos

    (1977)

    Jedes Mal, wenn ich vor ihrem Haus stehe, erfasst mich eine unerklärliche Unruhe. Es ist nur ein Gefühl, ein Unbehagen, ausgehend von den grauen Mauern, der massigen Eichentür, den verwinkelten Erkern, den stumpfen Fensterscheiben und den Bäumen und Sträuchern des Gartens, die kaum Sonnenlicht durchlassen. Ich rede mir ein, dass dieses merkwürdige Kribbeln im Bauch nichts anderes ist als die Folge gewisser alter Filme, die ich mit Vorliebe anschaue. Ich gebe Alfred Hitchcock die Schuld, aber so sehr ich auch über diesen Gedanken ins Schmunzeln gerate, ein Rest Angst bleibt.

    Dagmar, ganz ehrlich, du passt einfach nicht in dieses Spukschloss. Kopfschüttelnd stehe ich vor der schweren Eichentür, blicke mich noch einmal um, mustere Dagmars Porsche Turbo in der Einfahrt, dann lasse ich den altmodischen Löwenkopfklopfer gegen das verwitterte Holz der Tür donnern. Es klingt gespenstisch, irgendwie unwirklich. Eine Klingel wäre wir lieber gewesen.

    Im Inneren des Hauses bleibt es still. Dabei ist es genau neunzehn Uhr, die verabredete Zeit, und Dagmar ist gewöhnlich die Zuverlässigkeit in Person. Ich klopfe ein zweites Mal, und als sich daraufhin immer noch nichts rührt in der alten Villa, trete ich mit gemischten Gefühlen ein. Die Haustür ist sowieso stets unverschlossen.

    Innen wirkt das Gemäuer noch unheimlicher. Von den hohen, leicht gewölbten Decken hängen Kronleuchter herab, die Wände sind mit geschmacklosen Ölgemälden, Jagdtrophäen und silbernen Kerzenhaltern bedeckt. Die Biedermeiermöbel in der Empfangshalle machen den Anblick nicht freundlicher. Eigentlich ein Wunder, dass Dagmar in diesem Museum leben kann, ohne einen seelischen Knacks zu bekommen.

    Ihr Vater ist so eine Art Erfinder. Das ist ein eher befremdlicher Ausdruck, aber er passt. Professor Wegener arbeitet nicht in einem Forschungslabor oder einem Industriekonzern, sondern in eben diesem Spukschloss. Allein, ohne Assistenten, ohne finanzielle Unterstützung. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Einerseits scheint seine Lebens- und Arbeitsweise auf eine, neutral ausgedrückt, leichte Verwirrtheit hinzudeuten, andererseits macht er auf mich einen durchaus vernünftigen Eindruck. Und Dagmar fährt einen Porsche Turbo, was interessante Rückschlüsse auf die Erfolge des Professors zulässt. Zumindest die finanziellen.

    Die unteren Räume der Villa scheinen menschenleer zu sein, in das Arbeitszimmer des Professors wage ich mich lieber nicht. Also steige ich beunruhigt die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock, in dem Dagmars Zimmer liegt. Hier beginnt eine andere Welt, gewissermaßen eine Oase in der bedrückenden Fremdheit des Hauses. Dagmar hat ihr Zimmer so eingerichtet, wie man das von einer jungen, lebenslustigen Studentin erwartet: Die Hälfte des Raums wird von einer Liegewiese eingenommen, daneben gibt es natürlich noch Fernsehgerät, Musikanlage, moderne Grafiken an den lila getünchten Wänden und teure Designerlampen. Auf dem Schreibtisch liegen neben ihrem Computer die Aufzeichnungen von den letzten Seminarsitzungen, die wir durcharbeiten wollten.

    »Dagmar?«, rufe ich laut, und das Echo meiner Stimme hallt durch die ganze Villa. Unwillkürlich muss ich daran denken, welch atemberaubende Akustik das bei unseren Feiern zu geben pflegt. Heute aber dringt nur das Ticken der alten Pendeluhr in der Empfangshalle durch die Stille. Ich gehe wieder zurück ins Erdgeschoss und bleibe unschlüssig vor dem Arbeitszimmer Professor Wegeners stehen. Manchmal soll er sich tagelang in seine Experimente vertiefen und ausgesprochen unhöflich reagieren, wenn man ihn dabei stört. Andererseits finde ich das Verschwinden Dagmars derart beunruhigend, dass ich nicht einfach ohne weitere Nachforschungen nach Hause fahren kann.

    Nach kurzem Zögern öffne ich die schwere Tür, blicke vorsichtig in den dahinterliegenden Raum – und beginne ernsthaft an meinem Sehvermögen zu zweifeln. Insgeheim habe ich mit einem dunklen, verräucherten Alchemistenlabor gerechnet, mit Reagenzgläsern, Erlenmeierkolben voller sprudelnder Flüssigkeiten, mit Destillatoren, Versuchsanordnungen, mit Ratten und weißen Mäusen in Käfigen, mit einem schwarzen Raben auf einem Totenschädel. Stattdessen blinken mir die Kontrollleuchten eines Elektronenrechners entgegen. Messuhren, Diagramme, Schalter, Regler, Terminals, Apparaturen, deren Sinn ich nicht einmal mit größter Fantasie zu entschlüsseln vermag. Diese Ausstattung muss Millionen verschlungen haben.

    »Du darfst nicht nur das Äußere sehen«, hat Dagmar mal gesagt, als wir über ihren Vater sprachen, und ich habe damals gelacht. Weil ich einen Forscher, der Tag und Nacht in einer Spukvilla an geheimen Experimenten herumwerkelt, einfach nicht ernst nehmen konnte. Ich habe mich geirrt. Aber damit wird das Geheimnis, das in dieser Villa verborgen liegt, nur noch größer.

    Nachdenklich gehe ich an den elektronischen Geräten entlang, sorgsam darauf achtend, keinen Schalter, keinen Kontrollregler, keine Terminaltaste zu berühren. Wozu mag das alles dienen? Vielleicht steht der Professor doch mit einem wissenschaftlichen Institut in Verbindung?

    Plötzlich setzt mein Herzschlag für Sekunden aus, mir wird kalt, eiskalt. Denn neben einem mit rätselhaften Kontrollleuchten übersäten Pult liegt eine regungslose Gestalt.

    Es ist ein Mann, groß, schlank, kahlköpfig. Er liegt auf dem Rücken, die Arme und Beine in unnatürlicher Verkrampfung ausgestreckt, die Augen weit geöffnet und gegen die weiße Decke gerichtet. Er kann höchstens zwanzig Jahre alt sein, und in seiner Brust steckt ein antiker spanischer Dolch. Ein Dolch, der mir nur allzu bekannt vorkommt. Dagmar hat ihn mir erst vor wenigen Tagen gezeigt. In der Waffensammlung ihres Vaters.

    Mit klopfendem Herzen haste ich ins Wohnzimmer, wo der Professor seine historischen Waffen in einer verschlossenen Glasvitrine aufbewahrt. Meine Vermutung wird zur Gewissheit: Die Vitrine steht weit offen, mehrere Messer und Dolche fehlen. Deutlich zeichnen sich noch ihre Umrisse auf dem roten Samtbelag ab. Eine dieser primitiven und doch gefährlichen Waffen steckt jetzt in der Brust des Mannes im Labor. Die anderen …

    Ich denke an Dagmar. Wie sie damals zum ersten Mal vor mir stand. Ihre dunklen Augen hatten mich über den Rand der Brille hinweg gemustert, der Wind hatte ihre kurzen schwarzen Haare zerzaust. Sie hatte mich sofort auf unerklärliche Weise fasziniert, obwohl sie nicht unbedingt als hübsch bezeichnet werden kann. Wir besuchten dann zusammen ein Linguistikseminar und lernten uns so näher kennen. Und jetzt? Jetzt stehe ich hier in ihrem Haus, nur wenige Schritte entfernt liegt ein Toter in einem futuristischen Labor, und von Dagmar selbst fehlt jede Spur. Ich frage mich, ob ich die Polizei verständigen soll.

    Unbewusst nehme ich einen weiteren Dolch aus der Vitrine, und das Gefühl der kalten Waffe in meiner Hand verschafft mir eine erstaunliche Beruhigung. Ich betrete wieder das Labor. Der Tote liegt natürlich unverändert neben dem Instrumentenpult. Es fällt mir nicht schwer, den Weg des Mannes durch den Raum zu verfolgen. Die Blutspuren sind unübersehbar. Sie führen zunächst zur gegenüberliegenden Seite des Labors, biegen dann nach rechts ab und enden vor einer scheinbar fugenlosen glatten Wand. Könnte es hier eine Art Geheimtür geben? Prüfend streiche ich mit der linken Hand über das unerwartet kühle Material, aber es gibt weder haarfeine Fugen noch versteckte Öffnungsmechanismen. Irgendwie muss der Kahlköpfige trotzdem an genau dieser Stelle den Raum betreten haben. Eine andere Möglichkeit lassen die Spuren nicht zu.

    Ich klopfe mit der flachen Klinge des Dolchs gegen die Wand, und die gleitet im selben Moment lautlos zur Seite. Sie gibt den Blick frei auf eine undurchdringliche Finsternis. Ein Schwarz, das man nicht beschreiben kann, samtener, tiefer, ungreifbarer. Als stände man vor dem absoluten Nichts.

    Plötzlich glaube ich, Stimmen zu hören. Leise nur, wie aus weiter Ferne, aber ich bin mir sicher, Dagmars Rufe herauszuhören. Ängstlich, flehend, verzweifelt. Daneben andere Stimmen, tiefer, unverständlich, hart. Dazu ein dumpfes Grollen wie das Nahen eines Gewitters. Ich zögere, die entscheidenden Schritte zu wagen, schließlich weiß ich nicht im Mindesten, was mich auf der anderen Seite der Finsternis erwartet. Etwas unsagbar Fremdes, Unwirkliches, etwas, das sich vermutlich meinem durchaus nicht geringen Vorstellungsvermögen entziehen muss. Dann denke ich wieder an Dagmar. Ich sehe sie vor mir, und mir wird zum ersten Mal richtig klar, dass ich mehr für sie empfinde, als ich wahrhaben wollte. Viel mehr.

    Also werfe ich noch einen letzten Blick auf das hinter mir liegende Labor und den unbekannten Toten, dann gehe ich in Nichts.

    Ein leichtes Schwindelgefühl ist alles, was ich spüre. Vor mir liegt das mittlerweile vertraute Labor. Auch dort scheint sich auf den ersten Blick wenig verändert zu haben. Die Elektronenrechner, Messinstrumente, Schalter, Skalen, Kontrollpulte stehen weiterhin wie Kulissen für einen fantastischen Film an den Wänden – doch sie sind alle tot. Während eben noch verwirrende Zahlen blinkten und Zeiger zitterten, liegt die ganze komplizierte Apparatur jetzt still. Hastig blicke ich mich um. Aber meine Befürchtungen sind unbegründet, das schwarze Loch in der Wand existiert weiterhin.

    Kopfschüttelnd trete ich an das Kontrollterminal zu meiner Rechten und fahre mit einem Finger über die Schalter. Zentimeterdick liegt Staub auf den Armaturen. Wie ist das möglich? Noch vor wenigen Augenblicken … Da fällt mein Blick auf die Stelle, an der eben noch der Tote gelegen hat, und ich beginne zu begreifen. Dort, neben dem Instrumentenpult, liegt ein in verblichene Kleidungsreste gehülltes Skelett.

    Mit zitternden Händen hebe ich den alten spanischen Dolch auf, der immer noch zwischen den Rippen des Mannes steckt. Hauchdünn bedeckt eine Rostschicht die noch vor wenigen Minuten blanke Klinge. Es gibt nur eine Erklärung für all das, eine einfache, wenn auch unglaubliche: Ich befinde mich in der Zukunft. Dieses Loch aus erschreckendem Schwarz ist eine Brücke zwischen den Zeiten. Und ich habe ahnungslos den verhängnisvollen Schritt getan, weil Dagmar …

    Dagmar! Es durchfährt mich siedendheiß. Die Stimme. Ihre Stimme. Dagmar muss sich irgendwo in dieser Zeit, in diesem Haus aufhalten. Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte in die Zukunft versetzt. Und in Gefahr.

    Den Griff des Dolchs fest umklammert, trete ich hinaus in die große Empfangshalle. Auch hier liegt zentimeterhoher Staub, auf den ausgestopften Elchköpfen, der Standuhr, den Biedermeiermöbeln. Die Wendeltreppe knarrt erbärmlich, als ich versuche, ins obere Stockwerk zu gelangen. Auch hier das gleiche Bild. Dagmars Zimmer ist zwar unverändert, sogar die Aufzeichnungen, die wir durcharbeiten wollten, liegen noch ausgebreitet auf dem Schreibtisch. Aber sie sind vergilbt und brüchig, die Tinte im Füllfederhalter ist eingetrocknet. Sollte das Haus etwa in den letzten Jahren nicht mehr betreten worden sein?

    Dann liegt wieder dieses unwirkliche Grollen in der Luft, dumpf, aber durchdringend in der Stille der Villa. Dagmar? Beunruhigt stürze ich die Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss, durch das Esszimmer, ins Wohnzimmer, zur Veranda. Deutlich erkenne ich die Spuren mehrerer Personen im Staub, der auch den Fußboden bedeckt. Sie führen nach draußen, in den Garten. Von dort scheint auch das fremdartige Geräusch zu kommen. Die Verandatür ist nicht verriegelt und so gelange ich ohne größere Verzögerungen ins Freie. Der Garten. Als ich eben, oder besser gesagt vor vielen Jahren, hier ankam, war alles gepflegt. Die Hecken geschnitten, das Unkraut gejätet, die Steinplatten gefegt. Jetzt stehe ich vor einem Urwald. Einige der alten Bäume sind umgestürzt, entwurzelt, und nur noch dürre, trockene Äste recken sich in die Höhe, haben sich mit hüfthohen Brennnesseln, Disteln, Rankgewächsen und einem Teppich aus Unkraut zu einer undurchdringlichen Wildnis vereint. Zu meiner Linken liegt, halb überwuchert, ein Autowrack. Die Scheiben sind zersplittert, der Lack ist stumpf und zerfressen, eine Tür aus den Angeln gerissen. Dagmars Porsche Turbo.

    Das Grollen wird lauter, klettert die Tonleiter hinauf, und schließlich lässt ein unerträgliches Brüllen die Mauern der verwaisten Villa erbeben. Eine Druckwelle peitscht die Bäume und Sträucher, knickt Stämme wie Strohhalme. Nur wenige Meter entfernt steigt eine Art Helikopter zwischen den hohen Eichen auf. Unter der Pilotenkuppel erkenne ich die Umrisse von drei Personen. Zwei bedienen in verwirrender Schnelligkeit Schalter und Hebel, die dritte muss Dagmar sein. Zusammengesunken auf dem Sitz, die kurzen schwarzen Haare verdecken das Gesicht.

    Ich habe Angst. Angst um Dagmar, Angst vor dem Alleinsein in dieser fremdartigen und lebensbedrohenden Welt. Ich will schreien, werde mir aber im selben Augenblick bewusst, dass meine Stimme nicht gegen das urweltliche Brüllen des Flugapparats ankämpfen kann. So stehe ich also reglos inmitten des ehemaligen Wegenerschen Gartens, in einem Dschungel aus Unkraut und entwurzelten Bäumen, während der Helikopter unaufhaltsam an Höhe gewinnt und in einer lang gezogenen Kurve über die Baumwipfel hinwegstreicht. Einen kurzen Moment liegt noch ein fernes, immer leiser werdendes Grollen in der Luft, dann bin ich endgültig allein. Allein in einer Zeit, die nicht meine Zeit ist.

    Die Situation ist erschreckend und faszinierend zugleich. Hätte man mir gestern prophezeit, dass mir eine Zeitreise bevorstünde, so hätte ich gelacht. Nichts ist offenbar so unrealistisch wie die Realität. Immerhin habe ich jetzt die Möglichkeit, Näheres über das Schicksal der Menschheit zu erfahren – und mein eigenes.

    Nur wenige Meter vom Haus der Wegeners entfernt, auf der anderen Straßenseite, beginnt das Universitätsgelände. Wenn ich irgendwo Aufschluss über diese Zeit finden kann, dann dort. Mühsam bahne ich mir einen Weg durch das urwaldartige Gestrüpp des ehemals gepflegten Gartens, vorbei an wild wuchernden Pflanzen, totem Geäst, umgestürzten Marmorstatuen. Es ist still, fast totenstill. Erst jetzt fällt mir auf, dass etwas sehr Wichtiges zu fehlen scheint: Tiere. Ich vermisse das Singen der Vögel in den alten Eichen, das Zirpen und Summen der Insekten und die zahlreichen anderen Geräusche, die typisch sind für einen warmen Sommertag. Nachdenklich blicke ich hinauf in den wolkenlosen blauen Himmel.

    Das Kreuz. Plötzlich fällt mein Blick auf das Kreuz. Es besteht lediglich aus unfachmännisch zusammengebundenen Brettern und ragt schief neben der Eingangspforte aus dem Boden. Dennoch wird mir seine Bedeutung sofort klar. Die frisch aufgewühlte Erde darunter spricht eine deutliche Sprache. Wer mag hier im Garten der Wegeners begraben liegen? Einen kurzen Augenblick lang erfüllt mich die unsinnige Angst, es könnte Dagmars Grab sein, dann erinnere ich mich wieder daran, noch vor Kurzem ihre Stimme gehört zu haben. Und ich denke an das helikopterartige Fluggerät. Sie kann nicht tot sein. Halb beruhigt, halb immer noch voller stiller Befürchtungen bücke ich mich neben dem Holzkreuz auf die noch feuchte Erde und versuche, die ungelenk eingekratzte Inschrift zu entziffern.

    Es ist mein Name.

    Das Gefühl, das mich minutenlang lähmt, tötet auch alle Gedanken. Mein Kopf ist leer. Es ist wahrhaftig ein Unterschied, ob man eine derart makabre Situation amüsiert im gemütlichen Kinosessel verfolgt oder in der Wirklichkeit damit konfrontiert wird. Zumindest in einer Pseudowirklichkeit. Irgendwann reiße ich mich gewaltsam los von diesem gespenstischen Anblick und beginne zu laufen. Fort, einfach nur fort, Abstand gewinnen von der verlassenen Villa, dem Toten im Labor, dem Grab, hinaus auf die Straße, deren Asphalt brüchig geworden ist. Am Straßenrand steht ein ausgeglühtes Fahrzeugwrack. Ich brauche nicht lange bis zur Erkenntnis, dass es mein Wagen ist, den ich hier abgestellt habe. In einer anderen Zeit. Gehetzt blicke ich mich um, suche nach vertrauten Gebäuden, nach Orientierungspunkten. Rechts die Universität: zerborstene Betonmauern, wie mahnend in den Himmel gereckte Stahlskelette, Krater. Der Boden ist übersät mit Trümmern, zersplittertem Glas, verbogenen Metallträgern. Mir wird übel. Was mag hier geschehen sein? Ein Krieg? Aber wann und warum? Wer hat diese Stadt in Schutt und Asche gelegt? Was hat es mit dem Grab auf sich? Wer hat mich dort begraben? Wo sind die Menschen, die Tiere, wo Dagmar und Professor Wegener? Fragen über Fragen, aber keine auch nur einigermaßen plausible Antwort.

    Die Trümmer beginnen sich um mich zu drehen, ich schreie, renne ziellos über den unebenen, von Disteln durchbrochenen Asphalt, die Straße entlang, die ich so oft gemeinsam mit Dagmar gegangen bin. In meiner Zeit. Jetzt sind die Häuser verlassen, mit leeren Fensterhöhlen oder stumpfen Scheiben. Die Gärten verwildert, die Wagen vom Rost zerfressen. Tod und Zerstörung überall. Tief in mir keimt die Hoffnung auf, dass alles nur ein Albtraum ist, dass ich nur aufzuwachen brauche, um alles ungeschehen zu machen. Es ist eine Hoffnung, mehr nicht. Eine verständliche, aber unnütze Hoffnung.

    Dann liegt ein Geräusch in der Luft, das nicht zur Stille und Leblosigkeit der Umgebung passen will. Ich bleibe schwer atmend stehen und blicke hinauf in den Himmel. Der Helikopter. Oder zumindest ein ähnliches Fluggerät. In einer weiten Schleife nähert er sich aus Richtung des Wegenerschen Hauses, fliegt tief über die Kronen der alten Bäume und die Dächer der ehemals eleganten Villen hinweg. Schlagartig wird mir klar, dass es nicht gut sein kann, schutzlos mitten auf der leeren Straße zu sein. Ich müsste die sichere Deckung der nächsten Gebäude und Gärten erreichen. Doch ich bleibe einfach stehen und blicke hinauf in den Himmel, auf das fremdartige Gefährt, aus dessen Pilotenkuppel sich jetzt der Lauf einer Waffe schiebt. Ein harter Schlag wirft mich zu Boden. Ich spüre noch den rauen Asphalt im Gesicht, und mein letzter Gedanke gilt Dagmar. Sie ist die Einzige, die mir vielleicht …

    Die Rückkehr in die Wirklichkeit gelingt mir nur mühsam. Mein Kopf schmerzt, mir ist übel, und die Zunge liegt wie ein rauer, klumpiger Fremdkörper im Mund. Merkwürdigerweise steht die Erinnerung an die vergangenen Ereignisse noch so klar und deutlich vor meinen Augen, als wäre ich nie bewusstlos gewesen, als hätte mich der Schuss aus jener fremdartigen Waffe nie getroffen. Dennoch habe ich Angst. Angst davor, die Augen zu öffnen, meine letzten Eindrücke der Zerstörung durch die neue, vermutlich noch erschreckendere Situation zu ersetzen. Es ist still um mich herum, aber ich spüre die Anwesenheit einer weiteren Person. Gleichmäßiges ruhiges Atmen, das leise Rascheln von Stoff. Ich hoffe, dass Dagmar bei mir ist.

    Als ich die Augen öffne, umgibt mich ein diffuses Halbdunkel. Direkt über mir hängt eine zersplitterte Glühbirne von der Decke. Die Wände sind von stumpf grauer Farbe, eine Schicht Stroh bedeckt den Boden. Zu meiner Linken dringt gedämpftes Licht durch ein vergittertes Fenster in den Raum, rechts, an der gegenüberliegenden Wand, führt eine verschlossene Tür hinaus in die Freiheit.

    Ich bin tatsächlich nicht allein in diesem Gefängnis, denn bei mir ist Dagmar. Ich sollte eigentlich so etwas wie Freude empfinden, weil jemand mein Schicksal teilt, aber in mir ist nur Unruhe. Furcht. Resignation. Vielleicht ist es Dagmars Anblick, der mir meine Hilflosigkeit bewusst macht. Sie sitzt an der anderen Seite des Raums, die Knie bis ans Kinn gezogen, scheinbar frierend, obwohl es heiß ist in unserem Gefängnis. Ihr schwarzes Haar hängt ihr in wirren, verklebten Strähnen ins Gesicht, ihre dunkle Bluse ist am linken Ärmel aufgerissen.

    Ich will etwas sagen, irgendetwas, aber ich bringe nur ein raues Krächzen zustande. Trotzdem liegt jetzt ein Lächeln auf Dagmars Gesicht. Mit ungewöhnlich langsamen, schwerfälligen Bewegungen erhebt sie sich, kommt näher, kniet neben mir und beginnt, mir zärtlich über das Haar zu streichen.

    »Ich glaube«, sagt sie dann mit leiser Stimme, »ich muss dir einiges erklären.«

    Immer noch bringe ich kein einiges Wort heraus.

    »Verlange bitte keine einfache Erklärung, ich weiß selbst nicht viel mehr als du. Alles begann damit, dass mein Vater seine Zeitmaschine testen wollte. Statt wie zuvor nur Gegenstände oder Tiere hinüberzuschicken, wollte er selbst den Durchgang in die Zukunft wagen. Aber er kam nicht zurück.« Dagmar weint nicht bei diesen Worten. Vielleicht sind ihre Tränen schon versiegt. »Ich hätte dem Experiment nie zugestimmt. Als ich an dem Tag nach Hause kam, fand ich seine schriftliche Notiz. Dann tauchte plötzlich der Fremde auf. Er war verletzt und schleppte sich noch durch das halbe Labor, bevor er zusammenbrach. Ich erkannte den Dolch und hatte auf einmal schreckliche Angst um meinen Vater. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, warum er eine Waffe mit in die Zukunft genommen hatte. Also folgte ich ihm. Den Rest kennst du. Chaos, Tod, Zerstörung. Das ganze Gebiet scheint abgesperrt zu sein. Radioaktivität vielleicht.«

    »Ein Atomkrieg?«

    Dagmar zuckt nur mit den Schultern.

    »Ich weiß es nicht. Jedenfalls sind die Menschen, die uns hier festhalten, Mutanten. Strahlengeschädigt, vermutlich bereits in der zweiten oder dritten Generation.«

    »In welchem Jahr befinden wir uns?«

    »Vater hätte es uns sagen können, aber er ist verschwunden. Vielleicht tot. Oder sie halten ihn woanders gefangen.« Auch das sagt sie ohne jede Rührung, dennoch spüre ich, dass sie ganz einfach nicht mehr zu Tränen fähig ist. Zu viel muss in den letzten Stunden geschehen sein, zu viel Entsetzliches, Fantastisches, Unheimliches.

    »Viele Mutanten sind auch schon drüben, in unserer Zeit. Sie sind krank, geistig und körperlich krank. Und sie wollen Vernichtung. Ich weiß nicht, was in ihren veränderten Gehirnen vorgeht, aber ich glaube, es ist Hass. Hass und Neid. Hass auf uns, auf unsere heile Welt, weil in ihrer eigenen nur Chaos und Zerstörung ist. Sie haben offenbar den Zeittunnel gespürt, angemessen, oder mein Vater hat sie ungewollt angelockt, jedenfalls sind sie schließlich hinübergelangt und jetzt …« Sie bricht ab, als würden ihr erst jetzt die vollen Konsequenzen bewusst werden. Dann steht sie langsam auf, blickt schweigend aus dem kleinen vergitterten Fenster auf das blaue Fleckchen Himmel über uns.

    Ich ahne, dass sie nicht alles gesagt hat, was sie weiß, aber auch ich zögere, die entscheidende Frage zu stellen. Aus begreiflicher Angst.

    »Das Grab im Garten. Was hat es damit auf sich?«

    Dagmar sieht mir nicht in die Augen, als sie antwortet.

    »Dein Grab«, sagt sie leise. »Ich habe dich nach meiner Ankunft in dieser Zeit dort begraben. Irgendwann in der Vergangenheit wirst du im Garten unseres Hauses sterben.«

    Mir steht alles wieder vor Augen, das Holzkreuz, die aufgewühlte Erde, das ausgeglühte Autowrack. Mein eigenes Grab! Nicht darüber nachdenken, hämmert es in meinem Kopf, und ich blicke Dagmar an, ohne sie wirklich zu sehen. Analysieren, sage ich mir. Du musst versuchen, die Lage so objektiv wie möglich zu analysieren, sonst drehst du über kurz oder lang durch. Die Vernichtung, die Radioaktivität – wer oder was ist dafür verantwortlich? Die Mutanten? Dagmar sagt, sie hassen unsere Welt und wollen Vernichtung. Aber das wäre doch paradox. Denn wenn sie tatsächlich für die Katastrophe in der anderen Zeit verantwortlich wären, müssten sie ja Opfer ihrer eigenen Tat sein. Eine Umkehrung des Prinzips von Ursache und Wirkung. Erst die Wirkung, also die Mutation und der Hass, und dann erst die Ursache, die Katastrophe, hervorgerufen durch Mutanten, die in unsere Zeit gelangten. Warum sind nach all den Jahren immer noch keine Menschen aus den nicht verseuchten Gebieten bis hierher vorgedrungen? Warum gibt es keine Aufräumarbeiten? Sollte die Zerstörung gar nicht auf diese Stadt beschränkt sein? Es gibt nur eine Möglichkeit, Antworten auf diese Fragen zu finden: Wir müssen raus aus diesem Gefängnis und zurück in unsere Zeit. Noch etwas weiß ich mit ziemlicher Sicherheit: dass diese Rückkehr mich das Leben kosten wird.

    Eine Gelegenheit zur Flucht ergibt sich früher als erwartet. Es ist weder eine abenteuerliche noch eine besonders originelle Flucht, doch das stört natürlich keinen von uns beiden. Ein Wärter kommt, stolz eine zerlumpte Briefträgeruniform zur Schau stellend, um uns das Essen zu bringen. Der Mann ist nicht besonders groß, vielleicht um einen Meter sechzig, kahlköpfig, und er wirkt auf unangenehme Weise verwachsen. Das alles registriere ich aus den Augenwinkeln, denn ich stelle mich weiter bewusstlos und warte auf meine Chance. Der Mutant blickt sich zunächst misstrauisch um, tritt dann doch näher, um die Schüssel mit einem undefinierbaren Brei vor Dagmar abzustellen. Dazu muss er mir den Rücken zudrehen. Das nutze ich aus. Zwei, drei Schritte, und ich bin bei ihm, presse ihm die linke Hand auf den Mund, damit er nicht Alarm schlagen kann, und versuche, ihn zu Boden zu zwingen. Mit Dagmars Hilfe gelingt es mir tatsächlich, den Mann zu überwältigen, ohne dass allzu viel Lärm in den Gang dringt.

    Die Vorsicht war unbegründet, denn unser Gefängnis scheint menschenleer zu sein. Das Gebäude selbst befindet sich in einem verhältnismäßig guten Zustand, wenn auch hier die Spuren des Verfalls nicht zu übersehen sind. Die Wände sind übersät mit zahllosen Rissen, stellenweise ist der Verputz bereits abgebröckelt und sorgfältig zu kleinen Häufchen in den Ecken zusammenkehrt. Die Farbe der Türen blättert ab, nur hier und da deuten schwer lesbare Buchstaben und Zahlen darauf hin, dass dieses Haus mal als Schule gedient haben muss. Doch das ist lange her.

    Schließlich stehen wir draußen auf der Straße. Auch hier herrscht Totenstille, die umliegenden Gärten gleichen dichten Urwäldern. Ich blicke kurz hinauf in den Himmel, der sich langsam grau zu färben beginnt, dann hasten wir weiter, vorbei an verfallenen Häusern, Autowracks und Trümmern. Einmal glaube ich, im Schatten eines wilden Gestrüpps das Augenpaar einer Katze glühen zu sehen, aber das kann auch Einbildung gewesen sein.

    Die Luft riecht nach Regen. Ich muss an die Radioaktivität denken. Wenn die Luft verseucht ist, das Wasser auch, strahlender Niederschlag … Nein, lieber nicht darüber nachdenken. Neben mir läuft Dagmar durch die Straßen der gestorbenen Stadt, ihre Augen sind in weite Ferne gerichtet. Ich spüre wieder dieses beklemmende Gefühl, das mich schon einmal erfüllte, bevor ich die verhängnisvollen Schritte durch das Zeittor wagte. Diese Angst um Dagmar. Aus Liebe?

    Meine Sinne beginnen, sich zu verwirren. Ich merke, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Die Farben und Formen um mich herum zerfließen, wie Schatten ziehen die verfallenen Gebäude an mir vorbei. Die zersplitterten Schaufensterscheiben einer Bäckerei, die umgestürzten Tische und Stühle einer Pizzeria. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon über den brüchigen Asphalt haste. Aber ich spüre jetzt Dagmars Hand in der meinen, ahne, dass sie den Weg zurück kennt, zurück zur Wegenerschen Villa, zurück in unsere Zeit.

    Warum bin ich nicht in der Lage, diese Situation zu meistern? Warum versage ich schlicht und einfach angesichts dieser Ereignisse? Alles dringt nur noch schemenhaft in mein Bewusstsein: das ausgeglühte Fahrzeugwrack, die Pforte, das Grab – mein Grab! – das schiefe Holzkreuz im Garten, die Villa, das dichte, verwilderte Grün des Gartens, das weit offenstehende Portal, die ausgestopften Elchköpfe, die Standuhr, deren Zeiger mit einer dicken Staubschicht bedeckt sind und längst aufgehört haben, die Stunden zu zählen, die verfließen.

    Erst als ich wieder im kühlen Labor Professor Wegeners stehe, finde ich zu meiner sonst sprichwörtlichen Ruhe zurück. Es hat sich nichts verändert seit meiner Ankunft hier, und so bizarr das auch klingen mag: Jetzt kommt mir die komplizierte Apparatur merkwürdig vertraut und beruhigend vor. Die Rechner, Kontrollpulte, Schalter – und das Zeitloch in der Wand. Unsere einzige Chance zur Rückkehr in unsere Gegenwart, zur Flucht aus dieser fremden Welt. Aber was wird uns erwarten? Vielleicht ist ja alles vorbei, wenn wir zurückkehren und die Zeitmaschine einfach ausschalten? Wird alles ungeschehen? Der Zeittunnel verschwindet, die Mutanten haben keine Möglichkeit, unsere Welt zu erreichen, die Vernichtung findet nicht statt. Kein Paradoxon mehr. Oder ist alles unaufhaltsam? Das Grab. Erwartet mich am anderen Ende des Zeittunnels tatsächlich der Tod?

    Mit diesen Gedanken trete ich auf das samtene Schwarz des Zeitlochs zu. Ein letzter Blick auf Dagmar, die mir folgen wird, ein weiterer Schritt, dann bin ich wieder zu Hause.

    Im selben Moment, in dem ich aufatmend das Labor unserer Zeit betrete, beginnen die Leuchtröhren an der Decke zu flackern. Eben war noch heller Tag, hier scheint es bereits gegen Abend zu sein, denn durch die hohen Fenster dringt nur noch schwacher Lichtschein. Die Beleuchtung muss sich selbsttätig bei Einbruch der Dämmerung eingeschaltet haben. Das Flackern verstärkt sich, die Röhren setzen kurz ganz aus, glimmen noch einmal auf, dann ist der Raum dunkel und tot. Auch die zahlreichen Lämpchen und Anzeigen an den Apparaturen sind erloschen.

    Dagmar! Schlagartig wird mir klar, welche Folgen dieser Stromausfall haben kann. Ich drehe mich um, und die Ahnung wird zur Gewissheit: Der Tunnel in die Zukunft existiert nicht mehr. Dagmar ist in jener fernen Zeit gefangen. Gefangen im Chaos aus Tod und Zerstörung, dem ich selbst um Haaresbreite entflohen bin.

    Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, das mich in diesen Sekunden erfüllt. Die Angst um Dagmar, die Angst, dass dieses Mal die Trennung für immer sein könnte. Dann die Hoffnung, eine verzweifelte Hoffnung, dass das Licht im Labor wieder aufflammt, und sei es auch nur für wenige Minuten, die Dagmar ermöglichen würden, zurück in ihre Welt zu gelangen. Es bleibt nicht mehr als eine Hoffnung.

    Schließlich trete hinaus in die Diele. Die alte Standuhr schlägt gerade neun Mal. Unwillkürlich blicke ich auf meine Armbanduhr. 21 Uhr. Das stimmt. Aber der Datumsanzeiger verrät: Heute ist der 21. August! Am 16. war ich mit Dagmar hier verabredet. Seit meiner Ankunft in diesem Haus müssen fünf Tage vergangen sein! Fünf Tage subjektiver Zeit habe ich in der Zukunft verbracht. Sollte ich so lange bewusstlos in der Zelle gelegen haben?

    Die Uhr in Dagmars Zimmer. Ich muss wissen, wie viele Tage in dieser Zeitebene vergangen sind. Ich haste also die Stufen der knarrenden Wendeltreppe hinauf, genau wie vor Kurzem – vor fünf Tagen? Oben ist alles unverändert. Die Liegewiese, der transparente Kunststofftisch, die Grafiken an den Wänden, das Fernsehgerät, der Computer, die Digitaluhr. Sie zeigt 21.05 Uhr am 21. August. Der Moment, in dem die Brücke zwischen mir und Dagmar zusammenbrach und das Schicksal dieser Stadt besiegelt wurde. Was mag in diesen fünf Tagen alles geschehen sein? Haben die Mutanten ihr Vernichtungswerk bereits begonnen? Ich muss mir Gewissheit verschaffen.

    Ihr Computer hat natürlich keinen Strom und nützt mir jetzt wenig, aber irgendwo muss Dagmars kleines Radio stehen, das mit Akkus betrieben wird. Neben ihrem Bett entdecke ich das Gerät, schalte mit zitternden Händen ein. Blechern kommt die Stimme eines offenbar nervösen Ansagers aus dem Lautsprecher: »… werden gebeten, die bereitstehenden öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Bitte lassen Sie Ihre Privatfahrzeuge zurück, um die Evakuierung nicht zu behindern. Die Regierung weist noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass kein Grund zur Panik besteht. Die Evakuierung aller Bürger ist gewährleistet. Einsatzfahrzeuge von Polizei und Feuerwehr sowie Spezialeinheiten von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz haben die Lage in der Stadt auch nach den Sprengungen der Nordbrücke und des Haupttunnels unter Kontrolle. Ab morgen Mittag um zwölf Uhr wird die Stadt mit ihren Randbezirken plangemäß zum Sperrgebiet erklärt. Wie ein Sprecher der Regierung erklärte, handelt es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Anschläge einer bislang noch nicht identifizierten Terrorgruppe. Die Befürchtungen, dass auch die nahe gelegenen Atomkraftwerke Zielpunkte der Sabotageakte werden könnten, haben sich glücklicherweise bis jetzt nicht …«

    Als ich das Gerät wieder ausschalte, bin ich völlig ruhig. Ich habe jetzt die Bestätigung, dass alles das, was ich bisher nur geahnt habe, unabänderliche Realität ist. Ich kann nichts mehr tun, um die Vernichtung aufzuhalten. Es ist zu spät. Diese Erkenntnis lässt die Angst einer verblüffenden Ruhe weichen. Ich lehne mich zurück in Dagmars gemütlichen Lesesessel und schließe die Augen.

    Das Paradoxon. Die Umkehrung von Ursache und Wirkung. Vermutlich sind die Mutanten gerade dabei, mit weiteren Anschlägen diese Stadt und ihre Atomkraftwerke in Schutt und Asche zu legen. Sie ahnen nicht, dass sie selbst erst jene Zerstörungsmaschinerie in Gang setzen, deren Opfer sie sind. Ihr Hass, geboren aus Verzweiflung über ihre tote Welt ohne Zukunft, treibt sie zu blinder Zerstörungswut. Man könnte über diese Ironie des Schicksals lachen, doch ich bin weder zum Lachen noch zum Weinen fähig. Ich denke wieder an Dagmar.

    Schließlich gehe ich zurück ins Erdgeschoss. Mir wird immer klarer, dass auch ich meinem Schicksal nicht entrinnen kann. Bleibt mir nur die Hoffnung, dass es Dagmar gelingen kann, in jener fremden Welt und Zeit zu überleben.

    Die alte Standuhr in der Empfangshalle schlägt einmal, vielleicht das letzte Mal, als ich an eines der hohen Fenster trete und hinausblicke in den Garten mit den hohen Bäumen und Sträuchern. Die Sonne ist bereits untergegangen, dennoch erkenne ich deutlich die zwei Gestalten, die über den Plattenweg auf das Haus der Wegeners zukommen. Zwei Mutanten, groß, hager, mit langen, abgewinkelten Armen, kahlen Köpfen, bewaffnet mit fremdartigen Waffen. Jetzt schließt sich also der Kreis. Abwartend bleibe ich in der Mitte der Diele stehen, denn ich weiß, was geschehen wird. Jahrzehnte später wird Dagmar meine Leiche finden oder das, was von ihr dann noch übrig geblieben ist. Ein paar Stofffetzen, ein Ausweis. Ich weiß nicht, ob es ein Trost sein kann, mit dem Bewusstsein zu sterben, von ihr begraben zu werden.

    Aber mit Sicherheit bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der sein eigenes Grab gesehen hat – viele Jahre nach seinem Tod.

    Barfuß am Strand

    (1978)

    Die einen waren von Hamburg aus aufgebrochen und hatten die Reiseroute über Amsterdam, Brüssel, Paris, Le Mans und Bordeaux gewählt. Die anderen kamen aus München. Sie hatten Station in Zürich, Genf, Lyon, Marseille und Toulouse gemacht. Treffpunkt der beiden Gruppen war, wie vereinbart, Arcachon, die kleine Stadt an der Atlantikküste in unmittelbarer Nähe der größten Düne Europas.

    »He!«, rief Armin. »Da drüben sind sie.«

    Ronald hupte lautstark, bis Doris, Cornelia und Frank sie ihrerseits entdeckt hatten. Ihr Wagen, ein zitronengelber Rekord, stand mit geöffneter Motorhaube am Straßenrand. Ronald lachte. Schließlich hatte Frank immer behauptet, sein Wagen würde diese lächerliche Reise spielend überstehen. Typischer Optimismus eines Führerscheinneulings mit 900-Mark-Gebrauchtwagen. Jutta hatte bereits die Tür des knallroten Capri aufgerissen, bevor der Wagen mit quietschenden Reifen am Straßenrand zum Stehen kam.

    »Hallo!«, rief sie, winkte und lief auf die drei Freunde aus München zu. Armin hielt die ganze Begrüßungsszene mit seiner Kamera fest, während Ronald und Dagmar mitsamt der Getränkekühlbox ebenfalls den gelben Rekord ansteuerten.

    Wenige Minuten später saßen die sieben jungen Urlauber dann im Schatten einer Seestrandkiefer im Gras, erzählten von ihren Ferienerlebnissen und stritten sich darüber, wie sie am besten die nächsten Tage gemeinsam hier in Arcachon verbringen sollten. Die Landes, eine dünn besiedelte Landschaft an der Atlantikküste, sind das größte Waldgebiet Frankreichs. Früher einmal wuchsen hier Eichen, aber die wurden im Mittelalter größtenteils für den Schiffbau abgeholzt. An die Stelle des Waldes traten dann weite Heideflächen, nach denen dieses Land auch seinen Namen hat: »Lande« = »Heide«. Erst vor relativ kurzer Zeit forstete man die Heideflächen mit harzreichen Seestrandkiefern auf und heute beginnt gleich hinter der berühmten Düne von Arcachon ein gewaltiges Waldgebiet.

    Nicht zuletzt deshalb hatten die sieben Freunde aus Deutschland diese Gegend südlich von Bordeaux zum Treffpunkt gewählt. Ein erträgliches Klima, eine reizvolle Landschaft und der flache, breite Sandstrand von über 200 Kilometer Länge hatten sie angelockt.

    Aber Strand und Atlantik mussten leider vorerst noch warten. Zunächst galt es, Franks Rekord wieder fahrbereit zu machen. Der Wagen hatte auf den letzten Kilometern Öl verloren, und es klapperte bereits verdächtig unter der Motorhaube, sodass Ronald ihn mit seinem Capri zur nächsten Werkstatt nach Arcachon schleppen musste. Doris, die am besten von allen Französisch sprach, erledigte die Formalitäten, und der kleine, dunkelhaarige Mechaniker versprach, den Wagen so schnell wie möglich zu reparieren.

    »Nous verrons«, meinte Doris nur, und dann machten sich alle zu Fuß auf den Weg zum Strand, der gleich hinter den von den fast ständigen Westwinden aufgetürmten Dünenwellen beginnt.

    Das Wasser war angenehm warm, der Strand nicht so überfüllt, wie die sieben es befürchtet hatten. Cornelia, Jutta, Frank und Dagmar tummelten sich vergnügt in den Wellen des Atlantiks, und Ronald hielt das Ganze mit seiner Unterwasserfilmausrüstung fest, die er sich noch kurz vor der Fahrt in Hamburg gekauft hatte. Nur Doris und Armin hatten es sich im Schatten eines Sonnenschirms bequem gemacht. Die beiden hatten sich nämlich einen handfesten Sonnenbrand geholt. Sie in Saintes Maries-de-la-Mer, er in La Rochelle. Verständlich also, dass sie vorläufig die Nase voll hatten von Sonnenbädern in glühender Hitze.

    »Fahrt ihr nächstes Jahr wieder nach Frankreich?«, fragte Doris und schob ihre Sonnenbrille in die Stirn. Armin zuckte mit den Schultern.

    »Vielleicht. Ronald wollte eigentlich nach England, aber mir gefällt es hier wirklich prima. Und ihr?«

    »Wir haben für nächsten Sommer die Bretagne vorgesehen. Brest, Nantes, Saint-Nazaire und die umliegende Gegend. Kommt doch auch dorthin.«

    Die sieben hatten erst vor Kurzem an derselben Schule Abitur gemacht, aber dann hatte das Studium sie getrennt. Armin, Ronald, Jutta und Dagmar hatten Studienplätze in Hamburg bekommen, während die anderen sich in München hatten einschreiben müssen. Die Verbindung zwischen den Freunden war aber nie abgerissen.

    »Was macht eigentlich Jan? Konnte der nicht mit?«, fragte Doris.

    »Der arbeitet in den Semesterferien. Braucht Geld für einen neuen Wagen, weißt du.« Doris nickte und blinzelte in die Sonne. Es war doch verdammt heiß hier am Strand.

    Am wolkenlosen Himmel zog brummend ein kleines Sportflugzeug seine Kreise. Mit einem Himmelsschreiber formte der Pilot Buchstaben zu Worten. Eine Botschaft. Eine Botschaft für Doris. Alle sieben Freunde sahen es und begriffen sofort. Also erhob sich Doris schweigend, klopfte den Sand aus dem bunten Kleid und winkte noch einmal Ronald, Cornelia und den anderen zu, dann schloss sie die Augen.

    Als sie die Augen wieder öffnete, war es stockdunkel um sie herum. Die Luft war erfüllt von unablässigem Singen und Ticken. Geräusche der verstreichenden Zeit. Unterdrücktes Atmen verriet ihr, dass Ärzte und Pfleger bereits anwesend waren. Man sorgte gut für sie. Ja, so dachte sie nicht ohne Bitterkeit, man war jederzeit für sie da.

    Schließlich hatten sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt und sie erkannte immer deutlicher die Umrisse von Schwester Angela, die vor einem Instrumentenpult die Rückkehr in die Realität überwachte, dann, wie Doris schon Dutzende Male erlebt hatte, an ihr Bett trat, um die Kontakte von der Stirn der Patientin zu lösen. Dabei lächelte sie freundlich und murmelte beruhigende Worte, die Doris bereits überhaupt nicht mehr wahrnahm. Noch vor einigen Monaten hatte ihr das verständnisvolle, Mitgefühl ausdrückende Lächeln Schwester Angelas etwas bedeutet. Inzwischen …

    Es war diesmal Doktor Bertram, der an ihr Bett trat, ein ernstes, aber von einstudierter Zuversicht geprägtes Gesicht zur Schau stellte und versuchte, ihr in freundlichen Worten zu erklären, dass der wöchentliche lebensnotwendige Eingriff wieder einmal fällig war. Er tat das jedes Mal, obwohl schließlich niemand besser als Doris selbst wusste, wie es um sie stand und was getan werden musste, um ihren Körper am Leben zu erhalten. Offenbar kam er damit jedoch einer Vorschrift von übergeordneter Stelle nach. Es war wie immer. Fast.

    Denn diesmal unterbrach ein grellrotes Blinklicht die Monotonie der wöchentlich wiederkehrenden Vorbereitungen. Schwester Angela, blond, kaum 22 Jahre alt und mit auffallend eng beieinanderstehenden Augen, wirbelte herum und stellte über das neben der Zimmertür angebrachte Visiofon die Verbindung mit der Medzentrale her, während Doktor Bertram und seine Assistenten ziemlich ratlos ihre Instrumente zurück in den Desinfektionsschrank legten.

    Schwester Angela war noch bleicher als sonst, als sie den jungen Arzt über die Nachricht in Kenntnis setzte, die sie von der Zentrale übermittelt bekommen hatte. Doris lachte lautlos. Wahrscheinlich ein Notfall. Aber wer in diese Abteilung eingeliefert wurde, hatte meist nicht mehr viel vom Leben zu erwarten. Entweder, oder … Wobei Doris noch nicht einmal wusste, ob sie tatsächlich das bessere Los gezogen hatte.

    Doktor Bertram verließ schweigend den Raum, mit schnellen, aber nicht hastigen Schritten, während Schwester Angela beruhigend auf Doris einredete. Lapidares Zeug. Verständnis für Notfall, keine Panik, kurzfristige Verschiebung des Eingriffs, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ha, ha! Doris war mit ihren Gedanken bereits woanders. Sie fieberte dem Augenblick entgegen, in dem auch die zierliche Schwester den Raum verlassen haben und sie völlig allein sein würde. Die junge Frau blickte sich noch einmal um, musterte Doris freundlich, aber nachdenklich, dann glitt die Schiebetür hinter ihr zu.

    Allein! Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und ein unerklärliches Angstgefühl schnürte ihr die Kehle zu. Zum ersten Mal seit jenem Unfall war sie bewusst allein, konnte ungestört nachdenken. Über sich und ihre Situation. Ohne dass sie von Ärzten und Krankenschwestern umgeben oder von Freunden und Freundinnen abgelenkt war. Doris schloss die Augen.

    Sie sog das Ticken und Summen der Instrumente in sich hinein, spürte den unverwechselbaren Geruch nach Sterilität, nach Medikamenten, und sie genoss das Wissen, heimgekehrt zu sein in die Realität.

    Doris konzentrierte sich auf ihr rechtes Bein. Muskeln zusammenziehen, Sehnen strecken. Barfuß im heißen Sand von Arcachon. Schwimmen, tauchen. Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Die Anstrengung ließ sie stöhnen, und dann begann sie, lauthals zu lachen. Barfuß am Strand. Mit gelähmten Beinen! Sie war in der Realität, nicht mehr in jener Illusion, in der ihre Sorgen und Probleme nicht mehr zu existieren schienen.

    Doris konzentrierte sich auf ihren linken Arm. Muskeln zusammenziehen, Sehnen strecken. Und Doris lachte.

    »He! Pass auf! Die Temperatur liegt weit über normal, Achte auf den Druck. Wenn das Nervengas …« Doris schrie. Die Schmerzen am ganzen Körper, das fressende Gas, die Angst, die Verzweiflung. »He! Pass auf! Die Temperatur liegt weit über normal. Achte auf den Druck. Wenn das Nervengas …« Nervengas. Verzweiflung. Sirenen heulten. Katastrophenalarm im Labortrakt 43.

    »Ich will Ihnen nichts vormachen, wissen Sie. Lähmung. Das Gas, wissen Sie. Kampfgas; eigentlich hätte man … aber nun ist es natürlich … aber was rede ich da? Es wird schon wieder gut, nicht wahr? Haben Sie Angst? Das brauchen Sie doch nicht. Wenn wir jede Woche einmal … Und außerdem gibt es da jetzt noch so etwas ganz Neues, wissen Sie.«

    »He! Pass auf! Die Temperatur.«

    »He! Pass auf! Die …

    »He! Pass auf!«

    »He! Pass…«

    »He!«

    »He!«, rief Armin. »Da drüben sind sie.« Ronald hupte lautstark, bis Doris, Cornelia und Frank sie ihrerseits entdeckt hatten. Ihr Wagen, ein zitronengelber Rekord, stand mit geöffneter Motorhaube am Straßenrand. Ronald lachte. Schließlich hatte Frank immer behauptet, sein Wagen würde diese lächerliche Reise spielend überstehen. Typischer Optimismus eines Führerscheinneulings mit 900-Mark-Gebrauchtwagen!

    Jutta hatte bereits die Tür des knallroten Capri aufgerissen, bevor der Wagen mit quietschenden Reifen am Straßenrand zum Stehen kam.

    »Hallo!«, rief sie, winkte und …

    Doris atmete Krankenhausluft; das Weiß der Wände, der Apparaturen, der Decke schmerzte ihren Augen. Muskeln anspannen, Sehnen strecken, barfuß im heißen Sand von Arcachon. Blauer Himmel, glühende Sonne, erfrischendes Meer.

    »Fahrt ihr nächstes Jahr wieder nach Frankreich?«, fragte Doris und schob ihre Sonnenbrille in die Stirn. Armin zuckte mit den Schultern.

    »Vielleicht. Ronald wollte eigentlich mal nach England, aber mir gefällt es hier wirklich prima. Und ihr?«

    »Wir haben für nächsten Sommer die Bretagne vorgesehen. Brest, Nantes, Saint-Nazaire und die umliegende Gegend. Kommt doch auch dorthin.«

    »Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Die eigentliche Lähmung ist nicht das Ernste an Ihrem Zustand. Schwerwiegender ist die Tatsache, dass das geschädigte Nervensystem unkontrolliert Schmerzimpulse an das Gehirn weiterleitet. Wissen Sie, wir können leider nur für höchstens fünf Stunden diese Impulse neutralisieren. Nach Ablauf dieser Frist müssten Sie … wie soll ich sagen … mit schweren Krämpfen und Anfallen rechnen, die Sie im Laufe der Zeit zum Wahnsinn treiben würden.«

    »Aber … hat es dann überhaupt einen Sinn weiterzuleben?«

    »Wissen Sie, wir verfügen seit Kurzem über eine … äh … Computersimulation. Wenn wir Sie in eine Art Todesschlaf versetzen, der Sie vor den Anfällen schützt, können Sie in dieser Simulation ein neues Leben beginnen. Über die Kosten dieser Sonderbehandlung machen Sie sich keine Sorgen. Sie sind schließlich in einem staatlichen Entwicklungslabor verunglückt. Wenn es um geheimen Kram geht, sind die nicht kleinlich. Wenn Sie also Ihr … nun ja, Ihr Einverständnis geben, werden Sie als eine der ersten Testpersonen diese neue Errungenschaft …«

    Der Wagen hatte auf den letzten Kilometern Öl verloren, und es klapperte bereits verdächtig unter der Motorhaube, sodass Ronald ihn mit seinem Capri zur nächsten Werkstatt nach Arcachon schleppen musste. Doris, die von allen am besten Französisch sprach, erledigte die Formalitäten.

    »Aber … hat es dann überhaupt noch einen Sinn weiterzuleben …«, … und der kleine, dunkelhaarige Mechaniker versprach, den Wagen, … »Aber … hat es dann …« Doris lachte. … so schnell wie möglich zu reparieren.

    Doris lachte. Und schrie.

    »Schwester Angela, schnell die Spritze!« Doris lachte und schrie. »Aber… hat es dann überhaupt noch einen Sinn weiterzuleben?«

    »He! Pass auf! Die Temperatur …«

    »Schwester Angela!«

    »Fahrt ihr nächstes Jahr wieder nach Frankreich?«

    »Schwester Angela! Die Spritze! Die …«

    Als Doris die Augen öffnete, war es Nacht. Würzige Seeluft strich vom nahen Strand herüber, und es war, im Vergleich zur brütenden Mittagshitze, angenehm kühl. Durch die dünne Zeltplane konnte Doris die fahle Sichel des Mondes erkennen. Es war Nacht, und sie wusste Frank an ihrer Seite.

    Einen Augenblick lag sie still da, atmete flach und versuchte, sich an alles zu erinnern, was seit jenem letzten Nachmittag am Strand von Arcachon geschehen war. Plötzlich wurde ihr übel. Sie stand auf und trat leise, um Frank nicht zu wecken, vors Zelt. Die Nachtluft war erfrischend, und Doris atmete tief durch. Da war der Wagen, dessen Fenster das bleiche Mondlicht reflektierten. Hatten sie ihn schon aus der Werkstatt geholt? Sie erinnerte sich nicht daran, aber die Tatsachen sprachen dafür. Wieder überkam Doris dieses unerklärliche Übelkeitsgefühl.

    »Aber … hat es dann überhaupt einen Sinn weiterzuleben?« Sie spürte den Wagenschlüssel in ihrer geballten Faust. Und damit stand ihr Entschluss fest … Sie wusste nicht, was mit Ihrem Körper geschah, wenn sie hier in dieser Simulation starb; darüber hatte sie keiner der Ärzte informiert. Aber sie musste etwas unternehmen. Bevor es endgültig zu spät war. Jetzt oder …

    Der Motor des zitronengelben Rekords heulte auf, als Doris Gas gab, die Kupplung kommen ließ und die Augen schloss. Die Reifen schleuderten Sandfontänen in die klare Nachtluft, und das Fahrzeug schoss mit voller Beschleunigung auf die Straße. Die Fahrt dauerte nicht mal dreißig Sekunden. Als der Wagen in das Gehölz mit Seestrandkiefern raste, hatte Doris immer noch ihre Augen geschlossen und lachte …

    Als Doris die Augen öffnete, war es immer noch Nacht. Würzige Seeluft strich vom nahen Strand herüber, und es war, im Vergleich zur brütenden Mittagshitze, angenehm kühl. Durch die dünne Zeltplane konnte Doris die fahle Sichel des Mondes erkennen. Es war Nacht, und sie wusste Frank an ihrer Seite. Dann begann sie zu schreien.

    Reni oder Das Klassentreffen

    (1979)

    Vielleicht war es doch

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