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Systemische Neurowissenschaften in der Psychiatrie: Methoden und Anwendung in der Praxis
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eBook885 Seiten7 Stunden

Systemische Neurowissenschaften in der Psychiatrie: Methoden und Anwendung in der Praxis

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Über dieses E-Book

Systemische Neurowissenschaften beschäftigen sich mit den Funktionen weit verzweigter Netzwerke von Gehirnregionen, die den Leistungen des Gehirns in Denken, Fühlen und Handeln zugrunde liegen. Die hierbei verwendeten Untersuchungsmethoden werden maßgeblich die Psychiatrie des 21. Jahrhunderts prägen, indem sie die Funktionsstörungen des Gehirns bei psychischen Störungen zugänglich und sichtbar machen.
Dieses umfangreiche Standardwerk führender Wissenschaftler stellt diese Methoden im Überblick und insbesondere in ihrer Anwendung in der klinisch-psychiatrischen Forschung und Praxis eindrücklich und verständlich dar.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Nov. 2013
ISBN9783170255425
Systemische Neurowissenschaften in der Psychiatrie: Methoden und Anwendung in der Praxis

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    Buchvorschau

    Systemische Neurowissenschaften in der Psychiatrie - Oliver Gruber

    A   Methoden zur Untersuchung des Verhaltens

    1          Verhaltensbezogene Methoden

    Wolfgang Wölwer und Wolfgang Gaebel

    Einführung

    Verhaltensbezogene Methoden werden eingesetzt, um das breite Spektrum der äußerlich direkt beobachtbaren, aktiven Bewegungen und Handlungen eines Menschen sowie deren Störungen abzubilden. In Bezug auf die Komplexität der betrachteten Charakteristika reicht dieses Spektrum vom »molaren« Makroverhalten, z. B. im Sinne sozial kompetenten Verhaltens, über weniger komplexe Komponenten verbalen und nonverbalen Verhaltens, z. B. Mimik, Gestik, paraverbale Merkmale, Blickkontakt und andere explorative Blickbewegungen, bis hin zu »molekularen« Merkmalen auf der Mikroebene, wie z. B. spezielle Augenbewegungscharakteristika (Sakkaden, langsame Augenfolgebewegungen) und diskrete Bewegungsstörungen. Das Spektrum umfasst damit sowohl willkürliche, intentionale Ziel-/Zweckbewegungen als auch meist eher unwillkürliche Ausdrucksbewegungen und sowohl der visuellen Perzeption dienende (Augen-)Bewegungen als auch expressives Verhalten. Je nach Komplexitätsgrad des betrachteten Verhaltens liegen diesem damit auf neurobiologischer Ebene häufig viele beteiligte Systeme sowohl auf der primären und sekundären sensorischen und motorischen Ebene als auch auf der handlungssteuernden Ebene zugrunde.

    Trotz dieser Komplexität hat der Einbezug verhaltensbezogener Charakteristika bzw. Methoden in systemisch-neurowissenschaftliche Betrachtungen der Psychiatrie dennoch allein dadurch seine Berechtigung, da interaktionelle (und darüber hinaus auch weniger komplexe motorische) Störungen ein wesentliches Charakteristikum insbesondere schizophrener Erkrankungen sind. Das Spektrum psychopathologischer Auffälligkeiten ist in der Regel nicht direkt zugänglich, sondern wird vom Therapeuten aus der Erlebensschilderung des Patienten oder anhand von Verhaltensbeobachtungen erschlossen. So spielen verhaltensbezogene Merkmale eine entscheidende Rolle bei der Diagnostik von Affektstörungen, für die das nonverbale Ausdrucksverhalten üblicherweise als wesentlicher Indikator herangezogen wird (Gaebel und Wölwer 1996). Das Zustandekommen von Kommunikation ist somit Voraussetzung für eine adäquate Erfassung und Abbildung psychopathologischer Merkmale (wenngleich auch das Nicht-Zustandekommen von verbaler und/oder nonverbaler Kommunikation – z. B. beim katatonen Stupor – diagnostisch wegleitend sein kann).

    In theoretischen Kommunikationsmodellen werden nonverbale Verhaltensmerkmale – neben den Sprachinhalten – als wesentliche Signalträger in der sozialen Kommunikation zwischen zwei Interaktionspartnern aufgefasst, die ähnlich wie in der Nachrichtentechnik als »Sender« und «Empfänger« bezeichnet werden. D. h., es wird explizit zwischen einem Enkodierungs-/Ausdrucks- und einem Dekodierungs-/Eindrucksprozess unterschieden. Damit kann ein misslingender Kommunikationsprozess auf einer Enkodierungs- und/oder einer Dekodierungsstörung beruhen. Dies ist bei den in den folgenden Kapiteln dargestellten »Verhaltens- oder Bewegungsstörungen« jeweils zu beachten. Der vorliegende Beitrag fokussiert jedoch aus Platzgründen wesentlich auf die beobachtbaren und/oder messbaren Ausdruckskomponenten. Diese werden auf der Makroebene sozialer Interaktionsprozesse oft auch als soziale Fertigkeiten (»social skills«) bezeichnet, während die Dekodierungsprozesse, wie das korrekte Erkennen mimischen Ausdrucksverhaltens, zu den als soziale Kognition bezeichneten mentalen Prozessen gerechnet werden. Gemeinsam begründen sie die soziale Kompetenz zur Gestaltung sozialer Interaktionen. Hieraus abgeleitet werden nonverbale Ausdrucksmerkmale, wie situations- und zustandsadäquate mimische und gestische Reaktionen, paraverbale Sprechcharakteristika (Stimmintonation, Sprechdynamik) und das Herstellen und Aufrechterhalten des Blickkontakts zur Signalisierung von Aufmerksamkeit und/oder Sprechbereitschaft während sozialer Interaktion, als Indikatoren sozialer Kompetenz angesehen. Mangelnde soziale Kompetenz, wie sie bei vielen psychiatrischen Störungsbildern in Form von einem in Intensität oder Quantität verminderten oder qualitativ veränderten nonverbalen Ausdrucksverhalten der Patienten, fehlenden prosozialen nonverbalen Signalen, der Missinterpretation des emotionalen Ausdrucksverhaltens des Gesprächspartners und/oder eines schlechteren Einfühlungsvermögens vorzufinden sind, tragen dabei erheblich zu einem eingeschränkten sozialen Funktionsniveau bei (Brüne et al. 2009; Couture et al. 2006).

    Sofern im Rahmen des diagnostischen Prozesses besonderes Augenmerk auf die soziale Kompetenz gelegt werden soll, werden zu deren Erfassung häufig Rollenspiele eingesetzt, die eine standardisierte Untersuchung des verbalen und nonverbalen Verhaltens ermöglichen (Bellack et al. 2006; Helbig-Lang und Klose 2011). In der Regel beschränkt sich die Erfassung von verhaltensbezogenen Auffälligkeiten bei psychiatrischen Patienten jedoch auf deren mehr oder weniger explizite Beurteilung anhand von klinischen Fremdbeurteilungsskalen. So wird zur Erfassung der Negativsymptomatik bei schizophrenen Erkrankungen zum Beispiel die SANS (Scale for the Assessment of Negative Symptoms) (Andreasen 1989) eingesetzt, in deren Rahmen eine Affektverflachung wesentlich über das nonverbale Ausdrucksverhalten definiert und erfasst wird. Als Bezugspunkt für neurowissenschaftliche Untersuchungen dürften allerdings Messmethoden besser geeignet sein, die sich auf einzelne Teilkomponenten des nonverbalen Ausdrucksverhaltens beschränken und diese dann mittels möglichst objektiver Methoden erfassen. Hierzu stehen in der Zwischenzeit eine Reihe von Möglichkeiten zur Verfügung, die in den folgenden Abschnitten für einige der am häufigsten untersuchten Verhaltensbereiche detaillierter vorgestellt werden sollen. Die mit diesen Messverfahren gewonnenen Ergebnisse zu Auffälligkeiten bei psychischen Störungen und deren neurobiologische Korrelate werden dabei schwerpunktmäßig für Patienten mit Schizophrenie berichtet, für die hierzu die meisten Ergebnisse vorliegen.

    1.1       Mimik

    Mimik bezeichnet die sichtbaren Bewegungen der Gesichtsoberfläche, die auf der Kontraktion der Gesichtsmuskulatur beruhen. Mimische Reaktionen spielen eine entscheidende Rolle im Rahmen des nonverbalen emotionalen Ausdrucks (»Affektausdruck«). Dabei werden die als universell vorhanden und genetisch angelegt angesehenen »Grundemotionen« Angst, Ärger, Ekel, Trauer, Freude und Überraschung bei allen Menschen weitgehend kulturunabhängig im Gesichtsausdruck enkodiert und dekodiert, was als Hinweis auf die humanspezifische neurobiologische Basis von Ausdruck und Eindruck gewertet wird (Ekman 1992). Neuere Ergebnisse zeigen allerdings auch deutliche interkulturelle Unterschiede (Brekke et al. 2005; Marsh et al. 2003), wobei insbesondere positive Emotionen wie Freude und Überraschung über kulturspezifische Signale kommuniziert werden (Sauter et al. 2010). Affektausdruck ist normalerweise das Resultat unwillkürlicher (»emotionaler«) und modulierender willkürlicher (»display rules«) Innervationen, denen unterschiedliche neuronale Strukturen zugrunde liegen (Rinn 1984). Da die einzelnen Gesichtsmuskeln allerdings nicht nur in anderen emotionalen Funktionsbezügen innerviert werden können (z. B. als Sprachillustratoren und Kommunikationsregulatoren, aber auch beim Sprechen und Kauen) und häufig auch affektive Mischbilder auftreten, ist eine differenzierte Erfassung der muskulären Aktivität für detailliertere Analysezwecke erforderlich.

    1.1.1     Messmethodische Zugänge

    Das Facial Action Coding System

    Das bekannteste Verfahren zur Erfassung mimischen Ausdrucks ist das Facial Action Coding System (FACS) (Ekman und Friesen 1978). Im FACS werden auf anatomisch-muskulärer Grundlage 44 Grundkomponenten bzw. Aktionseinheiten (Action Units, AU) definiert, die das Basisrepertoire mimischen Ausdrucks darstellen und durch geschulte Beobachter anhand von Videoaufnahmen kodiert werden. Komplexere Ausdrucksmuster werden entsprechend als Kombination und Überlagerung solcher Einzelelemente verstanden. Durch die getrennte Erfassung der Grundkomponenten werden die Beschreibung mimischen Verhaltens und daraus abzuleitende Inferenzen voneinander unabhängig vorgenommen, allerdings erfordert das Verfahren einen sehr hohen Zeitaufwand.

    Eine Variante des FACS, das Emotional Facial Action Coding System (EMFACS) notiert nur nachweislich emotionsrelevante mimische Ereignisse (Friesen und Ekman 1984). Im Zuge der Entwicklung des EMFACS wurden Kombinationen von Aktionseinheiten beschrieben, die üblicherweise spezifische Emotionen indizieren.

    Computergestützte Ansätze

    Angesichts des hohen Trainings- und Kodieraufwands bei der Anwendung von FACS und EMFACS wurden in der Zwischenzeit automatisierte Verfahren entwickelt, die neben einer Zeitersparnis auch den Vorteil höherer Präzision haben sollten (Bartlett et al. 1999). Erste computergestützte Ansätze zur Mimikanalyse arbeiteten mit lichtreflektierenden Punkten, die auf die Gesichtsmuskulatur aufgebracht waren. Die Bewegungen dieser Punkte wurden in Weg-Zeit-Kurven aufgezeichnet und hinsichtlich physikalischer Bewegungsparameter analysiert (Himer et al. 1991; Kaiser und Wehrle 1992). Aufgrund der Applikation von Punkten im Gesicht war diese Methode allerdings nur für begrenzte Fragestellungen geeignet und nur bedingt für den Einsatz bei Patienten. In der Weiterentwicklung computergestützter Ansätze zur Mimikanalyse wurden daher Gesichtsmerkmale für die Auswertung manuell in den Videoaufnahmen markiert und anschließend computergestützt ausgewertet (Cohn et al. 1999), oder die mimischen Reaktionen wurden unmittelbar durch die Kombination einer holistischen räumlichen Analyse der Gesichtsaktivität, einer Analyse spezieller Gesichtsmerkmale (z. B. Falten) und der Analyse von Bewegungsabläufen berechnet (Bartlett et al. 1999). Beide Methoden gründen auf dem FACS und verwenden dessen AUs zur automatischen Analyse, wobei hohe Übereinstimmungsraten von über 80 % im Vergleich mit einer manuellen Auswertung erzielt wurden. Insbesondere die Einbeziehung dynamischer Merkmale von Gesichtsbewegungen erwies sich in der Folgezeit als vorteilhaft gegenüber Ansätzen, die nur die Konfiguration von Merkmalen im Gesichtsausdruck nutzen und die einzelnen Komponenten isoliert und nicht in Form einer zeitlichen Entwicklung des gesamten Emotionsausdrucks betrachten. Daher sind bewegungsbasierte Analysen heute Bestandteil nahezu aller aktuellen computergestützten Mimikanalyseverfahren (Brick et al. 2009; Hamm et al. 2011). Die Klassifizierungsgenauigkeit solcher Verfahren im Vergleich zum FACS liegt mittlerweile bei über 90 %, wobei allerdings nicht in allen Verfahren das komplette Repertoire von 44 AUs abgebildet wird, sondern nur ausgewählte AUs der wichtigsten Gesichtsregionen (Augenbrauen, Mund) verwendet werden.

    Elektromyographie

    Alternativ zu videogestützten Analysesystemen stehen auch Methoden zur Verfügung, die auf Basis der Elektromyographie (EMG) die mimische Aktivität erfassen (Wolf et al. 2006). In Weiterentwicklung der herkömmlichen EMG-Ableitungen wird dabei die Erfassung und Diskrimination der Aktivität einzelner, nah beieinanderliegender Muskeln im Gesicht ermöglicht. Die Notwendigkeit zur Applikation entsprechender Ableitelektroden im Gesicht schränkt jedoch sowohl die Einsatzmöglichkeiten – insbesondere bei psychiatrischen Patienten – als auch die Anzahl gleichzeitig erfassbarer Muskeln ein, wenngleich deren Aktivität mit hoher Sensitivität und Selektivität erfasst werden kann.

    1.1.2     Auffälligkeiten bei psychisch Erkrankten und deren neurobiologische Korrelate

    Phänomenologische Auffälligkeiten

    Schon früh wurde die Ausdrucksgestaltung von Patienten mit Schizophrenie als »maskenhaft-natürlich« und »versunken-bedrängt« beschrieben und ein Ausdruckssyndrom der »mimischen Desintegration« im Sinne bizarrer Innervationen oder Innervationskombinationen angenommen (Spoerri und Heimann 1957). Vielfältige neuere Untersuchungen weisen nach, dass schizophren Erkrankte – insbesondere solche mit ausgeprägter Negativsymptomatik – deutlich veränderte mimische Reaktionen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen zeigen. Am häufigsten beschrieben ist eine in Häufigkeit, Umfang und Intensität eingeschränkte mimische Aktivität insbesondere in der oberen Gesichtshälfte (Gaebel und Wölwer 2004; Krause et al. 1989; Kring und Moran 2008; Trémeau et al. 2005; Wolf et al. 2006). Diese Auffälligkeiten betreffen sowohl die spontane mimische Reaktivität in Gesprächssituationen als auch die durch emotionale Bilder oder willentlich evozierte Aktivität, z. B. in Experimenten, in denen mimische Reaktionen nachgeahmt oder nach Aufforderung imitiert werden sollten (Kring und Moran 2008). Eine reduzierte mimische Aktivität lässt sich bei schizophren Kranken auch im remittierten Stadium nachweisen und tritt vergleichbar auch bei Patienten mit einer Depression auf, bei diesen jedoch insbesondere in akuten Erkrankungsphasen (Trémeau et al. 2005). Zudem scheint die Fähigkeit schizophren Kranker, sich in einer Interaktionssituation auf den Gesprächspartner affektiv einzustellen, vermindert: Während sich Gesprächspartner üblicherweise den mimischen Reaktionen der Patienten anpassen (Krause et al. 1989), fällt es schizophren Kranken schwerer als gesunden Kontrollpersonen, dem Gesprächspartner ähnliche mimische Reaktionen zu zeigen, sich also »emotional anstecken« zu lassen (Falkenberg et al. 2008). Dies könnte einerseits im Sinne eines protektiven Mechanismus, i. e. einer Schutzreaktion der Patienten verstanden werden, nicht mit negativen Emotionen belastet zu werden (Falkenberg et al. 2008). Andererseits passt dies ebenso zu Befunden eines beeinträchtigten Empathievermögens schizophren Kranker (Derntl et al. 2009), wie Befunde, wonach eine reduzierte mimische Expressivität korrelativ mit Beeinträchtigungen in »Theory of Mind«-Funktionen einhergeht, d. h. mit einer verminderten Fähigkeit, sich in Gedanken und Gefühle anderer Personen hineinversetzen zu können (Brüne et al. 2009). Hierzu dürfte beitragen, dass schizophren Erkrankte über ihre Schwierigkeiten bei der Enkodierung mimischer Reaktionen hinaus auch erhebliche und verlaufsstabile Beeinträchtigungen aufweisen, mimischen Affektausdruck richtig zu dekodieren (Kohler et al. 2010).

    Neurobiologische Korrelate

    Die in vielen Studien nachgewiesene Reduktion von Muskelaktivität im oberen Gesicht der Patienten wird vor dem Hintergrund diskutiert, dass aufgrund der unterschiedlichen Innervation von Ober- und Untergesichtsmuskulatur das Untergesicht über die Bindung an das motorische Sprachzentrum sowie an die Kaumuskulatur besser willentlich kontrollierbar ist, während das Obergesicht aufgrund eines engeren Zusammenhangs mit der Formatio reticularis und emotionssteuernden Zentren (Rinn 1984) stärker unwillkürlich innerviert ist. Die reduzierte Obergesichtsaktivität von Patienten mit Schizophrenie (oder auch Depression) erscheint daher am ehesten im Sinne einer verflachten emotionalen Reaktivität interpretierbar.

    Unter den an der Emotionsregulation beteiligten neuronalen Strukturen wird insbesondere der Amygdala eine Schlüsselrolle bei der beeinträchtigten Dekodierung und Enkodierung emotionaler Reaktionen schizophren Kranker beigemessen (Aleman und Kahn 2005). Die Amygdala fungiert als zentrale Struktur in einem Netzwerk, bestehend aus dem medialen, präfrontalen und orbitalen Kortex sowie dem anterioren Cingulum und dem Inselkortex (Pinkham et al. 2003); hinzu kommen der Gyrus fusiformis, der Sulcus temporalis superior und der ventrolaterale präfrontale Kortex für die Dekodierung emotionaler Reaktionen im Rahmen sozial-kognitiver Prozesse (Pinkham et al. 2008). Mittels struktureller Magnetresonanztomographie (sMRT) konnte gezeigt werden, dass schizophren Erkrankte in der Amygdala eine bilaterale Reduktion der grauen Substanz im Umfang von 6–10 % im Vergleich zu Kontrollpersonen aufweisen (Aleman und Kahn 2005; Pinkham et al. 2003). In vielen funktionell bildgebenden Studien (fMRT) ( Kap. 5) wurde zudem deutlich, dass schizophren Kranke bei der Dekodierung von Gesichtern mit negativem Emotionsausdruck einhergehend mit einer schlechteren Erkennensleistung eine verminderte Amygdalaaktivierung zeigen. Bei einer ausgeprägten Affektverflachung – die sich üblicherweise vor allem in einer verminderten mimischen Expressivität widerspiegelt – fand sich bei den Patienten zudem eine dauerhafte Aktivitätsreduktion in der Amygdala, den medial präfrontalen Strukturen und im Hippocampus (Aleman und Kahn 2005). Auch in weiteren an der Emotionsregulation beteiligten neuronalen Strukturen finden sich im Vergleich zu gesunden Personen Volumenreduktionen (z. B. Inselkortex) oder eine reduzierte Aktivität bei der Dekodierung mimischer Reaktionen (z. B. anteriores Cingulum, Orbitofrontalkortex) (Aleman und Kahn 2005). Aus diesen Forschungsergebnissen leiten die Autoren ab, dass strukturelle Veränderungen in der Amygdala, in Kombination mit einer verminderten Interkonnektivität ( Kap. 6) mit präfrontalen Regionen sowie einer Imbalance im Dopaminsystem, zu einer Abschwächung der Kontrolle des präfrontalen Kortex als übergeordneter Schaltstelle auf die Amygdala führen und damit der beeinträchtigten emotionalen Expressivität (Affektverflachung) und den schlechteren Leistungen beim Erkennen von mimischem Affektausdruck zugrunde liegen.

    1.2       Gestik

    Gesten wie Arm-, Hand- und Fingerbewegungen übernehmen im Rahmen des nonverbalen Verhaltens vielfältige Funktionen. Sie unterstützen und illustrieren Sprache, können diese gar ersetzen, sind soziale Signale und nicht zuletzt auch Ausdruck emotionaler Prozesse (Ellgring 1989). Der Effekt von Gesten ist am größten, wenn diese motorische Aktionen beschreiben anstatt abstrakte Themen und nicht völlig redundant zum Gesprochenen auftreten. Zudem scheinen Kinder stärker von Gesten zur Untermalung des Gesprochenen zu profitieren als Erwachsene (Hostetter 2011). Fehlt die Gestik zur Untermalung des Gesprochenen, wird die Sprache als nicht so effektiv erlebt und die semantische Information wird schlechter kommuniziert (Beattie und Shovelton 2002).

    1.2.1     Messmethodische Zugänge

    Zur Erfassung von Gestik und, allgemeiner, auch von Körperbewegungen, werden in der Regel indirekte Beobachtungsmethoden im Sinne von Kodier- oder Kategoriensystemen verwendet. In den insgesamt sehr ähnlichen Notationssystemen werden »körperfokussierte« (selbstmanipulative) von »objektfokussierten« Bewegungen abgegrenzt (Ekman und Friesen 1969; Freedman 1972; Wallbott 1982). Erstere sind sprachunabhängig und werden auch als Adaptoren oder Manipulatoren bezeichnet. Letztere sind im Wesentlichen sprachbegleitend oder – unterstützend und werden als Illustratoren bezeichnet. Davon abgegrenzt werden nochmals symbolische Gesten mit eindeutiger Bedeutung (Embleme) sowie die Kommunikation steuernde Regulatoren. Andere Systeme unterscheiden ähnlich zwischen ikonischen Gesten, die die Semantik des Gesprochenen widerspiegeln, deiktischen Bewegungen oder auch Schlagbewegungen zur Betonung des Gesprochenen sowie metaphorischen Gesten zur Repräsentation abstrakter Inhalte (McNeill 1992). Neben dieser funktionalen Klassifikation wurde auch verschiedentlich versucht, auf der Grundlage physikalischer Merkmale großräumige Gesten unter der Beteiligung von Ober- und/oder Unterarm gegenüber kleinräumigen Gesten der Hand oder der Finger abzugrenzen (Ellgring 1989). Als Grundlage für solche Kodiersysteme dienen üblicherweise Videoaufnahmen gestischer Aktivität z. B. in dyadischen Interaktionssituationen. In Beurteilungsskalen zur Erfassung von Negativsymptomatik wird die Gestik vereinzelt, jedoch ebenfalls separat im Rahmen eines klinisch-psychopathologischen Interviews erhoben, so z. B. in der SANS und der Motor Affective Syndrome Scale (MASS) (Trémeau et al. 2008).

    Direkte physikalische und physiologische Messmethoden der Gestik kommen nur vereinzelt zum Einsatz (Wallbott 1982). Hier werden mittels Koordinatenmessungen definierter Punkte auf Händen oder Armen Weg-Zeit-Kurven erfasst und parametrisiert. Bei dieser Methode steht nicht die Auftretenshäufigkeit bestimmter Bewegungsmuster, sondern die physikalische Objektivierung von Bewegungsqualitäten und -stilen im Vordergrund.

    1.2.2     Auffälligkeiten bei psychisch Erkrankten und deren neurobiologische Korrelate

    Phänomenologische Auffälligkeiten

    Schon aus klinischen Beobachtungen wurden Bewegungen von Patienten mit Schizophrenie als eckig, abgehackt und unkoordiniert charakterisiert (Ruesch und Kees 1956/1972) oder als »bizarr« und »stereotyp« bezeichnet (Wallbott 1982). Kontrollierte Untersuchungen liegen dazu nur vereinzelt vor. Jedoch erwiesen sich auch in diesen die Bewegungen von schizophren Erkrankten als ungeschickter, grober, zeitlich kürzer und weniger raumgreifend als bei gesunden Personen (Martin et al. 1994). Patienten mit Depression zeigten in einer Studie zum Zeitpunkt der stationären Aufnahme gegenüber schizophren Erkrankten eine niedrigere Auftretenshäufigkeit von Illustratoren, die im Behandlungsverlauf bei depressiv Erkrankten im Gegensatz zu schizophren Erkrankten jedoch anstieg (Ekman et al. 1974). Da Illustratoren von den Autoren als »Indikatoren einer positiven Stimmungslage« interpretiert werden, wurde dies als objektiver Beleg für eine klinische Besserung angesehen. Bei Patienten mit einer schizotypen Persönlichkeitsstörung war gegenüber psychisch kranken und gegenüber gesunden Vergleichsgruppen eine geringere Rate an Gesten während des Sprechens nachweisbar, nicht jedoch anderer Körperbewegungen (Mittal et al. 2006). Dies wird im Sinne einer Beeinträchtigung der sozialen Kommunikation und der Zurückweisung von Gesprächspartnern interpretiert. Zudem wird ein Zusammenhang mit Gedächtnisbeeinträchtigungen diskutiert, weil die Patienten das Gesprochene selber nicht so stark durch Gesten abbilden und daher auch später nicht mehr vollständig erinnern.

    Ähnlich den Ergebnissen zum mimischen Ausdruck scheinen Patienten mit Schizophrenie zudem medikationsunabhängige Defizite in der Dekodierung gestischen Ausdrucksverhaltens aufzuweisen (Berndl et al. 1986) und Gesten schlechter imitieren zu können als gesunde Kontrollpersonen (Matthews et al. 2011). Die letztgenannte Beeinträchtigung korreliert mit der Stärke der Negativsymptomatik und war besonders ausgeprägt, wenn die zu imitierende Geste mehrere Aktionen beinhaltete oder erst nach einer zeitlichen Verzögerung imitiert werden sollte, d. h., wenn erhöhte Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis gestellt wurden. In Bezug auf die Fähigkeit von schizophren Erkrankten, Gesten adäquat zu deuten, konnte durch Untersuchungen gezeigt werden, dass die Patienten insbesondere die Intention von Gesten falsch interpretieren. Von ihnen werden auch zufällige Bewegungen der Gesprächspartner als Gesten gedeutet und als Abwertung der eigenen Person verstanden (Bucci et al. 2008).

    Neurobiologische Korrelate

    Da die gestische Aktivität Ausdruck emotionaler Reaktionen ist, kann auf die Ausführungen zu den neurobiologischen Korrelaten beeinträchtigter Dekodierung und Enkodierung mimischen Ausdrucks im vorangegangenen Kapitel verwiesen und dort angeknüpft werden. In den Prozess der Planung und Ausführung von Gestik sind neben den primär motorischen Hirnarealen vor allem präfrontale und frontale sowie parietale, interparietale und inferior parietale Regionen involviert (Bates und Dick 2002). Zudem spielt die interhemisphärische Kommunikation eine wichtige Rolle (Lausberg et al. 2000). Aufgrund der Komplexität des Netzwerks, das der Planung und Ausführung von Gestik zugrunde liegt, sind Störungen an unterschiedlichen Bereichen möglich, die letztlich in einer Verhaltensänderung resultieren. Am ehesten diskutiert werden dabei Störungen der innerhemisphärischen (Siever et al. 2002) und/oder interhemisphärischen (Downhill et al. 2001) Konnektivität in diesem Netzwerk oder auch strukturelle und funktionelle Veränderungen an Schlüsselstellen, die wesentlich in die übergeordnete Steuerung von Motorik involviert sind, wie das Striatum (Shihabuddin et al. 2001), frontale Areale (Raine et al. 2002) oder supplementärmotorische Areale (Walther et al. 2011). In allen genannten Bereichen sind für Patienten mit Schizophrenie und einer schizotypen Persönlichkeitsstörung Auffälligkeiten nachgewiesen, so z. B. eine Verkleinerung des Spleniums im Corpus callosum (Downhill et al. 2001) oder des Striatums (Shihabuddin et al. 2001). Es wird vermutet, dass durch solche Störungen die Verbindung zwischen den motorischen Zentren und dem Sprachzentrum beeinträchtigt wird (Siever et al. 2002), was erklären mag, warum das gezeigte Gestikverhalten der Patienten oft unpassend wirkt und das Gesprochene nicht adäquat unterstützt.

    1.3       Visuomotorisches Verhalten

    In der Forschung zum visuomotorischen Verhalten wird üblicherweise unterschieden zwischen »Augenbewegungen«, die eher die motorischen Anteile von bewussten oder unbewussten, willkürlichen oder unwillkürlichen Bewegungen der Augäpfel bezeichnen, und »Blickbewegungen«, die diese Bewegungen in Bezug setzen zu den dabei vom visuellen System aufgenommenen Informationen. Während im erstgenannten Bereich eher basalere Verhaltensparameter zu Sakkaden oder langsamen Augenfolgebewegungen interessieren, werden im letztgenannten Bereich qualitative und quantitative Merkmale der Exploration des visuellen Feldes betrachtet, beispielsweise Fixationshäufigkeiten oder -abfolgen (»Blickpfade«) auf bestimmte Areale des Gesichtsfelds (Gaebel 1989). Blickbewegungsparameter können dabei als zeitlich hochauflösende Verhaltensindikatoren des Ablaufs von Informationsaufnahme- und Informationsverarbeitungsprozessen auch dazu genutzt werden, um kognitive Störungen psychisch Erkrankter differenzierter zu erfassen, und bilden damit einen günstigen Bezugspunkt für die Erforschung von deren neurobiologischen Grundlagen (Wölwer 2006; Wölwer et al., in press). Betrachtet man Blickbewegungen nicht aus einer individuellen, sondern aus einer interaktionsbezogenen Perspektive, fällt auch der Blickkontakt zu einem Gesprächspartner unter den Bereich explorierender Blickbewegungen. Die Fähigkeit, die Blickrichtung einer anderen Person aufzunehmen und die eigene Aufmerksamkeit in diese Richtung zu lenken, ist eine wichtige Komponente der sozialen Kognition und Interaktion (Langdon et al. 2006). Daher stehen bei der Analyse des Blickkontakts – über die Aufnahme sozialer Information vom Kommunikationspartner hinaus – eher expressive Funktionen, wie die Signalisierung der eigenen Aufmerksamkeit und die Bereitschaft zur Aufnahme von Informationen sowie die Unterstützung der Kommunikationsregulierung (z. B. beim Wechsel der Sprecher-/Zuhörer-Rolle) im Gespräch im Vordergrund (Kendon 1967). Trotz der unterschiedlichen Gewichtung von Informationsaufnahme und Signalfunktion bei visuomotorischem Verhalten aus der individuellen und der interaktionsbezogenen Perspektive ist davon auszugehen, dass beide Funktionsbereiche eng miteinander verknüpft sind (Wagner et al. 1981). Dies zeigt sich beispielhaft an der Dekodierung des mimischen Affektausdrucks vom Kommunikationspartner und den daraus folgenden Reaktionen im eigenen nonverbalen Ausdrucksverhalten – der Enkodierung – einschließlich des Blickverhaltens.

    1.3.1     Messmethodische Zugänge

    Der Blickkontakt, i. e. die Tendenz einer Person, auf oder in die Augen zu schauen und das Gesicht eines Kommunikationspartners zu sehen (engl.: gaze), lässt sich hinsichtlich Häufigkeit und Dauer durch trainierte Beobachter relativ einfach online oder aus Bildaufzeichnungen erfassen (Exline und Fehr 1982). Schwieriger ist es hingegen, ohne technische Hilfsmittel zwischen den verschiedenen Formen von Blickkontakt zu unterscheiden, wie dem zeitgleichen gegenseitigen Blickkontakt zweier Interaktionspartner (mutual gaze) und dem einseitigen Blick zu den Augen (eye gaze) oder in das Gesicht des Interaktionspartners (face gaze). Für detailliertere Analysen stehen heute verschiedene Methoden der Okulographie zur Verfügung, mittels derer Position, Dauer und zeitliche Abfolge von Fixationen und Sakkaden direkt gemessen werden können (s. u.). Da solche Methoden messtechnisch bedingt nur schwer in realen Interaktionssituationen einsetzbar sind, kommen diese in der Regel nur für die detaillierte Analyse von Augenbewegungen und des Blickpfads unter experimentellen Situationsbedingungen zum Einsatz.

    Okulographie

    Neben der früher häufig eingesetzten Elektrookulographie werden in der heutigen Zeit insbesondere Infrarot-Reflexionstechniken (Infrarotokulographie, IROG) verwendet. Gestützt auf eine Videoaufnahme des durch eine externe Infrarot-Lichtquelle beleuchteten Auges, erfassen diese softwaregesteuert die Position des Pupillenmittelpunkts und des Cornealreflexes. Der relative Abstand zwischen diesen beiden Punkten liefert Informationen darüber, welche Position eine Person im visuellen Feld betrachtet und ermöglicht so die Auswertung des Fixationsverhaltens und von Sakkaden. Zusätzlich zur Angabe von Positionsparametern des Auges erlauben diese Techniken die fortlaufende Messung des Pupillendurchmessers als möglichen Indikator der Tonuslage und stimulusabhängige Reaktivität des autonomen Nervensystems. Für die Messung sind häufig keinerlei Applikationen am Kopf des Patienten (z. B. keine Brillen o. Ä., keine Kopffixierung) mehr erforderlich. Der Proband sitzt hier meist vor einem Computerbildschirm und betrachtet dargestellte Szenen oder Bilder auf einem Monitor, unter dem die Infrarot-Lichtquelle und die Videokamera installiert sind.

    Spezielle Aufgabenbedingungen zur Analyse von Augenbewegungen

    Zur Analyse von sakkadischen Augenbewegungen werden unter Verwendung okulographischer Methoden häufig Antisakkadenaufgaben eingesetzt. Dabei soll in jedem Durchgang zunächst ein zentral im visuellen Feld dargebotener Punkt fixiert werden, der nach einiger Zeit unvorhersehbar zur rechten oder linken Seite springt. Die Versuchsperson wird instruiert, daraufhin eine Sakkade zur Gegenseite (i. e. eine Antisakkade) auszuführen, wobei entsprechend reflexive Sakkaden (i. e. Prosakkaden) inhibiert werden müssen (Turetsky et al. 2007). Berechnet werden der Anteil falscher Reaktionen (Prosakkaden) sowie Latenzen, Amplituden und Geschwindigkeitsparameter korrekter Antisakkaden.

    Mit einer ähnlichen Anordnung werden langsame Augenfolgebewegungen (Smooth Pursuit Eye Movements, SPEM) untersucht, d. h. die Fähigkeit, langsam (weniger als 100°/sec) bewegenden Objekten kontinuierlich zu folgen. Hierzu wird ein sich pendelartig bzw. sinusförmig langsam von einer zur anderen Seite des visuellen Felds bewegender Reiz verwendet, der mit den Augen verfolgt werden soll. Als quantitative Leistungsparameter werden hier insbesondere Anzahl und Amplituden der anti-zipatorischen und Aufholsakkaden sowie v. a. der sogenannte »Gain« berechnet, der das Verhältnis von Augengeschwindigkeit zu Targetgeschwindigkeit beschreibt.

    1.3.2     Auffälligkeiten bei psychisch Erkrankten und deren neurobiologische Korrelate

    Phänomenologische Auffälligkeiten

    Für schizophren Erkrankte ist ein hinsichtlich der Häufigkeit und Dauer reduzierter Blickkontakt zu Gesprächspartnern in Interviews mehrfach berichtet worden (Choi et al. 2010; Davison et al. 1996; Rutter und Stephenson 1972). Zugleich zeigen schizophren Erkrankte eine eingeschränkte Fähigkeit, die Blickrichtung des Gesprächspartners richtig zu dekodieren (Kohler et al. 2008). Das erstgenannte Enkodierungsdefizit wurde als Indikator für sozialen Rückzug und als ein Signal der Unwilligkeit und/oder Unfähigkeit zu kommunizieren interpretiert. Andere Studien konnten diesen Befund allerdings nicht replizieren (Jones und Pansa 1979; Rutter 1977), sodass ein verminderter Blickkontakt kein konsistentes Merkmal – und im Hinblick auf vergleichbare Befunde für Patienten mit Depressionen – auch kein diagnosespezifisches Merkmal der Schizophrenie zu sein scheint. Dagegen gelten Auffälligkeiten schizophren Erkrankter im visuellen Explorationsverhalten unter Laborbedingungen, z. B. bei der Betrachtung von Gesichtern, sozialen Szenen oder auch einfachen Objekten, in der Zwischenzeit als gesichert (zusammenfassend Beedie et al. 2011; Toh et al. 2011). Danach zeichnen sich schizophren Erkrankte gegenüber gesunden Kontrollpersonen aus durch einen restriktiven Explorationsstil – gekennzeichnet durch eine geringere Anzahl und längere Dauer von Fixationen, eine geringere Anzahl und kürzere Distanz von Sakkaden und eine geringere Länge des gesamten Blickpfades. Das Explorationsfeld ist damit häufig räumlich weniger ausgedehnt und es werden informationstragende Elemente (z. B. in Gesichtern auf Augen, Nase und Mund) mit geringerer Häufigkeit erfasst wie bei Gesunden. Für verschiedene Kennwerte dieser Auffälligkeiten wurden über eine Vielzahl an Studien und Untersuchungsparadigmen hinweg Effektstärken in einer Größenordnung von Hedges g = 0.64 bis 0.98 für Vergleiche zwischen schizophren Erkrankten und gesunden Kontrollpersonen gefunden (Beedie et al. 2011). Studien an Patienten mit Angst- oder affektiven Störungen haben dagegen nur inkonsistente Befunde erbracht (Toh et al. 2011).

    Auch in Untersuchungen, die zu basaleren Augenbewegungsparametern wie Antisakkaden und SPEM durchgeführt wurden, zeigen insbesondere schizophren Erkrankte deutliche und bemerkenswert konsistente Auffälligkeiten. So bestätigen über 50 Studien, dass Patienten mit Schizophrenie in Antisakkadenaufgaben etwa doppelt so viele Falschreaktionen i. S. v. reflexiven Sakkaden hin zu den Targetreizen machen als gesunde Kontrollpersonen (Turetsky et al. 2007). In einigen Studien finden sich Beeinträchtigungen geringeren Ausmaßes auch bei Patienten mit bipolaren oder affektiven Störungen, jedoch ist die Befundlage diesbezüglich eher inkonsistent. Hinsichtlich der Augenfolgebewegungen sind Störungen im Sinne von Unterbrechungen der Folgebewegung durch vorauseilende (antizipatorische) oder hinterherlaufende (Aufhol-)Sakkaden bei Patienten mit Schizophrenie und ihren Verwandten ersten Grades zahlreich dokumentiert (zusammenfassend Levy et al. 2010). Je nach Grenzwert zeigen 40–80 % der Patienten und 25–45 % ihrer Verwandten ersten Grades dieses Defizit, wohingegen in der Normalbevölkerung weniger als 10 % (Gottesman und Gould 2003). Die Effektstärken liegen je nach Parameter zwischen Cohens d = 0.87 bis 1.31 für Vergleiche zwischen schizophren Erkrankten und Gesunden (Levy et al. 2010). Bei anderen psychischen Störungen (z. B. bei Zwangsstörungen) fanden sich derartige Anomalien nur in geringerem Umfang und insbesondere an Akutstadien der Erkrankung gebunden. Störungen der Augenfolgebewegungen – wie im Übrigen auch solche bei Antisakkadenaufgaben und im visuellen Explorationsverhalten – sind bei schizophren Kranken sehr verlaufsstabil. Sie treten auch bei Verwandten ersten Grades oder klinisch definierten Risikogruppen für psychotische Erkrankungen auf und lassen bei manifest Erkrankten nur eine mäßige Korrelation zur klinischen Symptomatik (v. a. zur Negativsymptomatik) erkennen.

    Damit zeigen schizophren Kranke in einer Reihe von Augen- und Blickbewegungsparametern Auffälligkeiten, wobei jedoch noch unklar ist, inwieweit diese ggf. alle auf einem gemeinsamen Störungsmechanismus beruhen oder aber voneinander abgrenzbare Störungsmechanismen widerspiegeln (Beedie et al. 2011). Bemerkenswert ist, dass sich die Auffälligkeiten im visuellen Explorationsverhalten, in Antisakkaden-und Augenfolgebewegungsaufgaben generell als weitgehend unabhängig von Art und Umfang der antipsychotischen Medikation erwiesen haben, also nicht lediglich als medikamentöse Nebenwirkung interpretiert werden können.

    Neurobiologische Korrelate

    Die neurobiologischen Grundlagen der visuomotorischen Störungen schizophren Kranker sind bisher nur unzureichend verstanden. Insbesondere die Auffälligkeiten im visuellen Explorationsverhalten dürften ein komplexes Zusammenspiel gestörter neurobiologischer Mechanismen und kognitiver Dysfunktionen widerspiegeln (Beedie et al. 2011). Dabei wird jüngst auch diskutiert, inwieweit das abweichende visuelle Explorationsverhalten mit den für Schizophrenie bekannten Veränderungen im Belohnungssystem assoziiert ist (Shadmehr et al. 2010). Aber selbst die Störungen mutmaßlich basalerer Augenbewegungsparameter, wie Antisakkaden und Augenfolgebewegungen, sind nur in Verbindung mit kognitiven Leistungen wie Aufmerksamkeit, Bewegungswahrnehmung sowie insbesondere mit inhibitorischen und exekutiven Kontrollprozessen zu verstehen (Behrwind et al. 2011; Levy et al. 2010; Turetsky et al. 2007). Dies macht eine Vielzahl involvierter neuronaler Systeme als Grundlage der Störungen möglich.

    Das neuronale Netzwerk für die okulomotorische Kontrolle und die räumliche Aufmerksamkeitsverlagerung ist mittlerweile gut bekannt und umfasst im Wesentlichen kortikale Strukturen in präfrontalen, posterior-parietalen und supplementären okulomotorischen Gehirnregionen. Bildgebende Untersuchungen, Analogien zum visuomotorischen Verhalten bei Frontalhirngeschädigten sowie Korrelationen zu mit dem Frontalhirn assoziierten (exekutiv-)kognitiven Leistungen und zur Negativsymptomatik weisen dabei auf eine bedeutende Rolle von Störungen in frontalen und präfrontalen Hirnregionen für das Zustandekommen der visuomotorischen Störungen schizophren Kranker hin (Beedie et al. 2011; Levy et al. 2010). Dies wird auch durch jüngste Berichte über reduzierte elektrophysiologische Potentiale ( Kap. 8) über lateral präfrontalen Hirnregionen im Vorfeld fehlerhafter Antisakkaden bei schizophren Erkrankten und nicht erkrankten Verwandten unterstützt (Kang et al. 2011). Auch die schlechtere Dekodierung der Blickrichtung einer Person geht mit einer verminderten Aktivität in frontalen – aber auch in temporalen und okzipitoparietalen – Gebieten einher (Kohler et al. 2008).

    Vermehrt diskutiert werden jedoch auch Störungen in subkortikalen Gebieten, so in thalamischen Kerngebieten (Tanaka und Kunimatsu 2011) und insbesondere in den Basalganglien. Für Letztere sind Auffälligkeiten bei schizophren Kranken gut dokumentiert und reichen von synaptischen bis hin zu strukturellen Veränderungen in verschiedenen Kerngebieten (Perez-Costas et al. 2010). Auch funktionell war im Antisakkadenparadigma bei schizophren Kranken eine weniger ausgeprägte Aktivierung im Striatum, insbesondere im Ncl. caudatus nachweisbar (Raemaekers 2006). Dies mag zu einem Defizit der durch fronto-striatale Verbindungen vermittelten Inhibition von reflexiven, stimulusgetriebenen Sakkaden in der Antisakkadenaufgabe führen. Okulomotorische Thalamuskerne (anteriore Gruppe des intralaminaren Nucleus, paralaminarer Teil des ventrolateralen, ventroanterioren und mediodorsalen Nucleus) senden direkte Projektionen zum frontalen Augenfeld (Tanaka und Kunimatsu 2011), welches solche Sakkaden triggert bzw. Folgebewegungen aufrechterhält (Beedie et al. 2011). Schließlich werden als Grundlage der visuomotorischen Auffälligkeiten schizophren Kranker Konnektivitätsstörungen in dem Netzwerk diskutiert, das der okulomotorischen Kontrolle zugrunde liegt. Solche Konnektivitätsstörungen ( Kap. 6) wurden im Rahmen dieses Netzwerks z. B. zum dorsalen anterioren cingulären Kortex (cinguläres Augenfeld) – als einer der Hauptschaltstellen für die Topdown-Kontrolle okulomotorischer Prozesse – nachgewiesen und mit den Auffälligkeiten im visuellen Explorationsverhalten in Verbindung gebracht (Tu et al. 2010).

    1.4       Diskrete Bewegungsstörungen

    Diskrete Bewegungsstörungen sind subtile, aber deutlich erkennbare Einschränkungen in motorischen Funktionen, die bei Bewegungsaufgaben oft als eine Art von Ungeschicklichkeit oder Unbeholfenheit auffallen und eine Teilmenge der sogenannten neurologischen »soft signs« darstellen. Typischerweise handelt es sich um Beeinträchtigungen in der motorischen Koordination, in der Sequenzierung bei komplexen motorischen Aufgaben, in der sensomotorischen Integration und der Disinhibition konkurrierender Reaktionen (Neelam et al. 2011). Diese werden definitionsgemäß von neurologischen »hard signs« abgegrenzt, die meist auf Störungen in pyramidalen oder extrapyramidalen motorischen Systemen beruhen. Neurologische »soft signs« weisen für sich genommen dagegen (noch) nicht auf eine klar lokalisierbare neuronale Störung hin und sind nicht Teil von (bekannten) umschriebenen neurologischen Störungen (Chan und Gottesman 2008). Lange Zeit wurden solche neurologischen »soft signs« kaum beachtet, da sie von nur geringem praktischen und klinischen Nutzen zu sein schienen. Neuere Diskussionen um die potentielle Bedeutung diskreter Bewegungsstörungen als Endophänotypen schizophrener Erkrankungen haben diese jedoch verstärkt zum Forschungsgegenstand werden lassen, über den man sich einen Zugang zu den neurobiologischen Grundlagen schizophrener Erkrankungen erhofft (Chan und Gottesman 2008; Neelam et al. 2011).

    1.4.1     Messmethodische Zugänge

    Zur Erfassung diskreter Bewegungsstörungen stehen viele psychometrische Tests zur Verfügung. Die beiden am häufigsten genutzten Tests sind die Neurological Evaluation Scale (NES) mit 26 Items und das sehr umfangreiche Cambridge Neurological Inventory (CNI) mit 80 Items, die jeweils drei der vier konzeptuell und empirisch definierten Bereiche von neurologischen »soft signs« erfassen: motorische Koordination (NES, CNI), Sequenzierung bei komplexen motorischen Aufgaben (NES), sensomotorische Integration (NES, CNI) und Disinhibition (CNI). Beide Verfahren weisen sehr gute psychometrische Eigenschaften auf und haben sich als praktikabel in der klinischen Anwendung erwiesen (Chan und Gottesman 2008). Im deutschsprachigen Raum steht zur Erfassung von neurologischen »soft signs« bei Patienten mit Schizophrenie die Brief Motor Scale (BMS) (Jahn et al. 2006) zur Verfügung, die auch die reliabelsten und trennschärfsten Items aus der NES einschließt. Das Inventar bewertet in drei Stufen (keine Störung bis deutliche Störung) anhand detaillierter Richtlinien zehn Aufgaben zu rein motorischen Fähigkeiten in zwei Subskalen für motorische Koordination und für motorische Sequenzierung. Die motorische Koordination wird z. B. mit der Finger-Daumen-Oppositions-Probe (den Daumen einer Hand mit den Spitzen der vier Finger derselben Hand möglichst schnell nacheinander berühren) und der Faust-Kante-Ballen-Probe (mehrmals in rascher Folge zuerst mit der Faust, dann mit der Handkante und zuletzt mit der flachen Hand auf eine Unterlage klopfen) erfasst. Die motorische Sequenzierung wird ermittelt z. B. mit dem Diadochokinese-Test (Pronations-Supinationsbewegungen des Unterarms) und dem Oseretzky-Test (beide Hände abwechselnd zur Faust machen bzw. flach ausstrecken).

    In der Zwischenzeit wurden auch apparative Verfahren entwickelt, z. B. das Manual zur kinematischen Analyse motorischer Zeichen (Jahn 2004), in dem neben einigen Proben der BMS auch Tests zur Untersuchung von extrapyramidal-motorischen Symptomen enthalten sind. Mit den sogenannten Linear Variable Differential Transformer Units (LVDT) (Hoy et al. 2009) können unwillentliche Bewegungen erfasst werden, die die willentliche motorische Aktivität begleiten und negativ beeinflussen. Bei diesem Verfahren sollen die Probanden ihre Zeigefinger je auf einer Taste positionieren – und mit dem linken Zeigefinger die linke Taste herunterdrücken oder komplementär mit dem rechten Zeigefinger die rechte Taste. Rechnergestützt wird erfasst, mit welchem Gewicht, wie lange und wie schnell die Tasten gedrückt werden, und ob unwillentlichen Mitbewegungen des in der jeweiligen Aufgabenbedingung nicht geforderten Fingers ausgeführt werden.

    1.4.2     Auffälligkeiten bei psychisch Erkrankten und deren neurobiologische Korrelate

    Phänomenologische Auffälligkeiten

    Insbesondere schizophren Erkrankte zeigen im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen deutlich erhöhte Raten an diskreten Bewegungsstörungen. In vielen Untersuchungen wurden je nach Grenzwertsetzung mittlere Prävalenzraten von 60–70 % bei schizophren Erkrankten gegenüber einer etwa zehnfach niedrigeren Rate bei gesunden Kontrollpersonen berichtet und ebenfalls deutlich niedrigeren Prävalenzen bei anderen psychischen Erkrankungen (Bombin et al. 2005). Die Störungen umfassen dabei qualitativ ein breites Spektrum: So wiesen Patienten mit Schizophrenie bei allen zehn Items der BMS ein eingeschränktes Motorikverhalten gegenüber Gesunden auf (Jahn et al. 2006). Mittels der LVDT konnten bei schizophren Erkrankten im Vergleich zu Kontrollpersonen auch mehr unwillentliche Bewegungen nachgewiesen werden, die willentliche motorische Aktivitäten begleiten (motor overflow) und beeinflussen (Hoy et al. 2009). Zusammenhänge mit dem bisherigen Krankheitsverlauf oder Art und Dosis der antipsychotischen Medikation sind nur vereinzelt gefunden worden, häufiger –jedoch ebenfalls inkonsistent – fanden sich Beziehungen zur Negativsymptomatik. Ein Zusammenhang mit kognitiven Leistungsdefiziten in exekutiven Funktionen wird dagegen konsistent berichtet (Bombin et al. 2005). Neurologische »soft signs« sind damit offenbar kein Epiphänomen antipsychotischer Medikation oder der klinischen Symptomatik, sondern werden heute eher als Endophänotyp der Schizophrenie diskutiert. In diesem Zusammenhang ist bedeutsam, dass die Symptome unabhängig vom Krankheitsstadium auftreten, bereits in Vorstadien einer manifesten Schizophrenie sowie auch bei Verwandten der Erkrankten mit größerer Wahrscheinlichkeit als bei Kontrollpersonen nachweisbar sind, sodass eine Assoziation an genetische Faktoren wahrscheinlich ist (Neelam et al. 2011).

    Neurobiologische Korrelate

    Auch wenn Einschränkungen der Motorik, die sich in den neurologischen »soft signs« widerspiegeln, definitionsgemäß auf kortikaler Ebene nicht genau lokalisiert werden können – was aufgrund der Heterogenität der unter diesem Begriff zusammengefassten motorischen Störungen auch kaum zu erwarten ist –, weisen die wenigen bisher vorliegenden Studien doch relativ konsistent auf eine Assoziation mit einer Vergrößerung der Sulci und einem reduzierten Hirnvolumen insbesondere in zerebellären Regionen hin (Hui et al. 2009). Solche Anomalien des zerebello-thalamo-präfrontalen Netzwerks ( Kap. 2) wurden in der Zwischenzeit auch bei ersterkrankten Patienten (Mouchet-Mages et al. 2011; Thomann et al. 2009) nachgewiesen, die zum Teil noch nie antipsychotisch behandelt worden waren (Venkatasubramanian et al. 2008). Bei erstmals schizophren Erkrankten mit persistierenden motorischen »soft signs« und schlechtem Krankheitsverlauf konnte darüber hinaus innerhalb eines Zeitraums von 12 Monaten eine zunehmende Volumenreduktion der grauen Substanz im Claustrum, Frontalkortex, Cingulum sowie im Zerebellum beobachtet werden (Kong et al. 2011). Eine Störung in zerebellären Regionen erscheint plausibel, da die zeitliche Organisation und Sequenzierung motorischer Prozesse wesentlich auf die Integrität der kortiko-zerebello-thalamo-kortikalen Schleife angewiesen ist und Dysfunktionen in dieser Schleife mit Defiziten der motorischen Kontrolle einhergehen (Sewell et al. 2010). Diese Befunde zu motorischen »soft signs« stützen das Konzept der »kognitiven Dysmetrie« schizophren Erkrankter, welches die Störungen der flüssigen und koordinierten Sequenzierung von Denken und Handeln, die eine normale Kognition kennzeichnet, auf der Basis von Dysfunktionen in der kortiko-zerebello-thalamo-kortikalen Schleife zu erklären versucht (Andreasen et al. 1999).

    1.5       Ausblick

    Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass Beeinträchtigungen in verhaltensbezogenen Prozessen bei Patienten mit psychischen Störungen weit verbreitet sind, jedoch insbesondere bei schizophren Erkrankten auftreten, bei denen diese Beeinträchtigungen in der Regel am stärksten ausgeprägt und am wenigsten an akute Verlaufsstadien geknüpft sind. Die Beeinträchtigungen betreffen ein breites Spektrum von molekularen bis hin zu molaren motorischen Prozessen. Selbst in der durch Aktometer erfassten gesamtmotorischen Aktivität finden sich bei schizophren und depressiv Erkrankten deutliche Einschränkungen gegenüber gesunden Personen (Hauge et al. 2011). Solche Beeinträchtigungen sind sowohl in klinischer als auch in forschungsstrategischer Hinsicht von wesentlicher Bedeutung: Klinisch haben insbesondere die eher molaren verhaltensbezogenen Störungen im nonverbalen Ausdrucksverhalten einen besonderen Wert durch ihre konzeptuelle und empirisch-korrelative Nähe zur sozialen Funktionsfähigkeit der Patienten. Über die Kanäle der nonverbalen Kommunikation, wie mimischer Ausdruck, Gestik und Blickverhalten nimmt der Mensch wichtige Informationen aus seiner Umwelt und von seinen Gesprächspartnern auf und dient gleichzeitig auch für andere Personen als Informationsquelle. Störungen in der Enkodierung und der Dekodierung des nonverbalen Ausdrucks erschweren entsprechend die soziale Kommunikation, behindern die Initiierung und Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen und tragen so zum häufig beobachteten sozialen Rückzug und zu einer verminderten Lebensqualität schizophren Erkrankter bei (Couture et al. 2006; Trémeau 2006). Entsprechend zeigt die Negativsymptomatik – mit ihrem primär über das nonverbale Ausdrucksverhalten definierten Kernsyndrom der Affektverflachung – bei schizophren Erkrankten innerhalb der klinischen Symptomatik den engsten Zusammenhang mit dem sozialen Funktionsniveau (Ventura et al. 2009).

    Neben dieser klinischen Relevanz kommt verhaltensbezogenen Störungen, insbesondere solchen in eher molekularen Prozessen, eine besondere Bedeutung im Bereich der ätiopathologischen Forschung zu. Dies resultiert daraus, dass die mittlerweile gut replizierten Störungen sowohl im visuellen Explorationsverhalten (Beedie et al. 2011; Toh et al. 2011) als auch hinsichtlich der Antisakkaden (Turetsky et al. 2007) und langsamen Augenfolgebewegungen (Levy et al. 2010) und nicht zuletzt der diskreten Bewegungsstörungen (Neelam et al. 2011) als potentielle Endophänotypen diskutiert werden, über die man sich einen leichteren Zugang zu den neurobiologischen Grundlagen psychischer Erkrankungen erhofft (Gottesman und Gould 2003). Hintergrund derartiger Überlegungen sind die Befunde, wonach für diese Störungen eine weitgehende Unabhängigkeit vom Verlaufsstadium der Erkrankung nachweisbar ist und ihr Vorhandensein bereits im prämorbiden Stadium – sowie auch bei Verwandten und anderen Risikopersonen für eine psychotische Erkrankung. Um solche Störungen als Bezugspunkt für die Erforschung neurobiologischer Grundlagen psychischer Erkrankungen zu nutzen, bedarf jedoch an vielen Stellen noch methodischer Weiterentwicklungen. So müssten zum einen Stimulusbedingungen und Auswerteparameter (z. B. für visuelle Explorationsparadigmen) noch stärker standardisiert werden, um die Vergleichbarkeit zwischen Untersuchungen zu verbessern (vgl. z. B. Toh et al. 2011), und die am Zustandekommen der Funktionsstörungen beteiligten kognitiven, motivationalen und motorischen Komponenten durch systematische Variation der Untersuchungsbedingungen noch stärker herausgearbeitet werden. Dies würde den Weg ebnen für die Entwicklung einer differenzierten psychopathologischen Funktionsdiagnostik, wie sie im Rahmen einer »modularen Psychiatrie« vorgeschlagen wurde (Gaebel und Zielasek 2011; Zielasek und Gaebel 2008). Diese zielt nicht mehr auf nosologische Entitäten, sondern auf die Nosologie übergreifende Funktionsstörungen psycho-neurobiologischer Systeme, die im Rahmen verschiedener Erkrankungen in unterschiedlicher Kombination involviert sein können. Ein solches Konzept ist jüngst für den Bereich der Kontrolle von Verhalten exemplarisch beschrieben worden (Seitz et al. 2011). Bei der Umsetzung verspricht es auch weiteren Aufschluss zu der Frage, ob und wie die beschriebenen verhaltensbezogenen Defizite zusammenhängen und ggf. gemeinsamen neurobiologischen Ursprungs sind oder aber als Ausdruck von Störungen unterschiedlicher Module verstanden werden müssen. Einstweilen erscheint die Interpretation der beschriebenen motorischen Störungen im Sinne einer »kognitiven Dysmetrie« (Andreasen et al. 1999) – ein Konzept, das aufbauend auf motorischen Phänomenen auch Erklärungscharakter für häufig hiermit assoziiere kognitive und klinisch-psychopathologische Phänomene hat – weiterhin als heuristisch wertvoller Erklärungsansatz.

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