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Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen: Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven
Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen: Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven
Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen: Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven
eBook1.020 Seiten11 Stunden

Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen: Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven

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Über dieses E-Book

Dieses Buch beleuchtet Wissensstand, Forschungsansätze, Ergebnisse sowie Perspektiven neurobiologischer Forschung zu forensisch-relevanten Störungen. Dabei wird sowohl auf allgemeine Rahmenbedingungen neurobiologischer Forschung bei forensisch-relevanten Fragestellungen, klinisch-relevante Störungsbilder mit besonderem forensischem Bezug - zu denen bspw. aggressives Verhalten, Persönlichkeitsstörungen, Sucht und Schizophrenie zählen - als auch auf Überlegungen zur künftigen Relevanz neurobiologischer Untersuchungen bei forensisch-psychiatrischen Fragestellungen eingegangen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Nov. 2009
ISBN9783170273825
Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen: Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven

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    Buchvorschau

    Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen - Jürgen Müller

    Vorwort

    Scanner in the court: Drei Worte, die für Zündstoff sorgen. Neueste wissenschaftliche Verfahren sollen endlich die bestehenden Uneindeutigkeiten in einem Gerichtsverfahren beseitigen. Ist dies nun ein Hilferuf nach objektiver Klarheit in Gerichtsverfahren, der Juristen in den Mund gelegt wird? Ist dies eine Anmaßung seitens empirischer Wissenschaftler, die lange Beweiswürdigungen durch eine apparative Untersuchung abkürzen und unwidersprechbar machen wollen? Oder ist dies ein Angebot, das inzwischen vorhandene und für deutlich unterschätzt empfundene Leistungsvermögen moderner Untersuchungsverfahren auch bei juristischen Fragestellungen in verstärktem Maße zu berücksichtigen? Naturgemäß wird je nach Profession, Standpunkt und Ausbildung die Reaktion anders ausfallen. Und nicht zuletzt hierum geht es in diesem Buch.

    Vielversprechend sind die Ergebnisse neurowissenschaftlicher Untersuchungen bei der exakteren Diagnosestellung, bei der empirischen Verhaltensprognose, bei der Unterscheidung von Lüge und Wahrheit mit bildgebenden Verfahren. Trotz dieser spektakulären Fortschritte stoßen die eingesetzten Techniken allerdings an ihre Grenzen, wenn sie vor Gericht gestellt, also normativen Ansprüchen genügen sollen. Statistische Wahrscheinlichkeiten sind nicht deckungsgleich mit dem vor Gericht geforderten Freisein von vernünftigen Zweifeln. Was vor Gericht für verwertbar und aussagekräftig gehalten wird, ist dem Zugriff der Neurowissenschaftlern entzogen. Diese gespürte Vernachlässigung neuester Forschungsbefunde und Perspektiven veranlasste manche Naturwissenschaftler das Recht und Gesetz an sich in Frage zu stellen und insbesondere zu fordern das Strafrecht durch ein naturwissenschaftliches Prognoserecht im Sinne eines Präventivrechts zu ersetzen. Entgegen dieser weitreichenden Forderung hielten die angesprochenen Verfahren wie PET, fMRT und brain finger printing zumindest in Deutschland in den meisten Gerichtssälen bislang keinen Einzug. Dies durchaus (noch) zu Recht.

    Der vorliegende Band Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen entspringt dem Arbeiten in diesem Spannungsfeld zwischen Neurowissenschaften, forensischer Psychiatrie und Psychologie und der Rechtsprechung. Die sich ergebenden Kapitel folgen unterschiedlichen Ansätzen und eröffnen verschiedene Perspektiven:

    Neurowissenschaftliche Forschungsansätze zielen nach der empirischen Basis forensisch-relevanten Verhaltens. Neurobiologische Gesetzmäßigkeiten bei Delinquenz, sexuellen Übergriffen, Legalbewährung werden aufgezeigt und deren Potenzial ausgelotet.

    Dagegen gilt es aus juristischer Perspektive zunächst die rechtlichen Grundlagen der gerichtsrelevanten Forschung überhaupt zu klären und festzulegen, welche Bedeutung diesen Ergebnissen in Gerichtsverfahren überhaupt zukommen kann.

    Auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie und Psychologie verändern und ergänzen aktuelle Befunde bestehende Konzepte. Einige ausgewählte Störungsbilder werden im Lichte neurowissenschaftlicher und neurobiologischer Erkenntnisse beleuchtet.

    Neurowissenschaftliche Modelle und Forschungsansätze zu speziellen Fragestellungen vor Gericht werden dargelegt, letztlich auch die Perspektiven und das Potenzial des Einsatzes neurowissenschaftlicher Designs umrissen.

    Zumindest im deutschsprachigen Raum handelt es sich um den ersten Versuch, hierzu Autoren verschiedener Disziplinen zusammenzuführen. Viele der Themen und der juristisch relevanten Aussage sind und bleiben umstritten. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der Interpretation der Gesetzeslage wider. Forschung mit forensisch-relevanten Störungen ist häufig Forschung mit Untergebrachten. Diese sind durch ihren Status bereits vulnerable Personen und damit besonders schützenswert. Zu Recht dürfen die Untergebrachten nicht zu Forschungszwecken, auch nicht zu Medikamentenstudien missbraucht werden. Andererseits darf auch der Status des Untergebrachtseins nicht dazu führen, dass Untergebrachte und ihre Therapeuten von jedem Fortschritt ausgeschlossen bleiben. Die spezifischen, zu einer Unterbringung führenden Symptome und die Wirksamkeit der Behandlung sind nur unter den spezifischen Bedingungen der Unterbringung aussagekräftig zu untersuchen. Forschung in diesem Bereich generell zu verbieten, benachteiligt die Untergebrachten und zwingt die Therapeuten zu Therapieversuchen ohne die genaue Wirksamkeit der verwendeten Verfahren zu kennen. Angesichts der ethischen, juristischen, medizinrechtlichen Implikationen sind klare Regelungen im Interesse aller dringend erforderlich.

    Vieles ist im Fluss. Die neuen und in einer dynamischen Fortentwicklung befindlichen Forschungsansätze stoßen auf Bewährtes und seit Jahrzehnten gültiges Recht. Vorschnelles Anpassen der Gesetzeslage an noch unausgereifte Vorstellungen wäre ebenso abträglich wie aussagekräftige Ergebnisse und Techniken gänzlich zu übergehen. Ziel des Sammelbandes ist es, den auf diesem Gebiet Tätigen einen Überblick über aktuelle Konzepte und zukunftsweisende Forschungsansätze, gegenwärtige Gesetzeslagen und für notwendig empfundene Anpassungen von renommierten und auf ihrem Gebiet ausgewiesenen Autoren zu liefern. Jenseits ihrer sachlichen Expertise fließen dabei stets auch persönliche Zielsetzungen, Bedenken, Wertungen der Autoren ein, wenn sie die praktische Relevanz der Inhalte ihrer Kapitel diskutieren. Der Herausgeber beschränkte sich auf im Interesse des Gesamtwerkes unverzichtbare Eingriffe. In einem Vielautorenwerk ist es unvermeidbar, ja sogar wünschenswert, dass die Heterogenität der Ansichten sich auch in den jeweiligen Kapiteln widerspiegelt.

    Das Wissen um die Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen wächst dramatisch, der Kenntnisstand ist in schneller Fortentwicklung. Dieser Band versteht sich als aktuelle Bestandsaufnahme wesentlicher Aspekte. Nicht alle gewünschten und erhofften Themen konnten in den Sammelband einfließen. Manche der Autoren überlegen bereits, welche Studien und Ergänzungen sie in eine mögliche Überarbeitung einfließen lassen. Manche der aufgegriffenen Diskussionen werden an Brisanz verlieren, andere Streitfragen in den Vordergrund treten. Es stimmt optimistisch, dass sich gerade auf diesem Spannungsfeld so viel entwickelt.

    Das Werk wird getragen von der Leistung und dem Engagement der beteiligten Autoren. Diese verdienen meinen allergrößten Dank. In die Konzeption und Diskussion des Werkes haben viele Freunde und Bekannte, nicht zuletzt meine Mitarbeiter wertvolle Beiträge eingebracht und mit wichtigen Anmerkungen und Hilfestellungen das Projekt mitgestaltet. Insbesondere mussten die Ideen zu Papier gebracht und umgesetzt werden. Hierfür danke ich Herrn Dr. Poensgen und Frau Köhler, die seitens des Kohlhammer Verlages wertvolle Unterstützung geleistet haben sowie Frau Hackspiel und Frau Busse, die in Göttingen tatkräftig zum Gelingen beigetragen haben.

    Göttingen, im September 2009

    Jürgen Müller

    Teil I – Allgemeine Aspekte

    1 Geschichtliche Wurzeln der forensischen Psychiatrie und ihr Verhältnis zur Hirnforschung

    Hans-Ludwig Kröber

    Forensische Psychiatrie ist die wissenschaftliche Sichtung, Auswertung und Darstellung der Erfahrung aus psychiatrischer Begutachtungs- und Forschungstätigkeit, die sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt und zu einem großen Bestand an empirischem Wissen geführt hat. Dies geschah im Abgleich mit anderen psychiatrischen Forschungsfeldern, aber auch der kriminologischen Forschung. Das jeweils geltende öffentliche, Zivil- und Strafrecht hat dafür notwendige Rahmenbedingungen und Fragestellungen geliefert; gleichwohl begnügt sich das Fach nicht annähernd mit der Aufgabe, „Gehilfe des Gerichts" zu sein. Vielmehr ist es gleichermaßen Medizin, nämlich Psychiatrie, und empirische Sozialwissenschaft. Es geht um die grundlegende Abklärung der Bedeutung von psychischer Verfassung, Persönlichkeit und psychischer Krankheit für die Bewährung des Einzelnen in der Begegnung mit den anderen und mit den sozialen Anforderungen und Regeln.

    Soweit forensische Psychiatrie involviert ist in die Strafrechtspflege, hat sie es mit sozial abweichendem oder unerwünschtem Verhalten von Menschen zu tun. Es stellt sich die primäre Frage, ob sie bereit ist, für soziales Verhalten soziale Ursachen gelten zu lassen, also zum Beispiel Schichtzugehörigkeit, soziales Lernen, Rollenzuweisungen, kulturelle Einflüsse, oder ob sie kulturelle und soziale Einflüsse für bloße Epiphänomene hält und jeglichen Aspekt menschlichen Verhaltens für somatisch determiniert ansieht. Letztgenannte Haltung nennt man Biologismus (Velden 2005); eine Spielart des Biologismus ist der Rassismus, welcher glaubt, die Unterschiede zwischen Ethnien seien durch deren biologische Unterschiedlichkeit bedingt. Der Biologismus floriert, derweil der Kulturalismus vor allem in den alten Geistes- und Sozialwissenschaften, welche vor einigen Jahrzehnten eine „kulturelle Wende vollzogen hatten, im Sinkflug begriffen ist. Ihnen galt seither das, was man vormals gerne der „Natur des Menschen zuschrieb, als „kulturelles Konstrukt"; inzwischen möchten sich hier manche gerne der Hirnforschung unterwerfen, als Neuro-Philosophie, Neuro-Ethik, Neuro-Germanistik oder schlicht als Soziobiologie. Auch die forensische Psychiatrie, die bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ein Somatose-Tabu hochhielt, über das nicht zuletzt Strafrechtler und Kriminologen wachten, bekommt inzwischen am leichtesten Forschungsgelder, wenn sie Projekte der biologischen Forschung vorlegt. Umso sinnvoller erscheint es, sich die historische – mithin soziale – und ideengeschichtliche Einbindung des Faches zu vergegenwärtigen, wenn man sich mit einzelnen biologischen Aspekten normalen wie ungewöhnlichen menschlichen Verhaltens befasst.

    1 Zur Entwicklungsgeschichte der Psychiatrie

    Der Kampf um die Etablierung der Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts fiel zeitlich etwa zusammen mit der Entwicklung der modernen Strafrechtswissenschaft und fand in dieser einen wichtigen Gesprächspartner, auch zur Begründung eigener wissenschaftlicher wie institutioneller Ansprüche. Anders als die Strafrechtswissenschaft konnte sich die junge Psychiatrie kaum auf einen jahrhundertelangen, teils bewährten Corpus von Einsichten und Dogmen stützen.

    Das erste Jahrhundert der wissenschaftlichen Psychiatrie von 1800–1900, in dem sie zudem ihre basalen Positionen zur Frage von Schuldfähigkeit und verminderter Schuldfähigkeit bezog, war geprägt durch drei zentrale Gegenstände (Kröber 2001):

    die wissenschaftliche Sichtung des „Materials, mit dem sich dieses Fach zu befassen hat, und der „Methoden, mit denen dies geschehen könnte,

    durch den Kampf um die wissenschaftliche/universitäre Anerkennung und Verselbstständigung sowie

    durch die Etablierung eines psychiatrischen Versorgungssystems (Anstaltswesens) und den Kampf zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie.

    Viel spricht für die Anschauung, dass am Ausgangspunkt der Entwicklung des Faches die Betrauung mit einer sozialen Aufgabe stand, nämlich der Musterung der zunehmend aus feudalen Bindungen und Sicherungen gelösten, behinderten, kranken, dissozialen, wohnungslosen, kriminellen Gruppen innerhalb der Gesellschaft unter dem Blickpunkt polizeilicher und auch medizinischer Intervention. Diese Aufgabenzuweisung ist allerdings nicht vorstellbar ohne den Fortschritt in der Entwicklung der medizinischen Wissenschaften durch die zunehmende Anwendung naturwissenschaftlich-empirischer Verfahren. Die erste, noch kurzlebige wissenschaftliche Fachzeitschrift in Deutschland erschien 1805, 1808 prägte Johann Christian Reil den Begriff „Psychiatrie (Mechler 1963), ungleich älter waren Begriffe wie „Seelenkunde und insbesondere „Psychologie, der auf Melanchthon zurückgeht (Janzarik 1972, S. 593). Die ersten, im 19. Jahrhundert bedeutsamen Lehrbücher der forensischen Psychiatrie nannten sich solche der „Criminal-Psychologie (Heinroth 1833) oder der „gerichtlichen Psychologie" (Friedreich 1835, 1852). Die Geschichte der Psychiatrie ist jüngst erneut materialreich dargestellt worden bei Schott und Tölle (2005), knapp bei Blasius (1994) und mit Schwerpunkt auf forensischer Psychiatrie bei Christian Müller (2004).

    Tatsächlich gab es eine rechtsmedizinische Begutachtung, unter Einschluss psychiatrischer Fragestellungen, natürlich schon vor dem 19. Jahrhundert. Auf dem Boden der Constitutio Criminalis Carolina von 1532, die psychische Gestörtheit als allgemeinen Milderungsgrund anerkannte (Art. 179 für den Täter, „der jugent oder anderer gebrechlicheyt halben, wissentlich seiner synn nit hett), und dann insbesondere der „Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium von Carpzow (1595–1666), „das die deutsche Strafrechtspflege über ein Jahrhundert hindurch mit nahezu gesetzesgleicher Wirkung beherrschte" (Lenckner 1972, S. 81), entwickelte sich im 17. und 18. Jahrhundert ein medizinisches Begutachtungswesen durch Syndici und Kollegien der Medizinischen Fakultäten, das im Wesentlichen durch Fallsammlungen zu einer Sammlung von Wissen und zur Herausbildung von diagnostischen und Beurteilungsmaßstäben führte (Lorenz 1999). Laut Kahl (1913, S. 26) unterschieden die Kommentatoren des 17. und 18. Jahrhunderts bereits zwischen poena und custodia, er sieht darin Vorläufer des von ihm geforderten zweigleisigen Systems von Strafe und Maßregel. Ihren Bezugspunkt fanden die Begutachtungen in deutschen Partikulargesetzen wie dem Bayrischen Gesetzbuch von 1751, das jene, denen der Verstand nur halb verrückt sei, von der ordentlichen Strafe befreite, oder dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 (Teil II, 20, I, § 16: „Wer frei zu handeln unvermögend ist, bei dem findet kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt. § 18: „Alles, was das Vermögen eines Menschen, mit Freiheit und Überlegung zu handeln, mehrt oder mindert, mehrt oder mindert auch den Grad der Strafbarkeit. In Art. 11 §§ 2 ff. waren die psychischen Verfassungen bzw. Krankheiten benannt, die in Frage kamen, so „völlige Gemütsverrückung, als bey Toll und Unsinnigen", Rausch, Taubstummheit etc.).

    Gegenstand einer zunehmend eigenständigen wissenschaftlichen medizinischen Disziplin war die psychiatrische Begutachtung aber in der Tat erst ab dem 19. Jahrhundert. Die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden wissenschaftlichen Organe waren von Beginn an Zeitschriften für allgemeine und gerichtliche Psychiatrie. Dies implizierte nicht nur strafrechtliche Fragen, sondern nicht minder öffentlich-rechtliche bzw. verwaltungsrechtliche. Zugleich war der Status des Faches aber noch durchaus ungeklärt: Gehört es an die Universität? An der altehrwürdigen Heidelberger Universität wurde Psychiatrie seit 1811 gelesen, aber quasi als theoretisches Fach ohne Patienten. 1826 wurde die Irrenabteilung des Pforzheimer Waisen-, Zucht-, Siechen- und Tollhauses mit 200 Insassen in das Heidelberger Jesuitenkonvikt verlegt und der Universität assoziiert (Janzarik 1979). Bereits 1842 wurde diese Irrenanstalt mitten in der Stadt wieder geschlossen, die Insassen wurden in die neugebaute Anstalt Illenau übersiedelt. Erst 36 Jahre später, im Oktober 1878, eröffnete die Psychiatrische Universitätsklinik, 1901 wurde Psychiatrie medizinisches Prüfungsfach. Erst Ende des 19. Jahrhunderts also war das Fach einigermaßen sicher etabliert, und zwar als medizinisches. Auch dies war das 19. Jahrhundert über streitig, wie bei der Psychologie hatte man auch an eine Zuordnung zur philosophischen Fakultät gedacht (was nicht zuletzt manche konkurrierende medizinische Fachvertreter wünschten), und personell blieben die Übergänge zwischen Philosophie, Psychologie und Psychiatrie bis ins 20. Jahrhundert fließend.

    Wenn gesagt wurde, die Psychiatrie sei im 19. Jahrhundert mit der Sichtung des Materials befasst gewesen, so geschah dies in zwei Richtungen. Zum einen war insbesondere die erste Hälfte des Jahrhunderts von einem Aufschwung der Theoriebildung begleitet, es entwickelte sich der Kampf zwischen den „Psychikern und „Somatikern, zwischen der romantischen Psychiatrie und der naturwissenschaftlich-materialistisch orientierten Psychiatrie; es kam zu einer Sichtung des theoretischen, des Ideenrepertoires. Bekannt ist Griesingers Diktum (1871), dass psychische Krankheiten Gehirnkrankheiten seien. Zum anderen war insbesondere die zweite Hälfte des Jahrhunderts durch eine Sammlung und Sichtung der Krankheitsphänomene und möglichen Krankheitsursachen gekennzeichnet, am markantesten abzulesen im wissenschaftlichen Werk und der wissenschaftlichen Methodik von Emil Kraepelin, dem eine zunehmende Überfüllung der Heidelberger Klinik mit Patienten reiches Anschauungsmaterial bescherte, das es zu erfassen, zu ordnen und zu katalogisieren galt, mit dem Ziel, es hinsichtlich Ursachen, Verlauf und Behandelbarkeit zu verstehen.

    Tatsächlich war dieser Prozess der empirischen Nosologie an der Jahrhundertwende noch keineswegs abgeschlossen, und insbesondere fehlte noch eine einigermaßen einheitliche, wissenschaftlich begründete Fachsprache, die Psychopathologie, für die verbindliche Benennung der Krankheitssymptome und deren sachlich begründete Differenzierung, Ordnung und Zusammenfassung in Syndromen. Dies wurde im Wesentlichen erst mit der Allgemeinen Psychopathologie von Jaspers im Jahre 1913 geleistet. In seiner Autobiografie erinnert Jaspers an den babylonischen Sprachenwirrwarr in der Psychiatrie, den es zu überwinden galt und den er überwand (Jaspers 1977). „Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft (Janzarik 1979) der Psychiatrie erwies sich als geeignet, die Spaltung in „Psychiker und „Somatiker zu überwinden zugunsten einer Phänomenologie psychischer Störungen (wie auch des normalen Seelenlebens), die ihre Eigenständigkeit und Vorgängigkeit gegenüber einer Ursachenerforschung und Ursachenzuschreibung (psychogen vs. somatogen vs. „mehrdimensionale Ansätze) bis heute erweist.

    Dass diese Arbeit wohl angelegt war, zeigte sich in der „Krise der psychiatrischen Diagnostik (Saß 1987) in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, die vor allem eine Krise der amerikanischen psychiatrischen Diagnostik war. Beklagt wurde damals die Beliebigkeit der Diagnosen infolge einer großen Anzahl pathogenetisch orientierter Konzepte psychischer Störung, die insbesondere im angloamerikanischen Raum stark durch die Psychoanalyse beeinflusst waren. Paradoxerweise war es die Pathogenese der psychischen Störungen, über die man wenig wusste und die mithin zu Spekulationen einlud, die die vielfältig divergierenden diagnostischen Konzeptionen bestimmte. Anscheinend ist der in der juristischen Literatur, bisweilen mit einem gewissen Erschaudern, geäußerte Verweis auf die „Schulenstreitigkeiten in der Psychiatrie (z. B. Schild 1990) auf diese Etappe einer kritischen Zuspitzung eines erneuten Sprachenwirrwarrs bezogen, die sich allerdings in Deutschland wesentlich moderater darstellte und inzwischen weitgehend überwunden ist.

    Wesentlich unsicherer war die Diagnostik selbst schwerer Erkrankungen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts. Es gab eine noch unzureichende Unterscheidung zwischen bedeutungslosen und diagnostisch wegweisenden Symptomen, ein eingeschränktes Wissen über Vorstadien und Verläufe, und insbesondere ein eingeschränktes Wissen über die Bedeutsamkeit organischer Faktoren. Die entscheidenden Arbeiten des Berliner Psychiaters K. Bonhoeffer über die Psychopathologie organischer Psychosen wurden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts veröffentlicht (Bonhoeffer 1905, 1910). Infolge von umfassender Gesundheitsfürsorge ab der Geburt, dem Vorhandensein von Antibiotika, Insulin und anderen essenziellen Arzneimitteln sowie von Jahrzehnten ohne Krieg und Hungersnöte wird heute leicht vergessen, dass das Gros der psychisch Kranken im 19. Jahrhundert und bis in die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein allein oder zusätzlich durch körperliche, speziell Hirnerkrankungen und -verletzungen, beeinträchtigt war. Laut Schild (1990, S. 641) waren etwa 30 % der Anstaltspatienten um die Jahrhundertwende Paralytiker. Als somatisch orientiertes Fach hatte die Psychiatrie unbestreitbar ihre größten Erfolge: mit der Entdeckung der Ursachen der Progressiven Paralyse, schrittweise und in enger Verzahnung mit innerer Medizin und Neurologie 1905 bis 1913, und mit der Entdeckung der antipsychotischen, antidepressiven und anxiolytischen Psychopharmaka in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, die eine grundlegende Wandlung des Anstaltswesens durch Enthospitalisierung erlaubten.

    2 Der geborene Kriminelle: der Psychopath

    Im Zentrum des Interesses der forensischpsychiatrischen und kriminologischen Diskussion um 1900 standen die Rückfalltäter, denen man „minderwertige oder „abartige Persönlichkeitsverfassungen zuschrieb.

    Sie waren weder als ungestört noch als krankhaft einzuordnen, man bezeichnete sie damals und heute erneut als Psychopathen. In Deutschland wurde der Begriff „Psychopath bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein für Sachverhalte verwendet, die wir heute generell „Persönlichkeitsstörung nennen – es gab mithin z. B. auch zwanghafte und asthenische Psychopathen (Kröber 1995, 2001). So beschrieb Griesinger den Zwang als einen „wenig bekannten psychopathischen Zustand. Die angloamerikanische Psychiatrie hingegen bezeichnete als „Psychopath ausschließlich Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstruktur. Im neueren Schrifttum im Gefolge von Hare (1970, 1991) ist mit „Psychopathy", nochmals enger, ein besonderer Typus des Dissozialen/Antisozialen gemeint, der sich durch hohe Aktivität und Durchsetzungsbereitschaft, Eloquenz und oberflächlichen Charme, Geltungsbedürfnis und fehlende emotionale Ansprechbarkeit auszeichnet. Jedenfalls reklamierten bereits vor 100 Jahren die damaligen Psychiater mit Vehemenz ihre Zuständigkeit für diese Rechtsbrecher. Offenbar spielte hier ein Optimismus eine Rolle, des Problems Herr zu werden, der allerdings die nachfolgenden Jahrzehnte über nicht bestätigt wurde. Was tatsächlich im Umgang mit persönlichkeitsgestörten oder einfach sozial verwahrlosten Rechtsbrechern geschah, insbesondere dann 1933–1945, verdeutlichen die Studien von Chr. Müller (2004) für die Psychiatrie und Wachsmann (2006) für das Gefängnis- und Lagersystem.

    Der Optimismus rührte aus der naturwissenschaftlichen Auffassung des Problems. 1859 war Darwins Werk über den Ursprung der Arten erschienen, die Medizin und speziell die Psychiatrie beschäftigte sich intensiv mit der Frage der „Entartungen, der „Degenerationen. 1857 hatte der führende französische Psychiater Morel einen idealen „type primitif postuliert, von dem sich die Menschheit zunehmend entferne; Vererbung wurde weitgehend mit Degeneration gleichgesetzt, zumindest mit dem Risiko der Degeneration. So war auch Lombrosos „uomo delinquente ein Degenerierter, der entsprechend seiner Anlage – die Lombroso und andere naturwissenschaftlich und soziologisch zu vermessen suchten – auf eine primitivere Entwicklungsstufe zurückgesunken war (Lombroso 1876, vgl. Strasser 1984, Kröber 1997). „Der Degenerationsbegriff hatte sich dadurch rasch unentbehrlich gemacht, dass er ein Unterkommen für die in der älteren Psychiatrie vernachlässigten Fälle zwischen Gesundheit und psychischer Krankheit bot" (Janzarik 1972, S. 602).

    Gemeinsam war den unterschiedlichen Benennungen (Neurasthenie, Hypochondrie, Neuropathie, Neurose, epileptoide Psychopathen etc.) bis hin zur sexuellen Perversion (psychopathia sexualis, Invertierung) die Annahme, dass ihre Grundlage in genetisch bedingten, degenerativen Hirnprozessen zu suchen sei. Der gerade forensisch bedeutsame von Krafft-Ebing (1892) war Entartungstheoretiker par excellence. J. L. A. Koch (1891) verdankt sich die Unterscheidung zwischen den (primär auch als degenerativ gedachten) Psychosen und den degenerativ bedingten „psychopathischen Minderwertigkeiten, aus denen dann bei Kraepelin (1915) in der 8. Auflage seines Lehrbuchs die „psychopathischen Persönlichkeiten wurden. Obwohl auch Freud seine „Neurosen als somatisch verursachte Zustände ansah, dienten schließlich die Begriffe „psychopathisch und „neurotisch zur Unterscheidung zwischen „anlagebedingten und „psychisch bedingten" psychischen Symptombildungen.

    Wenn Psychopathien aber Folge von Hirndegenerationen waren, „heredodegenerativ" wie manche neurologische Erkrankungen, waren sie Erkrankungen, nur mit leichterer Symptomatik. Erkrankungen hieß hier primär, dass durch die Hirnprozesse die psychische Verfassung und das Handeln determiniert seien. Die Zeit um 1900 war eine Blütezeit des naturwissenschaftlichen Determinismus, der Mensch wurde im Maschinenmodell erfasst, die Abläufe in vivo wurden denen in vitro gleichgesetzt, der „freie Wille" zur mitleidig belächelten Fiktion.

    Die naturwissenschaftlich-somatische, heute würde man sagen: biologische Orientierung der damaligen Psychiatrie im Verbund mit einem deterministischen Konzept von Person, Denken und Handeln ist interessant, weil wir uns heute wieder in einer Blütezeit der auf das somatische Substrat orientierten, nun molekulargenetischen, neurophysiologischen und biochemischen Hirnforschung befinden, die zu Teilen durchaus den Anspruch erhebt, dereinst jedes menschliche Denken, Fühlen und Verhalten als ein präformiertes, determiniertes Computerprogramm nachweisen zu können.

    Tatsächlich hat sich das Strafrecht nie daran gestört, dass menschliches Verhalten durch vernünftige Gründe „determiniert sein kann, die wiederum eine materielle, biologische Verankerung haben. Bis heute prägend blieb die Formulierung von Franz von Liszt (1896), das Wesen der Zurechnungsfähigkeit liege in der „normalen Bestimmbarkeit durch Motive. In seinem Gefolge stellte der einflussreiche Jurist Mezger (1913) dann fest, das Strafgesetzbuch (StGB) bestrafe nicht den Menschen, sondern seine Tat. Das StGB bestrafe die Tat um ihrer Normwidrigkeit willen. Voraussetzung der Tat sei die Fähigkeit des Täters, normgemäß zu handeln. Die Möglichkeit, normgemäß zu handeln, liege in der Vernunftanlage des Menschen, in dessen Fähigkeit, sein Handeln nicht durch augenblickliche Reize bestimmen zu lassen. „Wo diese Fähigkeit vernünftiger Bestimmung des eigenen Willens im Allgemeinen gegeben ist, ist der Mensch zurechnungsfähig; wo sie fehlt, müssen wir ihn als unzurechnungsfähig ansehen (Mezger 1913, S. 43). Auch Mezger behandelt eingangs das Problem der Willensfreiheit, um es dann, mit erkennbarer Sympathie für die deterministische Position, als nicht entscheidbar zur Seite zu schieben. Ausgiebig zitierte er aus Schopenhauers „Festschrift über die Willensfreiheit (1840), wo es heißt (S. 618 f.):

    „Es gibt eine Tatsache des Bewußtseins – Diese ist das völlig deutliche und sichere Gefühl der Verantwortlichkeit für das, was wir tun, der Zurechnungsfähigkeit für unsere Handlungen, beruhend auf der unerschütterlichen Gewissheit, daß wir selbst die Täter unserer Taten sind. Vermöge dieses Bewußtseins kommt es keinem, auch dem nicht, der von der im bisherigen dargelegten Notwendigkeit, mit welcher unsere Handlungen eintreten, völlig überzeugt ist, jemals in den Sinn, sich für ein Vergehn durch diese Notwendigkeit zu entschuldigen und die Schuld von sich auf die Motive zu wälzen, da ja bei deren Eintritt die Tat unausbleiblich war. Denn er sieht sehr wohl ein, dass diese Notwendigkeit eine subjektive Bedingung hat und daß hier obiective, d. h. unter den vorhandenen Umständen, also unter der Einwirkung der Motive, die ihn bestimmt haben, doch eine ganz andere Handlung, ja die der seinen gerade entgegengesetzte sehr wohl möglich war und hätte geschehn können, wenn er nur ein a n d e r e r gewesen wäre: hieran allein hat es gelegen. Ihm, weil er dieser und kein anderer ist, weil er einen solchen und solchen Charakter hat, war freilich keine andere Handlung möglich; aber an sich selbst, als obiective, war sie möglich. Die Verantwortlichkeit, derer er sich bewußt ist, trifft daher bloß zunächst und ostensibel die Tat, im Grunde aber seinen Charakter: Für diesen fühlt er sich verantwortlich. Und für diesen machen ihn auch die anderen verantwortlich, indem ihr Urteil sogleich die Tat verläßt, um die Eigenschaften des Täters festzustellen, [...] auf seinen Charakter laufen ihre Vorwürfe zurück. Die Tat, nebst dem Motiv, kommt dabei bloß als Zeugnis von dem Charakter des Täters in Betracht, gilt aber als sicheres Symptom desselben, wodurch er unwiderruflich und auf immer festgestellt ist."

    3 Hirnforschung und forensische Psychiatrie

    Die Hirnforschung ist in ihrer Geschichte nicht eng in die Psychiatrie oder gar die forensische Psychiatrie integriert gewesen; sie stand bis vor wenigen Jahrzehnten stets in einer gewissen Entfernung zum Fach, weil sie stets nur sehr beschränkte klinische Anwendungsmöglichkeiten hatte. So bewunderte Kraepelin beispielsweise die experimentelle Psychologie von Wilhelm Wundt, und er betrieb gleichsinnige Experimente; berühmt jedoch wurde er als psychopathologischer Schöpfer einer klinischen Nosologie. Auch heute sind die eigentlichen Hirnforschungseinrichtungen nicht in psychiatrischen Kliniken lokalisiert, sondern kooperieren mit diesen. Tatsächlich ging die klinische Forschung der biologischen fast stets voran: die klinische Forschung entwickelte die Fragen, die man auf der somatischen Ebene zu beantworten versuchte. So ist auch heute noch die biologische Forschung in der Psychiatrie in aller Regel eine zweigleisige: Abgeglichen werden Sachverhalte aus dem psychologischen Raum – psychopathologische Symptome, Emotionen, kognitive Muster – mit biologischen Sachverhalten, die sich mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassen lassen, also elektrophysiologischen, biochemischen, strukturellen und topografischen Merkmalen. Sigmund Exner (1894) hat es den „Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen" genannt. Dies ist das große Projekt des Naturalismus, für alle nur subjektiv, psychisch erfassbaren Phänomene deren materielles Substrat aufzufinden (Pauen 2007). Fraglos kann dies ein Weg sein, um zu therapeutischen Interventionen auf der materiellen Ebene zu kommen. Allerdings wissen wir, dass therapeutische Interventionen auch auf anderen Ebenen, zum Beispiel der psychischen Ebene, möglich sind. Besondere Faszination, nicht zuletzt beim Laienpublikum, entfalten natürlich bildgebende Verfahren (Gehring 2004). Naturalismus ist ein legitimes Projekt; bezogen auf ein bestimmtes Fach allerdings kann es wichtigere Forschungsziele geben als die physikalische Fundierung bestimmter Verhaltensmuster.

    Es gibt inzwischen eine ganze Reihe lesenswerter Bücher zur Geschichte der Hirnforschung (Breidbach 1997; Hagner 1997, 2001; Düwecke 2001; Oeser 2002). Diese beginnt in der Antike mit der Diskussion darüber, wo der Sitz des Seelischen sei, in Leber, Herz oder Hirn, und der Entdeckung der Nerven. Im Mittelalter machte sich Leonardo da Vinci um die Hirnforschung verdient, indem er die Hirnventrikel untersuchte, die in der aristotelisch-scholastischen Theorie als Sitz der Seele galten. Einen entscheidenden Aufschwung gab es dann mit einer Vielzahl von Erkenntnissen durch die genauen anatomischen Untersuchungen über den Bau des Gehirns, u. a. von Thomas Willis, im 17. Jahrhundert. Man erkannte, dass das Gehirn nicht wie die Leber als homogene Masse, sondern mit vielen lokalisierten Teilfunktionen arbeitet. Von Anfang an gab es einen gewissen Widerstreit zwischen topografischer und systemisch-funktioneller Sichtweise, die sich gegenseitig befruchteten. Zugleich gab es lokalisatorische Sackgassen wie die Phrenologie, die gleichwohl ein Jahrhundert lang die Auffassungen von Wissenschaftlern dominierte, nicht zuletzt im Bereich der biologistischen Kriminologie von z. B. Lombroso (1876), die Schädel vermaß und zusammengewachsene Augenbrauen vermerkte. Man erkannte schließlich die unterschiedlichen Neuronen als Arbeitseinheit; Exner (1894) entwickelte früh (und lange folgenlos) den genialen Gedanken des neuronalen Netzwerks. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert konnte dann einer Vielzahl von Hirntraumen und neurologischen Krankheiten ein cerebrales Korrelat zugeordnet werden. Bedingt durch eine immense Anzahl von Hirntraumatikern im Gefolge der Kriege und vieler Arbeitsunfälle konnte bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts an klinischen Fällen eine sehr kleinteilige Topografie der Hirnfunktionen erstellt werden, die gegenwärtig mit modernen bildgebenden Verfahren bestätigt wird. Die Nutzanwendung betraf vor allem neurologisch Kranke, aber auch organisch bedingte psychische Störungen. Mit „organisch sind hier die erworbenen Krankheitszustände gemeint, verursacht durch Hirnverletzungen, Hirnentzündungen, Hirntumore und die Komplikationen systemischer Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Alkoholismus. Zugleich bestand aber stets auch ein großes Interesse zu erfahren, wie „endogene psychische Krankheiten – Schizophrenien, manisch depressive Erkrankungen – und wie Persönlichkeitsstörungen cerebral bedingt sind und wie „normale" Menschen in ihrem Gehirn aussehen. Natürlich möchten wir wissen, wie die Struktur und Funktion des Menschenhirns unser Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln ermöglicht und begrenzt.

    Hagner (2004) weist darauf hin, dass jeweils drei Personengruppen das besondere Interesse der Hirnforscher gefunden haben, nämlich die Irren, die Kriminellen und die Genialen. So erklärte bereits Lichtenberg 1771 in seinen „Sudelbüchern (1973, S. 9): „Um einen Grund in dieser schweren und weitläufigen Wissenschaft zu legen, müsste man bei verschiedenen Nationen, die größten Männer, die Gefängnisse und die Tollhäuser durchsehen, denn diese Fächer sind so zu reden die drei Hauptfarben, durch deren Mischung gemeiniglich die übrigen entstehen. Die Erforschung der Abweichung und des Extremen sei dabei in zwei Richtungen erfolgt: Zum einen durch eingehende (Selbst-)Beobachtungen, Krankengeschichten und eine „Pathologie der Seele", zum anderen durch eine semiotische Abtastung des Körpers, wobei die Zeichen des Außergewöhnlichen und der Devianz in die Körperstruktur selbst verlegt werden (Hagner 2004, S. 21).

    In der Tat kann man die gegenwärtige bildgebende, topografische Hirnforschung, die nach den Zeichen der Mordbereitschaft, der Pädophilie oder des Steuerbetrugs im Gehirn fahndet, als eine nun unter die Körperoberfläche, unter die Kalotte vordringende Semiotik verstehen, als eine Zeichenkunde. Interessant ist, dass im materialistischen Konzept dann das Zeichen – z. B. das EEG-Potenzial oder das Sauerstoff-Verbrauchsmuster einer bestimmten Neuronengruppe – identisch wird mit der Essenz, ja als die Essenz der Mordbereitschaft oder der Pädophilie angesehen wird. Um allerdings zu verstehen, was man sieht, wenn man aktivierte Neuronen sieht, muss man stets wissen, was auf der „subjektiven", der psychischen Ebene geschieht, und so steht und fällt die Qualität der Hirnforschung nicht selten mit der Qualität, mit der die psychische Ebene operationalisiert wird. Diese wiederum ist das Terrain der Psychologie und der deskriptiven Psychopathologie.

    Breidbach (1997) hat verdeutlicht, dass sich die Geschichte der Hirnforschung als die Geschichte eines sich mehr und mehr präzisierenden Fragens nachzeichnen lässt. Dabei hat sie stets Anleihen außerhalb ihres Faches gemacht; tatsächlich gingen dem, was man erforschte, stets (natur)philosophische Konzepte voran, die dann empirisch mehr oder weniger bestätigt wurden. Es war also nicht so, dass man sich das Gehirn einfach nur immer genauer angeschaut und in immer feinere Scheiben geschnitten hätte und dadurch zu immer besseren Erkenntnissen gekommen wäre. Vielmehr hat man im Lauf der Zeit immer neue Konzepte zur Funktionsweise, zur Struktur und Mechanik des Organs entwickelt und diese dann am Gehirn empirisch überprüft. Es machte einen Unterschied, ob man von Säften als entscheidendem Agens ausgeht, von Zellfunktionen, von elektrophysiologischen Potenzialen, von biochemischen Informationssystemen, ob von Maschinen-, Computer- oder Netzwerkmodellen. Diese Fragen werden an das Forschungsterrain herangetragen und in Forschungsprojekte umgesetzt; und gerade die bildgebenden Verfahren verdeutlichen, wie viel Anteil dabei technische Untersuchungsverfahren haben, die überwiegend nicht primär für die Hirnforschung entwickelt wurden.

    Im September 2004 veröffentlichten „führende Neurowissenschaftler (Elger et al. 2004) ein „Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Darin heißt es:

    „Was wir in zehn Jahren über den genaueren Zusammenhang von Gehirn und Geist wissen werden, hängt vor allem von der Entwicklung neuer Untersuchungsmethoden ab. Das ‚wo‘ im Gehirn, über das uns heute die funktionelle Kernspintomografie Auskunft gibt, sagt uns noch nicht, ‚wie‘ kognitive Leistungen durch neuronale Mechanismen zu beschreiben sind. Für einen echten Fortschritt in diesem Bereich benötigen wir ein Verfahren, das eine Registrierung beider Aspekte in einem ermöglicht.

    Wie entstehen Bewusstsein und Ich-Erleben, wie werden rationales und emotionales Handeln miteinander verknüpft, was hat es mit der Vorstellung des ‚freien Willens‘ auf sich? Die großen Fragen der Neurowissenschaften zu stellen ist heute schon erlaubt – dass sie sich bereits in den nächsten zehn Jahren beantworten lassen, allerdings eher unrealistisch. Selbst ob wir sie bis dahin auch nur sinnvoll angehen können, bleibt fraglich. Dazu müssten wir über die Funktionsweise des Gehirns noch wesentlich mehr wissen. [...]

    Die Beschreibung von Aktivitätszentren mit PET oder fMRT und die Zuordnung dieser Areale zu bestimmten Funktionen oder Tätigkeiten hilft hier kaum weiter. Dass sich alles im Gehirn an einer bestimmten Stelle abspielt, stellt noch keine Erklärung im eigentlichen Sinne dar. Denn ‚wie‘ das funktioniert, darüber sagen diese Methoden nichts, schließlich messen sie nur sehr indirekt, wo in Haufen von Hunderttausenden von Neuronen etwas mehr Energiebedarf besteht. Das ist in etwa so, als versuchte man die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man seinen Stromverbrauch misst, während er verschiedene Aufgaben abarbeitet. [...]

    Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als ‚seine‘ Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant – all dies verstehen wir noch nicht einmal in Ansätzen. Mehr noch: es ist überhaupt nicht klar, wie man dies mit den heutigen Mitteln erforschen könnte. In dieser Hinsicht befinden wir uns gewissermaßen noch auf dem Stand von Jägern und Sammlern."

    Nichts jedoch spricht dagegen, dieses Jagen und Sammeln lustvoll fortzusetzen. Zudem muss klar sein, dass soziale Phänomene einen sozialen Begründungszusammenhang haben, den man nicht ohne große Verluste durch eine allein biologische Bezugnahme ersetzen kann. Die Frage der Schuldfähigkeit ist nicht im Röntgenbild enthalten und entsprechend dort auch nicht ablesbar (Gehring 2004; Kröber 2006, 2007). Rechtsphilosophische Konzepte sind nur mit philosophischen Argumenten angreifbar; Hirnforscher sollen mitdiskutieren, sie können nur nicht behaupten, sie hätten die Wahrheit im Mikroskop gesehen.

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    2 Juristische Grundlagen

    Matthias Koller

    1 Psychiatrische Fragestellungen im Recht

    In den verschiedensten rechtlichen Zusammenhängen kommt es auf die „psychische Verfassung" von Menschen an.

    Teilweise stehen dabei die Aspekte der Beeinträchtigung der Gesundheit und eines daraus resultierenden Hilfebedarfs im Mittelpunkt. Das ist z. B. im Sozialrecht der Fall, zu dessen Regelungsmaterien die gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall- und Pflegeversicherungen, das soziale Entschädigungsrecht mit Kriegsopferversorgung und Opferentschädigungsgesetz, das Sozialhilfe- und das (Schwer-)Behindertenrecht zählen.

    Zumeist geht es allerdings spezifischer darum, ob eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation in der Lage war und/oder ob sie künftig voraussichtlich in der Lage sein wird, bestimmte Sachverhalte zu verstehen und bestimmte Situationen zu erfassen, sie zu bewerten, sich auf sie einzustellen, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und gegeneinander abzuwägen und das Verhalten schließlich in einer bestimmten, von beeinträchtigenden äußeren und inneren Einflüssen freien und zugleich vom Recht erwarteten bzw. als regulär angenommenen Weise auszurichten und zu beherrschen. Im Zivilrecht stellen sich hier z. B. die Fragen nach der Geschäfts-, Einwilligungs-, Delikts-, Ehe- und Testierfähigkeit und nach der Erforderlichkeit einer Betreuerbestellung. Und im öffentlichen Recht können sich z. B. im Straßenverkehrsrecht die Frage der Fahreignung und im öffentlichen Gesundheitsrecht die Frage der Erforderlichkeit von Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke zur Abwendung konkreter Selbstgefährdungen und Fremdgefahren stellen.

    Zur Beantwortung all dieser Fragen sind die Juristen regelmäßig auf sachverständige Beratung durch einen Psychiater, ggf. auch durch einen Neurologen oder durch einen Psychologen, angewiesen. Der Sachverständige ist, da er seine Expertise letztlich gegenüber dem zur Entscheidung berufenen Gericht abgeben muss, dabei „forensisch" tätig (von lat. forum = Marktplatz; politisches, kaufmännisches und juristisches Zentrum und daher auch Ort öffentlicher Gerichtsverhandlungen).

    Aufgabe des Sachverständigen ist es, das Gericht bei der Aufbereitung und Klärung des Sachverhalts zu unterstützen, der schlussendlich der gerichtlichen Entscheidung zugrunde zu legen ist. Er tut dies, indem er dem Gericht das Wissen seiner Wissenschaft vorstellt und erläutert, und indem er dem Gericht aufzeigt, welche Auswirkungen die Anwendung dieses Wissens auf den vorgefundenen Tatsachenstoff hat. Aufgabe des Gerichts ist es dann, die Darlegungen des Sachverständigen auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen, aus der Gesamtheit der gesammelten Informationen den entscheidungsrelevanten Sachverhalt herauszufiltern und schließlich diesen Sachverhalt an den gesetzlichen Vorgaben zu messen, d. h. den tatsächlichen „Untersatz unter den rechtlichen „Obersatz zu subsumieren und daraus die rechtlichen Schlussfolgerungen abzuleiten.

    2 Insbesondere im Strafrecht

    Besonders lebhaft diskutiert werden forensisch-psychiatrische und forensisch-psychologische Fragestellungen sowie Rolle und Funktion des Sachverständigen im strafrechtlichen Zusammenhang. Das kann nicht überraschen, greift das Strafrecht mit seinen Sanktionen doch tief in grundrechtlich geschützte Positionen von Menschen ein, die als Täter einer rechtswidrigen und mit Strafe bewehrten Handlung oder Unterlassung erkannt worden sind.

    Allerdings stellen sich psychiatrische und psychologische Sachfragen nicht nur in Bezug auf den Tatverdächtigen bzw. Täter. Auch mit Blick auf Tatopfer kann sich die Einholung sachverständigen psychowissenschaftlichen Rats als notwendig erweisen, wenn es etwa um Tatopfer geht, die wegen einer psychischen Beeinträchtigung besonders schutzbedürftig sind und daher auch strafrechtlich besonders geschützt werden (z. B. in § 179 StGB: sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, und in § 225 StGB: Misshandlung von Schutzbefohlenen), oder wenn die Tatfolgen zu beurteilen sind (z. B. nach § 176a StGB: schwerer sexueller Missbrauch von Kindern wegen erheblicher Schädigung der körperlichen oder seelischen Entwicklung, oder nach § 226 StGB: schwere Körperverletzung wegen Verfallens in geistige Krankheit oder Behinderung, und generell nach § 46 StGB: strafschärfende Berücksichtigung der verschuldeten Auswirkungen der Tat).

    Außerdem können die Gerichte im Einzelfall gehalten sein, sachverständige Unterstützung für die Beurteilung der Aussagezuverlässigkeit von Tatzeugen einzuholen, wenn – zumal in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen – Besonderheiten vorliegen, die es – ausnahmsweise – als zweifelhaft erscheinen lassen, dass das Gericht allein aufgrund seiner eigenen Erfahrung und Sachkunde in der Lage ist, die Aussagetüchtigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Angaben zu beurteilen (vgl. z. B. BGH StV 1994, 173 f.; 2002, 637 ff.). In der Sache geht es dabei stets um die Erlebnisbegründetheit der Aussage, d. h. die Frage, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben des Zeugen seinem tatsächlichen Erleben entsprechen und daher zutreffen (vgl. BGH NStZ 2000, 100, 101). Deren Überprüfung ist die Domäne der forensischen Aussagepsychologie. Im Einzelfall kann aber auch die Sachkunde eines Psychiaters erforderlich sein (vgl. z. B. BGH NStZ 1997, 199). Auf sein Wissen kann es z. B. ankommen, wenn infrage steht, ob die Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Wiedergabefähigkeit des Zeugen infolge einer geistigen Behinderung, einer hirnorganischen Schädigung, einer Epilepsie oder einer Psychose, einer Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit oder sonst infolge besonderer psychischer Auffälligkeiten, z. B. infolge einer Persönlichkeitsstörung, beeinträchtigt war bzw. ist (vgl. z. B. BGH StV 1994, 173 f.; NStZ 1997, 199). Im Übrigen hat der Bundesgerichtshof für die Beurteilung der Aussagezuverlässigkeit in einer Grundsatzentscheidung vom 30. Juli 1999 Standards festgelegt und als „methodisches Grundprinzip" insbesondere eine Hypothesen geleitete Untersuchung vorgeschrieben, die den zu überprüfenden Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage) ausgehend von der sog. Nullhypothese – der Annahme, die Aussage sei unwahr – so lange negiert, bis diese Negation mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar und daher von der Richtigkeit der Alternativhypothese auszugehen ist (BGH NStZ 2000, 100 ff.). Zugleich hat der Bundesgerichtshof den Gutachtern innerhalb dieses Rahmens aber grundsätzlich freigestellt, auf welchem Weg, mit welchen Verfahren und auf welchen Grundlagen sie ihr Gutachten im Einzelfall erarbeiten (BGH NStZ 2000, 100, 101).

    Schon von den Fallzahlen her dürfte freilich die Begutachtung von Tatverdächtigen bzw. Tätern im Vordergrund stehen. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamen Fragestellungen sollen (etwas) näher betrachtet werden. Dabei müssen zwei Verfahrensabschnitte unterschieden werden: Das Verfahren bis zur rechtskräftigen Aburteilung des Tatverdächtigen und das Verfahren nach dem rechtskräftigen Urteil, in dem es um die Vollstreckung der strafrechtlichen Sanktionen gegen den festgestellten Täter geht.¹

    2.1 Begutachtung des Täters – Verfahren bis zum Urteil

    Im Verfahren bis zum Urteil geht es zunächst um die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters. Außerdem geht es um seine zu prognostizierende Gefährlichkeit und um die Behandlungsaussichten.

    2.1.1 Strafrechtliche Verantwortlichkeit

    Die individuelle strafrechtliche Verantwortungsfähigkeit entscheidet über das „Ob" der Strafbarkeit: Fehlt sie, bleibt der Täter straffrei; ist sie gegeben, aber herabgesetzt, kann sich dies (nur) auf die Höhe der Strafe auswirken.

    2.1.1.1 Schuldprinzip und Schuldvermutung

    Angesprochen ist damit das Schuldprinzip: „Nulla poena sine culpa – keine Strafe ohne Schuld." Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt diesem Prinzip der Rang eines Verfassungsrechtssatzes zu (BVerfGE 20, 323; 95, 96). Hergeleitet wird es aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip. Es hat verschiedene Funktionen. Erstens geht es um die Rechtfertigung von Strafsanktionen überhaupt (Schuldidee) und zweitens um die Strafbegründung im Einzelfall (Strafbegründungsschuld): Mit der Strafe wird dem Täter ein rechtswidriges sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen. Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf setzt aber individuelle Vorwerfbarkeit – eben strafrechtliche Schuld – voraus. Erscheint eine Bestrafung im Einzelfall begründet, kommt der Schuld des Täters, drittens, die Funktion eines prägenden Maßstabs für die Strafzumessung und zugleich der Begrenzung gegen übermäßiges Strafen zu (Strafzumessungsschuld): Die verhängte Strafe darf die Schuld des Täters nicht übersteigen (vgl. § 46 Abs. 1 StGB sowie BVerfGE 45, 187; 50, 205; 95, 96).

    Sachlich geht es durchweg um die Fähigkeiten des Täters, die strafrechtlichen Verhaltensnormen einzusehen und sein Verhalten an diesen Normen auszurichten. Das Vorhandensein dieser Fähigkeiten wird vom Gesetz vorausgesetzt. Ihrer positiven Feststellung im Einzelfall bedarf es nicht. Dementsprechend enthält das Strafgesetzbuch (StGB) auch keine positive Beschreibung des Schuldbegriffs. Es bezeichnet lediglich bestimmte Gründe, die die Schuld ausnahmsweise entfallen lassen und damit die grundsätzliche Schuldvermutung widerlegen.

    Eine (Teil-)Ausnahme gilt allein für Minderjährige. Bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres wird unwiderleglich vermutet, dass sie entwicklungsbedingt nicht verantwortlich und daher schuldunfähig sind (§ 19 StGB). Sind sie 14, aber noch nicht 18 Jahre alt, kann und muss diese Vermutung widerlegt werden, wenn ein Verhalten (jugend-)strafrechtlich sanktioniert werden soll. Dann muss das Gericht im Einzelfall feststellen, dass der Jugendliche „zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln" (§ 3 JGG). Gefordert ist damit, wohlgemerkt, aber nur eine Teil-Feststellung der Verantwortungsfähigkeit, weil das Jugendgerichtsgesetz (JGG) nur nach der entwicklungsbedingten Reife fragt. Alle weiteren Schuld-Voraussetzungen werden, wie bei erwachsenen Tätern auch, widerleglich vermutet.

    Gründe, die die Schuldvermutung widerlegen und die Schuld ausnahmsweise entfallen lassen, sind: das Unterschreiten der Mindestaltersgrenze von 14 Jahren (§ 19 StGB), der unvermeidbare Irrtum über das Verbotensein eines Tuns oder Unterlassens (§ 17 StGB), das Handeln aus einer Notstandslage heraus, in der Leben, Leib oder Freiheit konkret und gegenwärtig bedroht sind und eine andere Möglichkeit der Gefahrabwendung nicht besteht (§ 35 StGB) sowie schließlich die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (§ 20 StGB).

    2.1.1.2 Schuldunfähigkeit und erheblich verminderte Schuldfähigkeit

    Besonders bei der Prüfung dieses letztgenannten Schuldausschließungsgrundes sind die Gerichte auf die Unterstützung durch einen psychowissenschaftlichen Sachverständigen angewiesen. Die Prüfung erfolgt in zwei Schritten.

    Im ersten Schritt ist zu klären, ob der Täter an einer seelischen Störung leidet. In nur loser Anlehnung an die psychiatrischpsychologische Fachterminologie benennt § 20 StGB dazu vier Merkmale, bei deren Vorliegen eine seelische Störung im gesetzlichen Sinne angenommen werden kann: die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende Bewusstseinsstörung, den Schwachsinn und die schwere andere seelische Abartigkeit. Nur hinter dem ersten dieser vier Merkmale – der krankhaften seelischen Störung – verbergen sich dabei Krankheiten im engeren psychiatrischen Sinne, insbesondere endogene sowie exogene Psychosen und andere Störungen, die auf eine hirnorganische Ursache, z. B. eine Hirnverletzung oder -infektion zurückzuführen sind. Wird eine solche Krankheit diagnostiziert, ist das Eingangsmerkmal erfüllt. Anders verhält es sich, wenn die Anwendung eines der drei anderen Eingangsmerkmale in Betracht kommt. Hier ist es allein mit der Feststellung einer Bewusstseinsstörung, einer auf die kognitiven oder sozialen Fähigkeiten ausstrahlenden Intelligenzminderung oder einer sonstigen seelischen Störung, die die diagnostischen Kriterien der einschlägigen Klassifikationssysteme (ICD-10; DSM-IV) erfüllt, z. B. einer Persönlichkeitsstörung oder einer Paraphilie, nicht getan. Zusätzlich zu der psychiatrisch-psychologischen Beschreibung des Störungsbildes, für die es wesentlich auf die Untersuchungsergebnisse des befragten Sachverständigen ankommt, muss in diesen Fällen vielmehr das Gericht in eigener Verantwortung noch eine vergleichende und wertende Betrachtung anstellen, ob die von dem Sachverständigen beschriebenen Störungen bei einer Gesamtschau der Täterpersönlichkeit und ihrer Entwicklung – auch im Hinblick auf seine Fähigkeit zu normgemäßem Verhalten – ein solches Ausmaß bzw. eine solche Intensität erreichen, dass das Persönlichkeitsgefüge in vergleichbar schwerwiegender Weise beeinträchtigt bzw. das Leben des Täters mit ähnlichen Folgen gestört, belastet oder eingeengt wird wie durch eine krankhafte seelische Störung (vgl. BGHSt 37, 397, 401; BGH, NStZ-RR 2005, 137 f.). Denn nur unter diesen Umständen kann von einer „tiefgreifenden Störung bzw. einer „schweren Abartigkeit gesprochen werden.

    Steht danach fest, dass der Täter an einer seelischen Störung leidet, die eines der vier Eingangskriterien des § 20 StGB ausfüllt, muss im zweiten Schritt der Bezug zu dem Tatgeschehen hergestellt werden, das dem Strafverfahren zugrunde liegt. Es muss geklärt werden, wie sich der psychopathologische Zustand auf die Fähigkeiten des Täters ausgewirkt hat, das Unrecht der ihm vorgeworfenen Tat(en) einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Dabei greifen erneut Tatsächliches und Rechtliches ineinander. Aufgabe des Sachverständigen ist es, dem Gericht den notwendigen Tatsachenstoff zu vermitteln, indem er anhand einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Täters, des Ausprägungsgrades seiner Störung und ihrer Auswirkung auf die soziale Anpassungsfähigkeit beschreibend darstellt, ob und, wenn ja, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die festgestellte seelische Störung das Verhalten des Täters in der konkreten Tatsituation – sein Situations- und Normverständnis sowie seine Verhaltenssteuerung – beeinflusst hat. Aufgabe des Gerichts ist es dann, anhand eines Vergleichs mit dem Verhalten anderer Menschen in einer vergleichbaren Situation zu prüfen und – normativ – zu entscheiden, ob und, wenn ja, wie stark das Verhalten des Täters hinter den Anforderungen zurückbleibt, die an das normgemäße Verhalten des Einzelnen legitimer Weise gestellt werden dürfen (vgl. Boetticher et al. 2005, S. 58; Schöch 2007, S. 130 ff.).

    Am Ende dieser Prüfung steht eine Quantifizierung der Verantwortungsfähigkeit und damit der Schuld. Dabei spielen zwei Grenzen eine Rolle: Die Unfähigkeit, das Unrechtmäßige des Verhaltens einzusehen, führt ebenso wie die – infolgedessen oder ausschließlich vorliegende – Unfähigkeit, dieser Einsicht gemäß zu handeln, zur Annahme von Schuldunfähigkeit und damit zur Straflosigkeit, § 20 StGB. Ist die Fähigkeit zur Unrechtseinsicht oder die Fähigkeit, dieser Einsicht gemäß zu handeln (Steuerungsfähigkeit), hingegen nicht aufgehoben, sondern nur graduell vermindert, ist der Täter strafrechtlich verantwortlich und deshalb zu bestrafen. Allein mit Blick auf den anzuwendenden Strafrahmen ist allerdings weiter zu unterscheiden: War die Verminderung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit – bei Anlegung eines normativen Maßstabs – erheblich, kann die im Einzelfall zu verhängende Strafe einem durch Absenkung der an sich gesetzlich vorgesehenen Mindest- und Höchststrafe gemilderten Strafrahmen entnommen werden, §§ 21, 49 Abs. 1 StGB. Ob das Gericht von dieser Möglichkeit der sog. Strafrahmenverschiebung Gebrauch macht, ist allerdings in sein pflichtgemäßes Ermessen gestellt. Die Anwendung des gemilderten Strafrahmens wird regelmäßig zu unterbleiben haben, wenn der Täter zwar grundsätzlich, z. B. infolge einer intellektuellen Beeinträchtigung, in seiner Einsichtsfähigkeit eingeschränkt ist, er in der konkreten Tatsituation aber tatsächlich Unrechtseinsicht hatte; denn dann war seine Schuld nicht gemindert (vgl. BGHSt 21, 27 f.). Die Anwendung des gemilderten Strafrahmens kann ferner auch dann versagt werden, wenn der Täter den Zustand der erheblichen Schuldminderung in uneingeschränkt vorwerfbarer Weise, z. B. durch selbst zu verantwortende und verschuldete Trunkenheit, herbeigeführt hat (vgl. z. B. BGH NStZ 2003, 480 ff.; NStZ 2008, 330). Bei dem gesetzlich vorgegebenen „Normalstrafrahmen" bleibt es im Übrigen immer dann, wenn die festgestellte Beeinträchtigung des Einsichts- oder Steuerungsvermögens den erforderlichen Grad der Erheblichkeit nicht erreicht; allerdings besteht auch innerhalb dieses Strafrahmens noch die Möglichkeit, das festgestellte „Handicap" bei der Bemessung der konkreten Strafe mildernd zu berücksichtigen.

    Bei alledem gilt übrigens der Zweifelssatz: „In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Hierbei handelt es sich um eine Entscheidungsregel, die das Gericht (erst dann) zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung vom Vorliegen einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache zu gewinnen vermag (vgl. BGH NStZ 2001, 609). Bezogen auf die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bedeutet das: Bleiben nach Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel nicht behebbare tatsächliche Zweifel, die sich auf die Art und den Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen (Zweifel, die allein die rechtliche Wertung betreffen, reichen nicht!), kommen diese Zweifel dem Täter bei der Entscheidung über die Voraussetzungen Schuldunfähigkeit bzw. der verminderten Schuldfähigkeit zugute (vgl. BGH NStZ 1996, 328; NStZ-RR 2006, 335). „Im Zweifel muss das Gericht dann zu seinen Gunsten von Schuldunfähigkeit oder – wenn Schuldunfähigkeit sicher ausgeschlossen werden kann – von erheblich verminderter Schuldfähigkeit ausgehen und ihn deshalb wegen Schuldunfähigkeit freisprechen bzw. wegen erheblich verminderter Schuldfähigkeit aus dem gemilderten Strafrahmen bestrafen.

    2.1.2 Gefährlichkeit

    Mit der Frage nach der – prognostizierten – Gefährlichkeit verlassen wir den sicheren Grund des Schuldstrafrechts und wenden uns denjenigen Rechtsfolgen einer Straftat zu, die im Rahmen eines zweispurigen Sanktionensystems nicht auf die Ahndung zurückliegender Rechtsverletzungen durch (auch) schuldvergeltendes Strafen, sondern auf die individualpräventive Verhinderung zukünftiger Straftaten abzielen, deren Eintritt sich zwar sorgfältig, aber regelmäßig nicht sicher prognostizieren lässt (vgl. BVerfG NJW 2004, 739, 744). Die Rede ist von den Maßregeln der Besserung und Sicherung, deren allgemeiner Zweck anknüpfend an die Gefährlichkeit des Täters eben darin besteht, die Allgemeinheit in Zukunft vor diesem Täter zu schützen und künftige Rechtsbrüche unabhängig davon zu verhüten, ob seine Schuld für sich genommen einen solchen Eingriff, seine Anordnung, Ausgestaltung und zeitliche Dauer rechtfertigen würde (vgl. BVerfG NJW 2004, 739, 746).

    2.1.2.1 Maßregeln der Besserung und Sicherung

    Das Strafrecht stellt sowohl stationäre, mithin freiheitsentziehende, als auch ambulante Maßregeln zur Verfügung, die teils durch fürsorgende oder heilende Eingriffe und teils auch (nur) durch eine mit Behandlungsangeboten verbundene Verwahrung wirken (vgl. BVerfG NJW 2004, 739, 746).

    Sowohl der Besserung als auch der Sicherung unter der notwendigen Aufsicht, Betreuung und Pflege (vgl. § 136 StVollzG) dient die – freiheitsentziehende und im Ausgangspunkt unbefristete – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB. Ihre Anordnung setzt viererlei voraus: Der Täter muss eine rechtswidrige Tat begangen haben. Er muss sich bei Begehung der Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder der erheblich verminderten Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) befunden haben (die an dieser Stelle übrigens – anders als bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit – stets positiv festgestellt muss und nicht lediglich „in dubio angenommen werden kann, weil davon ja die erheblich beschwerende Folge der Unterbringung abhängt). Der „Zustand muss überdauernd und darf nicht nur vorübergehender Natur sein. Und schließlich muss die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergeben, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

    Ähnlich strukturiert sind auch die gesetzlichen Voraussetzungen der beiden weiteren freiheitsentziehenden Maßregeln, der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Natürlich gibt es aber auch Unterschiede: So knüpft die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB nicht an die aufgehobene oder erheblich verminderte Schuldfähigkeit an; sie kann gleichermaßen gegen schuldunfähige, erheblich vermindert schuldfähige und voll schuldfähige Täter angeordnet werden. Erforderlich ist jedoch, dass der Täter einen Hang hat, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich zu nehmen, dass seine Tat im Rausch begangen ist oder auf diesen Hang zurückgeht und dass infolge dieses Hanges weitere rechtswidrige Taten zu erwarten sind. Außerdem darf diese Maßregel nur angeordnet werden, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, den Täter durch die Entziehungsbehandlung zu heilen oder eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf den Hang zurückgehen (§ 64 Satz 2 StGB).

    Ganz im Vordergrund steht bei dieser – übrigens auf zwei Jahre, gegebenenfalls zuzüglich zwei Drittel der Dauer der parallel verhängten Freiheitsstrafe befristeten (§ 67d Abs. 1 StGB) – Maßregel also die Besserung des Täters; der Sicherungsaspekt spielt eine Rolle nur, soweit die Sicherung durch Besserung erreicht werden kann (vgl. zu dieser Maßregel und ihrem Zweck grundlegend BVerfGE 91, 1 ff.).

    Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB schließlich bezieht sich nur auf strafrechtlich verantwortliche, also voll oder allenfalls erheblich vermindert schuldfähige Täter; gegen schuldunfähige Täter darf sie (mit einer Ausnahme in § 66b Abs. 3 StGB) nicht angeordnet werden. Im Vordergrund steht hier der Sicherungsaspekt, wobei die Maßregel allerdings auf zehn Jahre befristet ist, wenn nicht die Gefahr solcher Straftaten besteht, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden (§ 67d Abs. 3 StGB). Ihre Anordnung hängt davon ab, dass der Täter – in Erfüllung wenigstens einer der zahlreichen im Strafgesetzbuch aufgeführten, jedoch nur unter Mühen verständlichen Tatbestandsvarianten – eine bestimmte Mindestzahl von Straftaten begangen hat und deswegen mit Strafen in bestimmter Höhe belegt worden ist bzw. neben der Unterbringungsanordnung belegt wird, und dass er deswegen unter Umständen auch schon eine bestimmte Zeit in Strafhaft gesessen hat. Sachlich kommt außerdem hinzu, dass eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben muss, dass er einen Hang zu erheblichen Straftaten hat, und dass er infolge dieses Hanges für die Allgemeinheit gefährlich ist (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB). Die Auslegung dieses Hang-Kriteriums bereitet besondere Schwierigkeiten. Einerseits ist von einem (bloßen) Rechtsbegriff die Rede (BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit Nr. 3), andererseits wird der Hang zu erheblichen Straftaten als „psychologische Tatsache" verstanden (BVerfG NJW 2006, 3483, 3484). Im Ergebnis geht es darum, die Anwendung des § 66 StGB auf solche Straftäter zugleich zu erstrecken und zu begrenzen, bei denen sich auf andere Weise als durch sichernde Verwahrung eine hinreichende Einwirkung und schon gar eine Resozialisierung nicht erreichen lässt (Rissing-van Saan und Peglau 2008, § 66 Rn. 114 ff m. w. N.). Richtigerweise wird man den Hang als eine überdauernde persönliche Eigenschaft zu verstehen haben, die im Wege der umfassenden Rückschau auf Persönlichkeit und bisheriges Verhalten des Täters ermittelt wird. Dabei ist der Hang sorgfältig von dem weiteren Erfordernis der Gefährlichkeit für die Allgemeinheit zu unterscheiden, für die es auf eine in die Zukunft gerichtete Wahrscheinlichkeitsprognose weiterer erheblicher Straftaten auf der Grundlage des festgestellten Hangs ankommt (vgl. BGH NStZ 2006, 278, 280). Definiert wird der Hang gemeinhin als eingeschliffener innerer Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt; Hangtäter sei derjenige, der dauernd zu Straftaten entschlossen sei, oder der aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung, deren Ursache unerheblich ist, immer wieder straffällig werde, wenn sich Gelegenheit dazu biete (vgl. nur BGH NStZ 2008, 27 f m. w. N.). Für die Praxis handhabbar wird dies, wenn man im Anschluss an einen Vorschlag von Habermeyer und Saß zunächst die Eingangskriterien für die Diagnosen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung und einer Psychopathie im Sinne von Hare heranzieht und einen Hang in tatsächlicher Hinsicht daher immer dann annimmt, wenn die Persönlichkeitsstörung nicht zu einer – gegebenenfalls die Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigenden – erheblichen Minderung der Steuerungsfähigkeit geführt hat (Habermeyer und Saß 2004; zustimmend Rissing-van Saan und Peglau 2008, § 66 Rn. 123). Entsprechend wird man weiter z. B. auch eine fixierte abweichende sexuelle Präferenz unter das Hang-Kriterium fassen können, wenn und soweit sie nur unter Verstoß gegen Strafgesetze ausgelebt werden kann und solange sie keine erheblichen Auswirkungen auf das Steuerungsvermögen hat. Sachgerecht eingeordnet werden können auf diese Weise namentlich auch Fallgestaltungen, in denen der Täter erstmals – wegen zweier oder dreier Straftaten (vgl. § 66 Abs. 2 und Abs. 3 S. 2 StGB) – abzuurteilen ist, die sich als (vorläufiger) Höhepunkt einer dissozialen oder sexuell devianten Entwicklung darstellen. Aufgabe des Sachverständigen ist auch in diesem Rahmen übrigens die genaue Beschreibung der psychopathologischen Symptome und ihrer Auswirkungen auf das Verhalten des Täters, während das Gericht die beschriebene Symptomatik zu gewichten und zu entscheiden hat, ob die Neigung gerade dieses Täters zur Begehung von Straftaten derart verfestigt und die Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten derart hoch ist, dass es gerechtfertigt erscheint, als ultima ratio des Strafrechts Sicherungsverwahrung anzuordnen.

    Neben diesen stationären Maßregeln steht als ambulante Maßregel unter anderem die Führungsaufsicht nach § 68 StGB. Sie ist im vorliegenden Zusammenhang deshalb von besonderem Interesse, weil sie immer dann eintritt, wenn eine der Behandlungsmaßregeln nach den §§ 63, 64 StGB zugleich mit Urteil gemäß § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt wird oder wenn die Vollstreckung der genannten Maßregeln sonst, sei es durch Aussetzung zur Bewährung nach zeitweiser Verbüßung, durch Erledigungserklärung oder durch Ablauf der Höchstfrist, beendet wird. Außerdem tritt sie ein, wenn ein Täter eine Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren Dauer voll verbüßt hat (§ 68f StGB). Sie kann aber auch unabhängig von den genannten stationären Maßregeln oder der Vollverbüßung einer längeren Freiheitsstrafe selbstständig angeordnet werden, wenn der Täter eine bestimmte Straftat, z. B. eine Sexualstraftat, begangen hat, deswegen zu mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt wird und wenn weiter „die Gefahr besteht, dass er weitere Straftaten begehen wird" (§ 68 Abs. 1 StGB).

    2.1.2.2 Insbesondere Gefährlichkeitsprognose

    In all den genannten Fällen steht die Gefährlichkeit des Täters im Mittelpunkt. Sie ist keine Tatsache, sondern eine Prognose, die zugleich wertende Elemente beinhaltet.

    Dennoch bedienen sich die Gerichte zu ihrer Einschätzung regelmäßig sachverständiger Unterstützung.

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