Werden: Ein Essay
Von Günter Hiller
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Über dieses E-Book
Damit darf Evolution nicht auf biologische Evolution beschränkt sein, sondern muss auch als kulturelle und physikalische Evolution verstanden werden können. Das erfordert ein allgemeines Evolutionsprinzip, das alle Bereiche abdeckt und erklären kann. Dazu wird ein interdisziplinäres Denken benötigt, wie es der Wahlspruch von T.S. Huxley, einem Weggefährten Darwins einfordert: Try to learn something about everything and everything about something.
Günter Hiller
Geboren 1943, graduierte ich 1970 von der Technischen Universität Berlin mit dem Diplom in Physik. In den folgenden 17 Jahren lebte und arbeitete ich als Geophysiker in 15 verschiedenen Ländern, immer in Kontakt mit fremden Kulturen und deren Denkweisen. Aus familiären Gründen kehrte ich nach Deutschland zurück, wo ich in der Mess- und Regeltechnik und als Technischer Leiter für die Entwicklung von Tierhaltungssystemen beschäftigt war. Rationale Physik war ein Standbein meiner Entwicklung aber immer nur ein Teil meines Lebens und meines Denkens.
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Buchvorschau
Werden - Günter Hiller
Inhalt
Einleitung
Allgemeines Evolutionsprinzip
Ein evolutionäres Universum
Wachsen und Werden
Das Babuschka-Modell I
Gott und Religion
Intersubjektive Fantasien
Gesellschaftsformen
Physikalische Evolution I
Werden
Ein neues Bild der Welt
Physikalische Evolution II
Das Babuschka-Modell II
Glossar
Literatur
In zwanzig Jahren wirst du mehr von den Dingen
enttäuscht sein, die du nicht getan hast,
als von den Dingen, die du getan hast.
Also mach die Bugleinen los.
Segle heraus aus dem sicheren Hafen.
Mark Twain
Einleitung
Der Begriff Werden beschäftigt die Philosophie seit ihren Anfängen. In der griechischen Philosophie wurde sehr wohl zwischen Sein und Werden unterschieden. Bedeutsam war der Wettstreit zwischen Paramenides von Elea (Das Sein ist) und Heraklit von Ephesos (Alles fließt – panta rhei), der in der abendländischen Denkweise mehr oder weniger zu Gunsten von Paramenides entschieden wurde. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass für die Lehre des Seins ein spezieller Begriff – Ontologie – geprägt wurde und darüber das Werden vernachlässigt wurde.
Platon interpretierte Vielfalt als Ausprägungen eines göttlichen Seins und machte ein weiteres Nachdenken über ein Werden praktisch überflüssig. Monotheistische Religionen verstärkten diese Ansicht, indem sie alles Geschehen einem übermächtigen Gott zuschreiben. Mit der Aussage die Wege des Herrn sind unergründlich wurde auch jede Suche nach möglichen Gründen im Keim erstickt.
Diese Denkweise beherrschte die Philosophie, die Religion und die Wissenschaften in Europa bis ins 19. Jahrhundert. Europa fühlte sich als Hort der Antike, als legitime Nachfolge von Athen und Rom und das Studium der griechischen Philosophen gehörte zum unverzichtbaren Teil einer anerkannten Ausbildung.
Das Sein war klar und einfach zu beschreiben, wohingegen das Werden extrem unorthodox erschien. Erst durch das Zusammenschrumpfen der Welt infolge verbesserter Reisemöglichkeiten kamen auch andere Denkrichtungen ins Blickfeld, die vielleicht am besten mit der Achsenzeit von Karl Jaspers beschrieben sind. Mit Achsenzeit bezeichnet Karl Jaspers die Zeit zwischen 800 v. Chr. und 200 v. Chr., in der sich unabhängig voneinander vier unterschiedliche Denkrichtungen (Achsen) entwickelt haben.
In China lehrten Konfuzius und Laotse, in Indien entstanden die Veden und Upanishaden und die Lehren Buddhas. Der vordere Orient wurde geprägt von den biblischen Propheten und Zarathustra im Iran und im Okzident waren es die griechischen Philosophen von Thales und Anaximander über Paramenides und Heraklit bis Sokrates, Platon und Aristoteles, die das abendländische Denken bestimmten.
China, Indien, vorderer Orient und Okzident lassen sich durchaus als Keimzellen unterschiedlicher Denkrichtungen verstehen, deren Grenzen sich im Laufe der Jahrhunderte verwischten. Es bleibt allerdings ein fundamentaler Unterschied zwischen den monotheistischen Denkweisen und den zumindest dualen oder pluralen Denkweisen ältere Kulturen.
Die Denkweise des Abendlands möchte ich kurz als monal apostrophieren. Monal heißt dabei, dass die Welt, das Sein klar und eindeutig beschrieben werden kann, was sich typischerweise in der Suche nach einer Weltformel ausdrückt.
Dem gegenüber steht der von Laotse begründete Daoismus oder Taoismus (Dao = Weg). Durch das Wirken des Dao wird die Schöpfung durch Zweiheit, das Yin und das Yang, Licht und Schatten, hervorgebracht, aus deren Wandlungen, Bewegungen und Wechselspielen dann die Welt hervorgeht. In den Wandlungen der Phänomene verwirklicht jedes Ding und Wesen spontan sein eigenes Dao. In dieser Formulierung wird nicht zwischen Ding und Wesen unterschieden, nicht zwischen tot und lebendig differenziert, sondern es werden nur spontane Wandlungen oder Veränderungen berücksichtigt.
Diese Denkweise möchte ich kurz als dual oder komplementär bezeichnen, wobei sich jede Pluralität letztlich auf aneinandergereihte Dualität zurückführen lässt. Als komplementär werden Beschreibungen dann bezeichnet, wenn beide zwar zusammengehören, sich aber die eine nicht durch die andere ausdrücken lässt.
Da der Begriff der Komplementarität so leicht missverstanden werden kann, soll er an dem einfachen Beispiel von Miteinander – Gegeneinander kurz erläutert werden. Miteinander ist mehr als ein Nicht-Gegeneinander und Gegeneinander etwas anderes als Nicht-Miteinander. Komplementaritäten heben sich nicht gegenseitig auf, wie sich Physiker das bei Materie und Antimaterie vorgestellt haben. Auch eine These und Antithese heben sich nicht gegenseitig auf, sondern ergänzen sich zu einer Synthese, einer neuen These.
Komplementaritäten ergänzen sich zu einer neuen, einer übergeordneten Einheit, einer emergenten Einheit, zu der es wieder ein Komplementär geben muss, das sich aber eben nicht durch die emergente Einheit beschreiben lässt! Das einfachste Beispiel ist eine Münze. Eine Münze hat untrennbar zwei Seiten, die aber völlig unabhängig voneinander gestaltet sein können.
Vermutlich ist Antimaterie eine Erfindung von monalen Physikern, die eine Verletzung des Energieerhaltungssatzes um jeden Preis verhindern wollen, ohne in Betracht zu ziehen, dass unsere Wahrnehmung, unsere Beobachtung, unsere Messgenauigkeit einen unteren Schwellenwert besitzt und besitzen muss, unterhalb dessen alle Prognosen und Vorhersagen versagen müssen. Auch das lässt sich als ein duales System betrachten, das duale (komplementäre) System aus Wahrnehmbarem und Nicht-Wahrnehmbarem.
Dieser Dualismus von Wahrnehmbarem und Nicht-Wahrnehmbaren wirft allerdings ein ganz neues Licht auf den Begriff Energieerhaltung. Man kann sich vorstellen, dass es zu jeder Entität ein Komplementär gibt, das wir Ko-Entität oder einfach Kontität nennen können. Wenn diese beiden Einheiten eine neue, eine emergente Einheit bilden, die man vereinfacht Syntität nennen wollte, ergibt sich eine einfache Gleichung:
Entität + Kontität = Syntität
Wenn diese drei Einheiten nun gerade so beschaffen wären, dass die Entität und die Kontität gerade nicht wahrnehmbar sind, wohl aber die Syntität, ergibt sich ein Problem der Beschreibung. Entweder gilt der Energieerhaltungssatz nicht oder wir müssen etwas beschreiben, was sich nicht beschreiben lässt, weil es nicht wahrnehmbar ist.
In beiden Fällen ergibt sich ein Dilemma, das zum Nachdenken anregt. Aus etwas Nicht-Wahrnehmbarem wird etwas Wahrnehmbares, und zudem etwas, was es zuvor noch gar nicht gab, etwas Emergentes. Der Begriff Emergenz leitet sich von dem lateinischen emergere „Auftauchen, „Herauskommen
, „Emporsteigen" ab und beschreibt die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.
So könnte beispielsweise der Energieerhaltungssatz gelten, obwohl die wahrnehmbare, das ist die gemessene oder beobachtete Energie zunimmt. Auf unser Universum und die Beobachtung der Hubbleschen Rotverschiebung bezogen, bedeutet das aber, dass das Urknallmodell und damit das expandierende Universum auf einer sehr fragwürdigen Annahme beruht. Die Verfechter der Urknalltheorie gehen davon aus, dass das, was wir wahrnehmen können, die ganze Wahrheit ist!
Da sich nicht einmal Entität und Kontität einheitlich beschreiben lassen (Komplementarität), ist somit eine Vorhersage der Syntität unmöglich. Man sollte davon ausgehen, dass eine Syntität entsteht, aber wie diese aussieht oder welche Eigenschaften sie hat, steht allein in der Zukunft. Das ist aber nichts anderes als das, was gemeinhin unter Unbestimmtheit oder Zufall verstanden wird. Die Begriffe Zufall und Unbestimmtheit werden im Verlauf des Essays teilweise synonym verwendet, da beide Begriffe in unserer Sprache existieren, eine Unterscheidung jedoch nicht einfach ist.
Würde man in einem Diagramm Entitäten als x-Achse und Kontitäten als y-Achse darstellen, dann könnte die Syntität theoretisch jeden beliebigen Punkt in diesem Diagramm annehmen, kann dann aber tatsächlich nur einen einzigen Wert realisieren. Zudem lässt auch keine Syntität verlässliche Hinweise auf ihre Ursachen, die ihr zugrunde liegende Entität und Kontität, zu. Das liegt vereinfacht daran, dass die beiden Achsen, Entität und Kontität keinen ähnlichen Charakter haben und keinen gemeinsamen ausgezeichneten Punkt (Null) besitzen.
Das Werden ist unbestimmt oder zufallsbedingt und somit für eine exakte wissenschaftliche Betrachtung ungeeignet, wobei die Betonung auf exakt liegen muss. Da sich Wissenschaft zumindest bis 1900 (Max Planck) immer als exakte Wissenschaft verstehen wollte, die auch konkrete Vorhersagen ermöglichte, konnte es bis dahin keine Wissenschaft des Werdens geben, wohl aber eine Erklärung von Wachsen und Wachstum.
Der Unterschied zwischen Wachsen und Werden lässt sich am einfachsten mit Struktur erklären. Beim Wachsen behält eine Entität ihre