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Interaktion und Kommunikation im Autismus-Spektrum: Mit Komm!ASS® Sprache entdecken
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eBook460 Seiten3 Stunden

Interaktion und Kommunikation im Autismus-Spektrum: Mit Komm!ASS® Sprache entdecken

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Über dieses E-Book

Eine lebendige Interaktion bildet die Grundlage für Kommunikation und Sprachanbahnung. Der ganzheitliche Therapieansatz Komm!ASS® nutzt gezielte Impulse und Regulationshilfen zur Verbesserung der (Körper-)Wahrnehmung von Menschen im Autismus-Spektrum. Beim freudvollen, berührenden gemeinsamen Spiel finden vielfältige Modalitätenwechsel statt. Dabei können bedeutungstragende Informationen leichter fokussiert und auf Neuerungen kann flexibel reagiert werden. In der umfassend überarbeiteten Neuauflage wurde der ressourcenorientierte Blick vertieft und um neue Erkenntnisse besonders zu Regulation und Stimming sowie zum Erleben und Verstehen von Emotionen erweitert.
Der Befundbogen im Anhang wurde ebenfalls überarbeitet und steht auch als Online-Zusatzmaterial zur Verfügung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Apr. 2024
ISBN9783170435858
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    Buchvorschau

    Interaktion und Kommunikation im Autismus-Spektrum - Ulrike Funke

    Herzlichen Dank!

    Viele Menschen haben mich auf meinem Weg begleitet und haben deshalb großen Anteil an diesem Konzept und all dem, was sich daraus entwickeln durfte.

    Einige haben mich (beruflich) in den letzten Jahren besonders inspiriert und unterstützt:

    Yvonne, Julia, Silke, Johanna, Södje, Anke, Christine, Frank, Pia, Constanze… all meine Kolleginnen in der Praxis und im fachlichen Austausch. Sie unterstützen mich bei der aktiven Arbeit und ermöglichen mir Zeit für Fortbildungen und Studien. Die Absprachen zwischen den Therapien und den Lehrveranstaltungen motivieren mich immer wieder weiterzudenken und Dinge nochmals zu überarbeiten. Sie sind verantwortlich für neue Ideen, aber auch weitere Recherchen. Sie sind immer für mich da, wir diskutieren und reflektieren. Dank ihnen gelingt es mir, das Spektrum Autismus immer besser zu verstehen. Einen besonderen Dank an Anke für das mehrmalige Probelesen der überarbeiten Ausgabe und über die vielen kleinen Ergänzungen und Anmerkungen. Ich bin sehr dankbar für all diese Unterstützungen!

    Danke an den Kohlhammer Verlag für die Möglichkeit, dieses Buch zu veröffentlichen und für die Unterstützung durch meine Lektorinnen. Danke auch an all die Leserinnen für die Rückmeldungen zur 1. Auflage dieses Buches. Es ist für mich heute noch immer unglaublich, wie viele Bücher verkauft und gelesen werden und wie viele Menschen ich so erreichen darf.

    Herzlichen Dank auch an alle Menschen mit Autismus und ihre Angehörigen, für das Vertrauen, sich auf uns und unsere Arbeit einzulassen. Wir können gemeinsam das Abenteuer Interaktion erleben und zusammen neue Wege gehen. Die Bereitstellung von Fotos und Videomaterialien für Vorträge, Fortbildungen, Veröffentlichungen und zu Forschungszwecken sind unersetzlich. Danke für die unzähligen Erlebnisse und Geschichten!

    Ganz besonderen Dank, immer und immer wieder von Herzen, an meinen Mann Peter, der mich mit seiner ruhigen Art immer wieder erdet, unterstützt und motiviert und der stets an mich glaubt. Du erlaubst es mir, so viele Tage im Jahr unterwegs zu sein und andere für diese Arbeit und diese Sichtweise zu begeistern. Im gleichen Atemzug danke an Ronny, auch du bestärkst mich immer wieder, wie wichtig diese Arbeit ist.

    1          Einführung

    1.1        Was ist Wahrnehmung?

    Wahrnehmung und die folgende Wahrnehmungsverarbeitung sind ein aktiver, selektiver und konstruktiver Prozess. Die Informationen in Bezug auf den eigenen Körper und der umgebenden Umwelt müssen identifiziert, weitergeleitet, koordiniert und im Gehirn mit bereits gespeicherten Informationen verknüpft werden.

    Dabei erfolgt die Aufnahme der Impulse über die Rezeptoren des spezifischen Sinnesorganes. Diese Informationen werden an das Gehirn weitergeleitet und in den jeweiligen Zentren der Großhirnrinde abgespeichert. Das Wahrgenommene wird dann mit bereits erworbenem Wissen verglichen, daraufhin erfolgt die Auswahl sowie Bewertung der Impulse und ggf. die Koordination und Verknüpfung in verschiedenen Gehirnarealen. Das folgende beobachtbare Verhalten ist somit auch eine Folge der Wahrnehmung und deren Verarbeitung.

    1.2        Jede Wahrnehmung ist einzigartig

    Wahrnehmung ist individuell

    Der Prozess der Wahrnehmungsverarbeitung ist bei jedem Menschen einzigartig und individuell. Wahrnehmung ist eine subjektive Sicht auf die Wirklichkeit und jede Person nimmt ihre Wirklichkeit anders und somit ganz besonders wahr.

    So können z. B. Berührungen, welche von einer Person bevorzugt werden, bei einer anderen Person Schmerzen auslösen. Bestimmte Musikstücke oder Geräusche werden von manchen Menschen als angenehm empfunden, für einige sind sie unangenehm oder nicht auszuhalten.

    Wahrnehmung ist variabel

    Die Wahrnehmung kann zudem variieren, je nach Tagesform, Gesundheitsstand, Stressbelastung und dem allgemeinen (Wohl-)Befinden. Bilder, welche an manchen Tagen faszinieren, wirken in anderen Situationen beängstigend. Musik, deren Rhythmus gestern als positiv anregend empfunden wurde, hört und fühlt sich am nächsten Tag vielleicht unangenehm an. Viele verschiedene Faktoren wirken sich auf den Prozess und das Ergebnis der Informationsaufnahme, der Bearbeitung und Bewertung von Impulsen aus.

    Gut zu wissen: Migräne – eine kurzzeitig veränderte Wahrnehmung

    Einige der Autismus-Symptome ähneln denen einer akuten Migräneattacke: Ein erhöhtes Druckgefühl im Kopf, eine Überempfindlichkeit des vestibulären, des visuellen oder auditiven Systems, eine erhöhte gustatorische und olfaktorische Sensibilität sowie weitere Symptome sorgen dafür, dass einige Informationen aus der Umgebung kaum, andere besonders intensiv wahrgenommen werden.

    Die Betroffenen möchten sich am liebsten in einen dunklen Raum zurückziehen, jede Aufgabe, jeder Austausch wird, wenn möglich, vermieden. Die stark belastenden unterschiedlichen Symptome vergehen im Laufe eines oder mehrerer Tage mit ausreichender Erholungszeit. Medikamente können die Schmerzen und weitere begleitende Symptome der Migräne lindern. Bald reagiert der Körper wieder wie gewohnt auf die unterschiedlichen Impulse, anstehende Aufgaben können bewältigt werden und auch Wohlbefinden und Freude sind wieder erlebbar.

    Erfahrungen prägen die Wahrnehmung

    Auch die eigenen Erfahrungen, Erlebnisse und Lernprozesse verändern die persönliche Wahrnehmung. Sie haben Einfluss darauf, ob und wie eine Information wahrgenommen wird und welche Reaktionen diese auslöst. Essen, was in jungen Jahren als wohlschmeckend eingestuft wurde, wird im Erwachsenenalter nur noch ungern gegessen, Aktivitäten, die einst Freude bereiteten, lösen nun vielleicht Angst aus. Besonders der Prozess der Selektion und welche Informationen als bedeutungstragend eingestuft werden, beeinflusst die weitere Handlung oder die folgenden Reaktionen.

    1.3        Eine ganz besondere Wahrnehmung

    »[Autistische Menschen] nehmen nicht nur viel mehr Reize bewusst wahr als nichtautistische Menschen, sondern reagieren auch anders, weil in ihrem Gehirn ein anderes Modell der Welt entsteht, auf das sie dann mit einem anderen, für die Umgebung unerwarteten Verhalten reagieren.[…] Sie werden mein Verhalten nicht einordnen können und als komisch oder gar abartig empfinden. Dass es innerhalb meines Systems ein korrektes Verhalten ist, spielt keine Rolle mehr« (Vero, 2014, S. 21 f.).

    Ein Leben in Extremen

    Die Wahrnehmung und damit die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesinformationen ist bei Menschen mit Autismus besonders. Im Vergleich zu den Empfindungen von neurotypischen Menschen werden viele Informationen entweder kaum wahr- oder aufgenommen (Hyposensibilität) oder besonders intensiv gespürt (Hypersensibilität). Abstufungen zwischen den beiden gegensätzlichen Intensitäten sind kaum zu beobachten, so dass entweder eine Unterstimulation oder eine Überstimulation des zentralen Nervensystems vorliegt. Für die Betroffenen bedeutet dies ein Leben in Extremen.

    Ob in einer bestimmten Situation eine Hypo- oder Hypersensibilität für einen bestimmten Wahrnehmungsbereich vorliegt, lässt sich zum Teil schwer erkennen. Ist das gezeigte Verhalten eine Vermeidung eines Impulses oder ist es die intensive Suche nach dem gegensätzlichen Impuls? So kann das bei einer Überforderung gezeigte feste Schlagen auf die Ohren anzeigen, dass eine bestimmte auditive Information ausgeblendet werden soll, zugleich kann diese Handlung aber auch einer Suche nach einem starken Druck auf das Ohr und das Trommelfell zugeordnet werden. Die Beobachtung ähnlicher Situationen und der Vergleich, bei welchem Impuls, mit welcher Intensität eine Reaktion erfolgt, erfordert eine differenzierte Betrachtungs- und Vorgehensweise.

    »Bereits seit längerem weiß man, dass Menschen mit autistischen Störungen in allen Sinnessystemen empfindlicher reagieren können oder Wahrnehmungen anders empfinden können als nicht autistische Menschen. […] Es fanden sich statistisch hochsignifikante Unterschiede: Die autistischen Kinder hatten im Durchschnitt eine mehr als doppelt so hohe Überempfindlichkeit. Es traten aber auch doppelt so häufig Unterempfindlichkeiten gegenüber Schmerzen auf« (Jansen & Streit, 2015, S. 221 f.).

    Scheinbar widersprüchliche Wahrnehmungsbesonderheiten

    Durch die kaum vorhandenen Abstufungen in der Bewertung und somit einem häufigen Erleben von Extremen kann es sein, dass eine leicht veränderte Information (evtl. eine Variation der Frequenz) eine völlig gegensätzliche Reaktion auslöst. Für Außenstehende erscheint dies oft widersprüchlich oder willkürlich. Erst mithilfe genauer Beobachtung und einem Verstehen der individuellen Wahrnehmungsbesonderheiten werden passende Hilfen möglich.

    Gut zu wissen: Ähnliche Informationen können zu »scheinbar« gegensätzlichen Reaktionen führen

    Ein Beispiel: Im Mundbereich kann der vordere Teil der Zunge eine Hyposensibilität gegenüber sanften Berührungsimpulsen aufweisen. Andererseits wird dort eine starke Druckinformation gesucht, infolgedessen wird das Essen regelrecht in den Mund gestopft. Im hinteren Zungenbereich werden jegliche Impulse als unangenehm wahrgenommen und bereits beim Gebrauch der Zahnbürste auf den mittleren oder hinteren Molaren wird der Würgereiz ausgelöst.

    Auch auf den gesamten Körper bezogen zeigen sich diese scheinbar widersprüchlichen Reaktionen. Es kann sein, dass Betroffene auf sanfte Berührungen sehr empfindlich reagieren und sie als schmerzhaft wahrnehmen. Andererseits genießen sie starke Impulse, wie eine Massage mit einem Ball oder das feste Ausstreichen der Haut mithilfe der Fingerknöchel.

    Auch beim Hören ist es möglich, dass bereits bei einer geringen Lautstärke eine bestimmte Sprechstimmlage, wie eine besonders hohe Frauenstimme, als unangenehm oder sogar schmerzhaft empfunden wird. Ein tiefer, aber doch deutlich lauterer Ton wird hingegen positiv bewertet, wie z. B. das Brummen eines Motors.

    Verstehen und begegnen

    Bei der Arbeit mit neurodiversen Menschen aus dem Spektrum ist erlebbar, wie anders die Wahrnehmung ist, im Gegensatz zur Wahrnehmung neurotypischer Menschen. Trotzdem ist ein gegenseitiges Verstehen möglich. Es gilt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu finden und mithilfe dieses Wissens und einer intensiven Beobachtung das gezeigte Verhalten besser nachzuvollziehen und das Angebot darauf abzustimmen: Impulse, die keine oder negative Reaktionen auslösen, sollten vermieden werden. Vor allem aber sollten Impulse und Materialien ausgewählt werden, die eine positive Antwort erkennen lassen, um freudvolle Begegnungen sowie lebendiges Miteinander in Therapie und Alltag zu ermöglichen und um eine tragfähige Beziehung aufzubauen.

    1.4        Diagnose Autismus-Spektrum

    »Autismus ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig bezeichnet man Autismus bzw. Autismus-Spektrum-Störungen auch als Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung, die sich auf die Entwicklung der sozialen Interaktion, der Kommunikation und des Verhaltensrepertoires auswirken« (Autismus Deutschland e. V., 2018, Absatz 1).

    Autismus im ICD-11

    Das Wissen, dass Autismus ursächlich eine andere Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung zugrunde liegt, hat sich erst in den letzten Jahren verbreitet und findet in der neueren Fachliteratur zunehmend Beachtung. Im ICD-11 ist Autismus unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst. Das Autismus-Spektrum ist laut ICD-11 gekennzeichnet durch anhaltende Defizite, die die Fähigkeit betreffen, wechselseitig soziale Interaktionen und soziale Kommunikation anzustoßen und aufrechtzuerhalten. Kennzeichnend sind auch verschiedene einschränkende, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten. Diese sind für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv.¹

    Eine Einteilung innerhalb des Spektrums erfolgt in Bezug auf die unterschiedlichen Bereiche wie intellektuelle Entwicklung oder funktioneller Sprache, durch eine Bewertung von Schweregraden (leicht, mittelschwer, schwer, ausgeprägt, vorläufig). Die Schwierigkeiten der sozialen Fähigkeiten, als ein zentrales Merkmal im Autismus, werden dabei stets als gegeben vorausgesetzt.

    Zu den Besonderheiten in der Wahrnehmung gehören eine Über- bzw. Unterempfindlichkeit »[…] gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnissen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Geschmacksstoffen.« (Theunissen, 2016, S. 21).

    Neue Betrachtungen verändern die Therapie(-ziele)

    Die Erkenntnis, dass eine andere Wahrnehmung Ausgangspunkt und auch Symptom im Autismus-Spektrum ist, sollte jedoch nicht nur in der Diagnostik und in der Beschreibung Beachtung finden, sondern insbesondere Auswirkungen auf die Bereiche Therapie, Begleitung und Alltagsgestaltung von Menschen mit Autismus haben.

    »In vielen Einrichtungen für autistische Menschen setzen Therapien weiterhin beim Verhalten autistischer Menschen an. Das Verhalten ändern zu wollen, egal, wie störend es sein mag, macht aber keinen Sinn, denn es ist das richtige Verhalten auf eine andere Wahrnehmung. Wenn ein autistischer Mensch besser in der Gemeinschaft und damit auch im (Arbeits-)Leben zurechtkommen möchte, dann müssen er und seine Umgebung genau das verstehen und dann versuchen, an seinem Modell der Welt, sprich an seiner Wahrnehmung, zu arbeiten« (Theunissen, 2016, S. 113).

    Wahrnehmung als Ausgangspunkt

    Komm!ASS® stellt einen Therapieansatz dar, der das Erkennen und Verstehen der neurodiversen Wahrnehmung, der spezifischen Wahrnehmungsbesonderheiten und der daraus resultierenden Verhaltensweisen als Ausgangspunkt für jegliche Intervention versteht.

    Eine nicht-defizitäre, sondern eine ressourcenorientierte Sichtweise beachtet und wahrt die Individualität, verbessert Unterstützungsmöglichkeiten sowie die Lebensqualität.

    Im Folgenden wird zunächst isoliert auf die einzelnen Wahrnehmungsbereiche eingegangen. Im weiteren Verlauf werden die Schwierigkeiten sowie Möglichkeiten in Bezug auf vielfältige und multimodale Wahrnehmungsverarbeitung erläutert. Mit dem Ziel die Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung positiv zu beeinflussen, um die Belastungen im Alltag zu mindern und um wechselseitige Interaktion und Kommunikation zu ermöglichen.

    1     Eigene Übersetzung aus dem Englischen der Definition von »Autism spectrum disorder« nach ICD-11 (Word Health Organization, 2018). Die WHO ist nicht verantwortlich für den Inhalt oder die Richtigkeit dieser Übersetzung. Im Falle von Unstimmigkeiten zwischen der englischen Fassung und der Übersetzung ist die englische Originalfassung die verbindliche und authentische Fassung.

    2          Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

    Die Informations- oder Impulsaufnahme erfolgt über die Sinne. Es wird unterschieden zwischen den Sinnen und Sinnessystemen, welche Impulse in Bezug auf den eigenen Körper bieten, (Körper- oder Nahsinne), sowie denen, die Informationen über die Umwelt vermitteln (Fernsinne). Bei genauerer Betrachtung gibt es hier zum Teil Überschneidungen. So kann z. B. eine visuelle Information etwas über die Beschaffenheit oder die Form eines Gegenstandes aussagen und zugleich einen besonderen Stimulus für die Betrachtende bieten. So ist der Blick auf einen sich drehenden Kreisel, je nach Intensität, eher ein Impuls in Bezug für die vestibuläre Wahrnehmung als eine Information über den Kreisel. Um Kinder im Autismus-Spektrum zu verstehen, ist es wichtig, darauf zu achten, welche Information welche Reaktion auslöst und auf welchem Wahrnehmungssystem diese Reaktion begründet ist.

    Die Betrachtung der physiologischen Entwicklung der Sinnessysteme beim Neugeborenen oder Säugling kann helfen einige Besonderheiten besser zu verstehen. Zu Beginn der kindlichen Entwicklung erfolgen die ersten Differenzierungen zumeist vom Groben ins Feine, also von besonders starken Kontrasten und am Körper gut spürbaren Impulsen zu differenzierten und sich erst im weiteren Verlauf entwickelnden nochmals differenzierteren Systemen.

    Die folgenden Bereiche betreffen die Nahsinne, sie verarbeiten meist intensive, eindeutige und gut spürbare Informationen. Sie werden bereits früh in der embryonalen Entwicklung angelegt und haben auch in den ersten Wochen und Monaten der Kindesentwicklung eine wichtige Bedeutung für die gesamte Entwicklung:

    •  das propriozeptive Wahrnehmungssystem mit dem viszeralen Wahrnehmungssystem

    •  das vestibuläre Wahrnehmungssystem

    Die folgenden Systeme sind bereits deutlich spezifischer und differenzierter, sie sind bald weitere wichtige Informationsträger:

    •  das taktile Wahrnehmungssystem mit dem thermischen Wahrnehmungssystem

    •  das gustatorische Wahrnehmungssystem

    Grundlage Körpersinne

    Ein gut ausgebildetes Gefühl für den eigenen Körper und somit integrierte sowie aufeinander abgestimmte Wahrnehmungsbereiche bilden die Grundlage für eine gute Gesamtentwicklung des Kindes.

    Vom »Ich« zum »Du«

    Wenn das Kind sich mithilfe der Körpersinne selbst spüren kann, wenn es sich sicher fühlt, es »satt und warm« versorgt ist, wird es offen für einen Austausch mit dem Gegenüber. Wenn dieser Kontakt mit dem Erleben weiterer wohltuender Impulse gekoppelt ist, wird sich daraus Beziehung entwickeln.

    Mithilfe der Fernsinne werden bald auch Informationen der umgebenden Umwelt verarbeitet. Hier erfolgt die Informationsaufnahme zumeist ohne einen direkten Körperkontakt mit dem wahrgenommenen Gegenstand bzw. der Information. Die Verarbeitung der Fernsinne ist eine wichtige Voraussetzung für komplexe, höhere Leistungen:

    •  das olfaktorische Wahrnehmungssystem

    •  das visuelle Wahrnehmungssystem

    •  das auditive Wahrnehmungssystem

    Fernsinne erweitern das Wissen

    Die Fernsinne verhelfen zu einem Bild von der Umgebung, von Abläufen im Umfeld und auch von dem, was ggf. als Nächstes passieren könnte. Auf die Überschneidungen, dass ein »Fernsinn« zum Teil auch einen körperlichen Stimulus bietet, wie bei der engen Verbindung des vestibulären und des visuellen Wahrnehmungssystems, wird im Weiteren gesondert hingewiesen.

    Gut zu wissen: Die Begriffe Haptik und haptische Wahrnehmung in der sensorischen Integration

    Die haptische Wahrnehmung bezeichnet das aktiv tastende oder begreifende Erkunden der Umwelt. Dies umfasst Informationen aus dem propriozeptiven wie auch dem taktilen Wahrnehmungssystem und bezieht somit auch viszerale sowie thermische Impulse mit ein.

    Die passive Aufnahme mechanischer sowie thermischer Informationen wird dem gegenüber oft als taktile Wahrnehmung bezeichnet und beschreibt das Erleben eines Druckes von außen oder auch einer Berührung von einer anderen Person. Teilweise wird bei dieser Einteilung die propriozeptive der taktilen Wahrnehmung zugeordnet.

    Im vorliegenden Buch bezieht sich der Begriff taktile wie auch propriozeptive Wahrnehmung sowohl auf das aktive Erkunden als auch auf das passive Erleben von Impulsen. Die beiden Systeme werden zwar isoliert beschrieben, aber es gilt zu beachten, dass die Übergänge fließend sind.

    Die tiefgreifenden Besonderheiten der Wahrnehmung sowie der weiteren Verarbeitung der verschiedenen Sinnessysteme werden als sensorische Integrationsstörungen bezeichnet. Im Folgenden werden die jeweiligen Wahrnehmungssysteme sowie die Auffälligkeiten von Menschen im Autismus-Spektrum beschrieben, anschließend werden mögliche Hilfen aufgeführt.

    Jeder Mensch ist besonders

    Jedoch sind nicht alle »Auffälligkeiten« (besonders isoliert gesehen) auch behandlungsbedürftig. Eine Vielzahl von Verhaltensweisen sind einfach nur »anders« und entsprechend sollte den Kindern hier mit Toleranz und Verständnis begegnet werden. Ob ein neurodiverser Mensch z. B. zur Beruhigung dem Schleudern der Wäschetrommel zuschaut oder ob die neurotypische Person den Wellengang am Meer oder einen Sonnengang betrachtet, macht kaum einen Unterschied. Aber bereits hier wäre ein besseres Verständnis für die jeweiligen Besonderheiten und Interessen hilfreich, um Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen weitere spannende Angebote zu präsentieren, bei denen ihre »Sicht der Welt« Beachtung findet.

    2.1        Das vestibuläre Wahrnehmungssystem

    Bei der vestibulären Wahrnehmung erfolgt die Aufnahme der Informationen über die Gleichgewichts- und Gravitationsrezeptoren. Das vestibuläre System sitzt im Innenohr und ermöglicht es, Gleichgewicht und Körperhaltung zu wahren. Eine isolierte Betrachtung eines einzelnen Wahrnehmungssystems ist vor allem bei vestibulären Impulsen unzureichend, da das Zusammenspiel mit den anderen Bereichen hier besonders vielfältig ist.

    »Probleme mit dem Gleichgewichtssinn wirken sich [nämlich] auf sämtliche andere Funktionen aus« (Goddard Blythe, 2005, S. 103).

    »Lange bevor das Gehirn visuelle und auditive Reize verarbeitet, nimmt es Gleichgewichtsreize wahr und reagiert darauf. Diese vestibuläre Aktivität ist einer der Bausteine, auf den später die Entwicklung des Sehens und Hörens aufbauen kann« (Ayres, 2016, S. 89).

    2.1.1     Mögliche Auffälligkeiten des vestibulären Wahrnehmungssystems

    Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hyposensibilität zu beobachten – zumeist verbunden mit einer intensiven Impulssuche:

    •  Häufiges selbststimulierendes Wiegen und Schaukeln des Oberkörpers

    •  Schaukeln/»Kippeln« mit dem Stuhl

    •  Das Kind liebt es hochgenommen oder hochgeworfen zu werden – häufiges Einfordern von »Engelchen flieg« oder »Reitspielen«.

    •  Trampolin, Schaukel oder Karussell werden intensiv genutzt; ein Aufhören ist kaum möglich.

    Auch nächtlicher Bewegungsdrang

    •  Ständiger Bewegungsdrang der Kinder

    •  Plötzliches Aufstehen, häufiges Wechseln in den Zehenspitzengang, Drehen um die eigene Achse oder schnelle (Wechsel-)Bewegungen des gesamten Körpers

    •  Verharren mit dem Kopf nach unten oder starkes Hin- und Herschlagen des Kopfes

    Wichtig: Intensive visuelle Impulse können auch eine Anregung für das vestibuläre System sein, wie das längere und nahe Betrachten eines Kreisels oder von Lichtspielen mit starken Kontrasten!

    Passivität ist keine »Faulheit«

    Folgendes Verhalten ist bei vorwiegender Hypersensibilität zu beobachten, zumeist verbunden mit einer Impulsvermeidung:

    •  Schon geringe vestibuläre Impulse lösen Unbehagen oder Panik aus.

    •  Kaum Lageveränderungen: Wenn das Kind eine Position eingenommen hat, verharrt es darin über einen längeren Zeitraum. Schon als Säugling reagieren die Kinder mit Schreien oder sich Versteifen, wenn sie hochgenommen werden oder wenn sie auf dem Arm leicht geschaukelt werden.

    •  Bewegungsunmut: Bewegungen werden vermieden oder nur langsam ausgeführt. Die Kinder kommen spät oder nicht in Bewegung, kaum Robben und Krabbeln, spätes Laufen.

    •  Bewegungsangebote wie Trampolin, Schaukel oder Rutsche werden abgelehnt.

    Wichtig: Visuelle Impulse können auch zu einer Übererregung des vestibulären Systems führen, u. a. beobachtbar bei Übelkeit und Erbrechen beim Autofahren oder auch beim Fernsehen!

    Abb. 2.1:    Beim Schaukeln zielgerichtete Aufgaben bewältigen können

    2.1.2     Hilfen und Übungen zur Verbesserung der vestibulären Wahrnehmung

    Positiv wahrnehmbare vestibuläre Impulse anbieten:

    •  Schaukeln in verschiedenen Grundpositionen und in verschiedene Richtungen: sitzend, stehend oder auf dem Bauch bzw. Rücken liegend; vorwärts, rückwärts und seitlich, mit teilweise schnellem Anhalten oder Richtungsänderungen; bäuchlings auf einem Pezziball vor- und zurückrollen

    Balanceübungen

    •  Balancieren auf Bänken und Wackelbrett; Sitzen auf dem Wackelkissen

    •  Drehen in der Affenschaukel bzw. auf dem Drehstuhl oder »Kreisel« spielen, um die eigene Achse drehen; Rollübungen auf der Matte oder seitlich, einen Hang herunterrollen; Purzelbaum

    •  Springen auf dem Trampolin, wippen, rutschen und hüpfen

    2.2        Das propriozeptive Wahrnehmungssystem

    Den eigenen Körper spüren

    Mithilfe der Propriozeptoren werden Informationen aus dem Körperinneren aufgenommen. Das propriozeptive System liefert Mitteilungen über Muskeln, Sehnen und Gelenke. So kann gespürt werden, wo sich der Körper im Raum befindet, welche Haltung oder Lage er einnimmt, welche Bewegungen möglich sind und in welchem Spannungszustand sich Muskeln und Sehnen befinden, ob der Körper sich bewegt und wenn ja, in welche Richtung. Dies geschieht mithilfe von Stellungssinn, Bewegungssinn, Kraftsinn und Spannungssinn, so wird es möglich, zu gehen, zu greifen und etwas anzuheben, stets mit der richtigen Kraftdosierung ohne dabei zu fest aufzustampfen, ohne etwas zu zerdrücken oder wieder fallen zu lassen. Mithilfe von Zug und Druck bekommt das Gehirn u. a. Informationen über die Stellung des Körpers, ohne dass es einer zusätzlichen visuellen Kontrolle bedarf.

    Die Propriozeptoren übertragen auch Impulse in Bezug auf die viszerale Wahrnehmung. Es werden Informationen der inneren Organe aufgenommen und übermittelt, wie Hunger- oder Sättigungsgefühl oder ein möglicher Druck auf Darm oder Blase.

    Häufig wird das propriozeptive Wahrnehmungssystem auch dem taktilen Wahrnehmungssystem zugeordnet ( Kap. 2.3). Mit der taktilen Wahrnehmung wird jedoch mehr das Wahrnehmen über die Haut wie ein sanftes Streicheln oder ein Streichen über Oberflächen verbunden. Die propriozeptive Wahrnehmung umfasst hingegen starke Druck- und Zugimpulse für Faszien, Muskeln, Knochen und Gelenke und wird deshalb gesondert aufgeführt.

    Besonderheiten vom Körpertonus

    Bedingt durch das Erleben in Extremen nehmen Menschen mit Autismus auch die Informationen über das propriozeptive Wahrnehmungssystem zumeist in besonderer Intensität wahr oder suchen diese. Infolgedessen weisen einzelne Körperregionen einen zu geringen Muskeltonus (Hypotonus), andere einen zu starken Muskeltonus (Hypertonus) auf. Auch ein stetiger Wechsel zwischen diesen beiden Spannungszuständen ist möglich, ein eutoner Muskeltonus ist jedoch kaum zu beobachten.

    »Ohne hinzuschauen wissen Sie genau, wo Ihr Körper den Stuhl oder Boden berührt und wie Ihre Füße stehen. Ich kann das nicht. Meine

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