Marx ökologisch: Pariser Marxlektüren
Von Judith Butler
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Über dieses E-Book
Judith Butler
Judith Butler, 1956 in Cleveland, Ohio geboren, ist Professorin für Komparatistik und Critical Theory an der University of California in Berkeley.
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Buchvorschau
Marx ökologisch - Judith Butler
Der unorganische Körper beim frühen Marx
¹
Mein heutiges Vorhaben lässt sich leicht umreißen. Wie ließe sich ausgehend von Marx’ Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 heute erneut die Frage aufgreifen, ob der frühe Marx – wie gemeinhin angenommen – anthropozentrisch ist? Was mich dazu veranlasst, diese Frage erneut zu stellen, ist ein ziemlich rätselhafter Absatz in den Manuskripten, in dem die Natur als „unorganischer Körper" des Menschen bezeichnet wird. Das ist eine durchaus überraschende Aussage, und ich möchte zunächst versuchen, sie im Text zu verorten und meine Interpretation dieser Formulierung im Kontext von Marx’ zentralen Gedanken aus den frühen Schriften darzulegen.
Die oben gestellte Frage taucht zunächst im Kontext von Diskussionen auf, die in den 1970er und 1980er Jahren von britischen Theoretiker_innen, allen voran John Clark, geführt wurden, die herausfinden wollten, ob Marx’ Philosophie mit einer ökologischen Perspektive vereinbar ist. Das wiederum hat eine Reihe von Untersuchungen darüber angestoßen, wie Marx’ Theorie der Natur zu verstehen sei.² Die aufgeworfenen Fragen sind nicht nur deswegen relevant, weil den meisten Interpretationen zufolge die frühen Manuskripte durch Marx’ spätere Schriften – vor allem das Kapital und die Grundrisse – abgelöst wurden, sondern auch, weil gemeinhin angenommen wird, dass die Manuskripte auf einer Entfremdungstheorie und einem Subjektverständnis beruhen, die bestenfalls spekulativ seien, und hinter der Theoretisierung des strukturellen oder systemischen Charakters des Kapitalismus zurückblieben, wie sie später vor allem im Kapital und den folgenden Schriften ausgearbeitet wurden. Wenngleich eine Rückkehr zum frühen Marx nicht notwendigerweise eine Rettung oder Rehabilitierung der Arbeitswerttheorie zum Ziel hat, wirft sie doch eine Reihe von Fragen darüber auf, wie wir Arbeit und den arbeitenden Körper, wie wir den Menschen und sein Verhältnis zur Natur und zu anderen Lebensprozessen verstehen.³
Wir sind uns darüber einig, dass der Arbeiter die Natur bearbeitet und dass er oder sie der Natur bedarf, um zu überleben. Genauso wissen wir, wie ich annehme, dass der Körper ein sinnlicher ist und dass seine Arbeit an natürlichen Gegenständen ein sinnliches Verhältnis zu eben diesen Gegenständen impliziert. Wenn nun aber die Natur als der „unorganische Körper" des Menschen bezeichnet wird, dann wird damit eine andere Art von Beziehung postuliert, in welcher der Körper des Menschen kein gänzlich losgelöster oder abgetrennter mehr ist. In der Tat sind seine Grenzen weder eindeutig erkannt noch genau erkennbar. Wenn es einen unorganischen Körper des Menschen gibt, der die ganze Natur umfasst, dann erstreckt sich der menschliche Körper über die ganze Natur, oder umgekehrt, die ganze Natur schließt den Körper des Menschen ein. Das Verhältnis des menschlichen Körpers zur Natur erweist sich als wesentlich für den menschlichen Körper, genauso wie die Beziehung der Natur zum menschlichen Körper sich als wesentlich für die Natur erweist. Die Art und Weise, wie wir diese Beziehung denken, hat Konsequenzen für die Beantwortung der Frage: Wie anthropozentrisch sind die frühen Manuskripte wirklich, oder enthalten sie möglicherweise gar eine weitgehend unbeachtete Kritik des Anthropozentrismus? Ich bin der Ansicht, dass wir, um diese Frage beantworten zu können, die spekulative Rede von der Natur als unorganischem Körper einer erneuten Betrachtung unterziehen sollten.
Die Natur einen „unorganischen Körper" zu nennen, ist zum einen deswegen rätselhaft, weil sie so als ein Körper erscheint, was nahelegt, dass sie gewissermaßen eine Einheit, und sei sie intern differenziert, darstellt. Zudem stellt sich die dringliche Frage, warum man die Natur als „unorganisch und nicht als „organisch
bezeichnen sollte – was ist der Unterschied, und wie wird Ersteres zu Letzterem? Man könnte meinen, dass die Verwandlung vom Organischen zum Unorganischen das Resultat menschlicher Arbeit ist, aber tatsächlich ist hier – und zwar auch in Bezug auf das Problem der Subsistenz – das Gegenteil der Fall. Um zu begreifen, was das bedeutet, gilt es zunächst, den Unterschied zwischen dem Organischen und dem Unorganischen bei Marx zu verstehen, und schließlich zu erkennen, was es bedeutet, wenn diese beiden jeweils zu Modalitäten der Beschreibung des Körpers werden, oder genauer gesagt zu zwei Modalitäten, in denen der Körper erscheint.
Wie ich zu zeigen hoffe, bleibt uns nichts anderes übrig, als daraus zu schließen, dass der Mensch sowohl einen organischen als auch einen unorganischen Körper hat: Sein organischer Körper ist der, den er als klar umgrenzten und losgelösten, vom Rest der Natur getrennten erfährt, während die Natur – die ganze Natur – seinen unorganischen Körper konstituiert. Der Mensch ist also ein Körper, von einem anderen unterschieden, und gleichzeitig wird diese Unterscheidung von ihm selbst erlebt. Müssen wir also annehmen, dass es zwei Körper gibt, oder gibt es nur einen Körper, der sowohl eine organische als auch eine unorganische Dimension oder Modalität hat? Man könnte meinen, dass der organische Körper (den Marx den menschlichen Leib*⁴ nennt) losgelöst ist, der unorganische Körper (den Marx Körper* nennt) hingegen nicht und dass wir also keine absolute Unterscheidung zwischen diesen beiden Dimensionen annehmen sollten. Es wird jedoch schnell klar, dass dem organischen Körper (Leib*) ein lebendiger Aspekt eignet, der ihn vom unorganischen Körper unterscheidet. Das Problem wird noch komplexer durch die Tatsache, dass Leib* zumeist den erlebten Körper bezeichnet, während Körper* auch eine einfache, distinkte dichte Masse, tot oder lebendig, bezeichnen kann.⁵ Und doch wäre es wohl nicht richtig zu sagen, dass der unorganische Körper schlicht und einfach tot ist. Nein, die Natur ist lebendig, aber eben nicht ganz in demselben Sinn wie der Leib. Das Organische verhält sich also nicht zum Unorganischen wie das Leben zum Tod. Das Organische und das Unorganische sind Potentialitäten voneinander, und das Problem des Lebens scheint diese Unterscheidung auf eine Weise zu durchkreuzen, die es erst noch zu klären gilt.
Doch zunächst sollten wir fragen: Wie verstehen wir diese Unterscheidung, und wie beeinflusst unsere Interpretation der Aussage, die Natur sei ein „unorganischer Körper, unsere Antwort auf die Frage, ob Marx in seinen frühen Manuskripten eine anthropozentrische Sichtweise auf die Natur vertritt? Die Natur ist Gegenstand der Arbeit und zugleich bietet sie dem Arbeiter die Möglichkeit der Selbst-Reflexion; sie ist die Substanz, die er bearbeitet, und gleichzeitig das, was ihn in seiner Existenz fortbestehen lässt: Manchmal ist der Gegenstand, an dem der Arbeiter arbeitet, Nahrung. Selbstverständlich ist die Natur die Grundlage für die Verbindung eines Menschen mit anderen Menschen, aber sie ist auch das, was sein „Gattungswesen
konstituiert. Denn das menschliche Lebewesen mag zwar seiner eigenen Gattung angehören, aber wenn diese Gattung nur eine unter vielen ist und wenn sie als lebendige Gattung mit anderen Lebensformen verbunden ist, dann gilt es zunächst einmal zu verstehen, was das für eine Art von Verbindung oder Beziehung ist. Das könnte uns dabei helfen, den Sinn der Rede von der „Natur als unorganischem Körper des Menschen" besser zu verstehen.
Ich komme gleich zu der Passage, in der Marx diese Formulierung einführt, aber lassen Sie mich vorher etwas zum Kontext sagen. In den 1970er und 1980er Jahren fingen marxistische Theoretiker_innen im Vereinigten Königreich und anderswo an, der Frage nachzugehen, ob Marx’ Philosophie mit einem ökologischen Denken vereinbar sei. Manch eine_r stellte sich die Frage, ob die These, der zufolge die Natur der unorganische Körper