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Coaching als kreativer Prozess: Werkbuch für Coaching und Supervision mit Gestalt und System
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eBook427 Seiten5 Stunden

Coaching als kreativer Prozess: Werkbuch für Coaching und Supervision mit Gestalt und System

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Über dieses E-Book

Coaching ist eine berufsbezogene Beratungsmethode zur Begleitung und Unterstützung von Menschen in schwierigen, veränderungsbedürftigen oder neuen Arbeitszusammenhängen. Sie hilft Coachees bei der Lösung von Problemen, bei der Konfliktbewältigung, Rollengestaltung, Karriereplanung oder der Entwicklung von beruflichen Kompetenzen. Je komplexer die Arbeitswelt wird, umso wichtiger wird auch, dass Coaching an den gesellschaftlichen Herausforderungen wächst und Beratungskonzepte entwickelt, die der Komplexität und dem Veränderungsdruck angemessen sind.Coaching, wie es in diesem Buch vermittelt wird, ist eine methodenplurale, mehrperspektivische und flexible Beratungsmethode, in der auch analoge, vor- und nichtsprachliche Aspekte neben der sprachlichen Kommunikation berücksichtigt werden. Nur so kann sie die Lebenswirklichkeit der Coachees angemessen erfassen. Coaching wird dabei als eine co-kreative Tätigkeit aufgefasst, als ein gemeinsamer schöpferischer Prozess, in dem es um Gewinnung von neuen Sicht-, Fühl-, Denk- und Handlungsweisen und die Umgestaltung von Strukturen und Mustern geht. Kreative Medien unterstützen diesen schöpferischen Prozess.Das Spezifische dieses Ansatzes liegt in dem dichten, synergetischen Methodennetzwerk, welches systemische, integrativ-gestalttherapeutische, analoge und körpertherapeutische Methoden zu einem effektiven Handlungsmodell von Coaching verbindet. Der prall gefüllte Methodenkoffer enthält neben einer Vielzahl methodischer Hinweise für die Coachingpraxis auch 125 komplexe Übungen (Tools) für alle Fälle.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Mai 2015
ISBN9783647995236
Coaching als kreativer Prozess: Werkbuch für Coaching und Supervision mit Gestalt und System

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    Buchvorschau

    Coaching als kreativer Prozess - Kurt F. Richter

    1 Coaching – eine Definition

    1.1 Zum Begriff

    Coaching ist ein vielschichtiger Begriff mit einer interessanten Veränderungsgeschichte. Am Anfang stand er wohl für Kutsche, dann auch für Kutscher. Bekannt wurde der Begriff aber durch seine Bedeutung im Sport als Bezeichnung für die Beratung, Betreuung und Motivierung von Leistungssportlern (Rauen, 1999). Von dort rührt auch die Affinität zum Leistungsaspekt her: zum Sieg kutschieren. Als sich in der Wirtschaft immer deutlicher ein Beratungsbedarf zeigte, weil die Spitzenspieler (Manager) ohne eine solche spezielle Betreuung mit der zunehmenden Komplexität ihrer Aufgaben nicht mehr zurechtkamen, wurden entsprechende Beratungsmodelle konzipiert. Es gab allerdings auf dem Markt schon ein Beratungsverfahren, das speziell für die Lösung von Arbeitsproblemen entwickelt wurde, die Supervision. Sie war jedoch zunächst fest im sozialen und Nonprofitbereich verwurzelt. Die gegenseitigen Abgrenzungsscharmützel der beiden Beratungsparteien sind nun eher einem gegenseitigen Lernen gewichen. Das hat beide Beratungsansätze bereichert. So stammt zum Beispiel ein guter Teil der heute praktizierten Coachingmethoden aus dem »Werkzeugkoffer« der Supervision.

    Coaching kann als Teil eines umfassenden Konzeptes angesehen werden, zur Etablierung einer Lern- und Arbeitskultur in Unternehmen (Maas u. Ritschel, 1997). Es hilft dabei, den Wandel in (lernenden) Organisationen vorzubereiten, das heißt, dass die Mitarbeiter voneinander und miteinander lernen, Kompetenzen zu entwickeln und sich zu vernetzen. Es ist aber gleichzeitig eine Beratungsmethode zur Stärkung der persönlichen Bewältigungskompetenz (»personal mastery«), der Verfolgung von Entwicklungsbedürfnissen und der Umwandlung von Anforderungen in Herausforderungen.

    Coaching ist

    –  eine personenorientierte Förderung von Menschen in ihren professionellen Rollen und in ihren jeweiligen konkreten Arbeits- und Aufgabenkontexten;

    –  eine Mischung von prozessbegleitender Beratung, zielorientierter Anleitung und handlungsorientiertem Training;

    –  ein Instrument integrativer Personalentwicklung, das die Verbindung von Lernen und Arbeiten optimal unterstützen soll (nach Fischer u. Graf, 1998).

    1.2 Ziele und Aufgaben von Coaching

    Coaching ist ein Beratungsprozess, bei dem der Coach seinen Coachee begleitet und ihm bei der Lösung seines Anliegens hilft. Coaching vermittelt keine Lösungen, sondern ermöglicht es dem Coachee, seine eigenen Ziele und Lösungswege zu finden. Coaching unterstützt die Entwicklung einer autonomen Lösungskompetenz des Gecoachten und stärkt seine Fähigkeit zum Selbstcoachen. So gesehen ist Coaching Anleitung zur Selbsthilfe. Coachingschwerpunkte sind berufliche Probleme und organisationsbezogene Fragestellungen. Aber der Mensch lebt nicht nur in einem System. Er hat eine Vielzahl sozialer Bezüge und Rollen in unterschiedlichen Systemen, die sich wechselseitig beeinflussen. Die Dynamik seiner sozialen Vernetzung ist deshalb zu berücksichtigen.

    Coaching ist sinnvoll und hilfreich bei folgenden Anliegen und Fragestellungen:

    •  Gestaltung und Umsetzung persönlicher Entwicklungsprozesse, zum Beispiel Umsetzung von Leistungserwartungen, Entwicklung sozialer Kompetenzen;

    •  bei einer persönlichen oder systemspezifischen Standortbestimmung (Organisation, Lebensbiographie, Karriereplanung usw.): Wo stehe ich in meiner Lebensspanne? Wo stehe ich in und zu meiner Organisation und wie steht die Organisation zu mir?;

    •  Verstehen und Lösen von Arbeitsproblemen;

    •  Entwicklung neuer Berufs- und Lebensperspektiven: Wie soll es weitergehen, beruflich und privat?;

    •  Begleitung und Unterstützung in Umbruchs-, Wandlungs- und Krisensituationen, zum Beispiel massive Umstrukturierungen in der Organisation, drohende Arbeitslosigkeit, Vorbereitung auf den Ruhestand, schwere Krankheiten;

    •  Begleitung und Unterstützung bei der Übernahme neuer Aufgaben;

    •  Rollenberatung, zum Beispiel bei Übernahme einer neuen Führungsrolle;

    •  Bearbeitung von seelischen Problemen und Konflikten;

    •  Unterstützung bei der Wiederentdeckung, Reaktivierung und Weiterentwicklung verschütteter oder erlahmter Motivationen und Ressourcen;

    •  Bewältigung von Sinn- und Identitätskrisen;

    •  Work-Life-Balance, zum Beispiel bei familiären Problemen in Doppelbelastungssituationen, bei Auslandsentsendung;

    •  Fragen des Lebensstils und der Lebensbalance;

    •  Erlernen und Trainieren von neuen Verhaltensweisen und Kompetenzen.

    Ursprünglich war Coaching ein Beratungsangebot für Führungskräfte. In der Zwischenzeit ist der mögliche Kundenkreis für Coaching relativ breit gefächert, Selbstständige und Mitarbeiter in verantwortlichen Positionen sind hinzugekommen:

    •  Vorstandsmitglieder;

    •  Führungskräfte;

    •  Mitarbeiter verschiedener Hierarchiestufen und Aufgabenbereiche;

    •  Selbständige oder solche, die es werden wollen;

    •  Ausscheidende oder Arbeitslose;

    •  Berufsanfänger, Berufsumsteiger, Karriereaufsteiger, Neueinsteiger.

    1.3 Person und Kompetenz des Coachs

    Der Coach ist ein Begleiter seines Coachees. Er wirkt unterstützend, klärend, konfrontierend, manchmal auch lehrend, wenn es gilt, eine Wissenslücke zu füllen. Der Coach ist seinem Coachee ein menschliches und professionelles Gegenüber. In seiner Haltung verbinden sich Identität, Beziehungsfähigkeit, Rollenklarheit und Kompetenz. Diese professionelle Präsenz ist die Grundintervention des Coachs im Beratungsprozess. Die Klärungs- und Veränderungsmöglichkeiten des Coachees stehen in einem engen Zusammenhang mit der Entfaltung der Arbeitsbeziehung im Sinne eines fördernden Milieus. Das heißt: Jeder Coachingprozess ist so gut, wie ihn der Coach sein lässt. Die Person des Coachs ist also seine wichtigste Intervention. Eine antrainierte Professionalität reicht nicht. In der hochsensiblen Beratungsatmosphäre spürt der Gecoachte, ob sein Gegenüber authentisch und transparent ist, glaubwürdig und überzeugend seine Sache vertritt.

    Der Coach begleitet empathisch und akzeptierend sein Gegenüber, gleichermaßen offen für Sach- und Beziehungsprobleme. Er übernimmt nicht die Lösungsaufgabe für seinen Coachee, er hat Vertrauen in dessen Ressourcen und Lösungskompetenzen, hat aber auch einen langen Atem, wenn der Kunde umständlich ist oder ein paar Umwege machen möchte. Er ist tolerant gegenüber den Fehlschlägen seines Coachees, aber auch gegenüber seinen eigenen Fehlern. Er braucht eine hohe Ambiguitätstoleranz, denn viele Widersprüche in Menschen, zwischen Mensch und System lassen sich nicht einfach wegberaten. Man muss damit leben lernen.

    Eine gehörige Portion Humor kann nicht schaden. Sie hilft über manche Durststrecke in der Beratung hinweg.

    Ein Coach sollte eine profilierte Persönlichkeit besitzen, über viel Lebens- und Berufserfahrung verfügt, und folgende professionelle Kompetenzen vorweisen (Abbildung 1):

    •  Selbstkompetenz: Fähigkeit zum Selbstumgang (Selbstmanagement und Selbstcoaching);

    •  Beziehungskompetenz: professionelle Beziehungen herstellen und gestalten können;

    •  Methodenkompetenz: solides fachliches und methodisches Wissen;

    •  Begründungskompetenz: darunter verstehe ich die Möglichkeiten des Coachs, das, was er tut, aus theoretischen Konstrukten ableiten und begründen zu können, zum Beispiel aus Persönlichkeits- und Lerntheorien, sozialpsychologischen und betriebswirtschaftlichen Modellen.

    Abbildung 1: Die vier Kompetenzecken

    In der Präsenz ist der Coach hellwach und energievoll im Hier und Jetzt der Szene. Seine Kompetenzen sind bei Bedarf sofort abrufbar.

    1.4 Die Position des Coachs im System

    Ein Coach kann ein soziales System (Person, Team, Abteilung etc.) aus verschiedenen Positionen heraus beraten (Abbildung 2).

    Die organisationsexterne Position: Der Coach kommt von außen zur Beratung oder der Coachee geht zum Coach in die Praxis. Der externe Berater ist entweder Selbständiger oder Angestellter einer Beratungsfirma. Coach und Coachee sind Angehörige verschiedener Systeme. Der Coach dockt an das Kundensystem an, dringt aber nicht in das System ein. Coach und Kunden bilden zusammen ein Beratungssystem.

    Die systeminterne Position: Der Coach hat eine Stabsfunktion im System (Mitarbeiter mit Beratungsfunktion). Er kennt sich im System besser aus als der externe Berater, ist aber trotz Stabsfunktion nicht ganz unabhängig. Coach und Coachee sind beide Teil eines gemeinsamen Systems, ihrer Organisation und damit zumindest teilweise den gleichen Einflüssen ausgesetzt.

    Die systeminterne Leitungsposition (Linienfunktion): Ein Leiter übernimmt zugleich die Rolle des Coachs, das heißt, er coacht auch seine Mitarbeiter im Rahmen der Personalentwicklung. Coaching wird so Teil seines Führungsstils. Dabei bleiben Führungskraft und Mitarbeiter Teile eines hierarchischen Systems. Die Leitungskraft muss in der Rolle des Coach eine klare Abgrenzung zwischen ihrer Vorgesetztenfunktion und der Beratungsfunktion vornehmen. Die Doppelrolle verlangt von der Führungskraft ein hohes Maß an Ehrlichkeit und Klarheit und vom gecoachten Mitarbeiter viel Vertrauen.

    Abbildung 2: Die verschiedenen Arten von Coaching (nach Rauen, 2000)

    1.5 Coaching in verschiedenen Settings

    Zunächst war Coaching eine Form der Einzelberatung. In der dyadischen Beziehung erreicht Beratung ein hohes Maß an Intensität und Intimität. Aber ähnlich wie in der Arbeit mit Familien erscheint es oft sinnvoll, nicht nur eine Person, sondern das ganzes System, zum Beispiel ein Team, zu coachen. Darüber hinaus erwies es sich bei bestimmten Aufgabenstellungen als ökonomischer und sinnvoller, Mitarbeitergruppen zusammenzufassen. Entsprechend der Systemerfordernisse wurden deshalb im Laufe der Zeit eine Reihe weiterer Varianten entwickelt.

    Coaching als Einzelberatung: Diese Beratungsform empfiehlt sich immer dann, wenn es um sehr persönliche Fragestellungen geht, die zum Beispiel Kollegen oder Vorgesetzte auf keinen Fall erfahren sollten. So haben psychische, soziale und berufliche Krisen, Karriereberatung oder Stressphänomene wie Burnout hier ihren Ort. Gerade Führungskräfte bevorzugen die Einzelberatung. Nachteil dieser Beratungsform ist, dass der Coachee nur ein Gegenüber als Feedbackgeber für Anregungen, Unterstützung und Reflexionshilfen hat.

    Coaching als Gruppenberatung: Die Teilnehmer sind Mitarbeiter einer oder auch verschiedener Organisationen, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben. Die Gruppe stellt eine größere Öffentlichkeit dar, was die Intimität und Offenheit beeinträchtigt. Sehr persönliche Fragestellungen haben hier oft keinen Platz. Die Zusammenstellung einer Gruppe erfolgt nach bestimmten Regeln: Die Gruppenmitglieder brauchen gemeinsame Ziele bzw. Anliegen, an denen sie arbeiten wollen.

    Coaching als Systemberatung und Teamberatung: Die Teilnehmer kennen sich bereits. Sie haben gemeinsame Kooperationserfahrungen, Traditionen, Interaktionsmuster. Der Coach ist der einzige Fremde, der hinzukommt. Aufträge für eine System- oder Teamberatung: Ziel- und Konzeptentwicklung, Rollenklärung, Kooperations- und Kommunikationsverbesserung, Konflikt- und Krisenmanagement von Teilsystemen einer Organisation. Eine Sonderform des Teamcoachings ist die Teamentwicklung. Hier geht es darum, zieldienliche Kooperationsformen aufzubauen.

    Coaching als Projektberatung: Projektberatung ist eine Kooperationsberatung von Spezialisten bei der Bewältigung von einem zeitlich begrenzten Aufgabenbereichs. Die Teilnehmer am Projekt haben keine oder unterschiedlich intensive Vorerfahrungen in der gemeinsamen Arbeit.

    Coaching als Bestandteil einer Organisationsentwicklungsmaßnahme (OE-Maßnahme): Hier wird Coaching von Führungskräften in umfassende Strategien der Veränderung einer OE-Maßnahme einbezogen.

    Coaching als integrierter Bestandteil des Leitungsstils (Leitungscoaching): Leitungscoaching ist ein zusätzliches Instrumentarium der Personalführung, das dazu dient, Mitarbeiter bei der Kompetenzentwicklung und der Umsetzung von Arbeitsaufträgen zu unterstützen.

    1.6 Der Coachingprozess

    ¹

    Der Coachingprozess lässt sich in folgende Phasen unterteilen:

    1. Vorphase: Kontakt und Vorgespräch: Wie kommt der Coachinginteressierte zu einem Coach? In welcher Form entsteht der erste Kontakt?

    2. Kontrakt- oder Vereinbarungsphase: Verständigung über den Coachingauftrag und über die Ziele; Vereinbarung über strukturelle, inhaltliche und methodische Grundlagen der Zusammenarbeit; grundsätzliche Entscheidung darüber, ob sich beide Parteien eine Zusammenarbeit vorstellen können.

    3. Einlassungsphase: Entwickeln einer Arbeitsbeziehung im Beratungssystem, Einübung einer Hier- und Jetzt-Haltung und Bewusstheitsschulung des Coachees, Erkennen der Probleme (Diagnose), gemeinsame Feinabstimmung der Arbeitsschritte.

    4. Experimental- und Arbeitsphase: Bearbeiten von Schwierigkeiten und Blockaden; Reaktivieren von Ressourcen und Erarbeitung von Lösungswegen; Einsatz von digitalen, verbalen Kommunikationsmitteln, Ergänzung durch analoge kreative Medien und Bewegungserfahrungen.

    5. Integrationsphase: Abgleichen und Vernetzen der neuen Erfahrungen, Erkenntnisse, neuen Einstellungen, Veränderungsbestrebungen etc. mit den bisherigen Erfahrungen des Coachees, seiner Persönlichkeit und seiner Lebenswelt (Lebenskontexten).

    6. Phase der Neuorientierung und des Praxistransfers: Übertragung von Einsichten in die Arbeits- und Lebenspraxis, Einüben von dazu erforderlichen Fertigkeiten, Realisierung von Lösungswegen, Installierung von Rückkoppelungssystemen, Einplanung anderer Rückwirkungen aus der Umgebung auf die eigenen Veränderungen.

    7. Abschluss- und Evaluationsphase: Auswertung, Überprüfung der Zielerreichung, Verabschiedung.

    1.7 Wie arbeitet ein Coach?

    Die Mission des Coachs besteht darin, den Coachee zu unterstützen, ein produktives und befriedigendes Berufs- und Privatleben zu führen, zum eigenen Nutzen, aber auch dem seiner Organisation und seines sozialen Umfeldes.

    Es geht nicht darum, dass der Coach den Coachee verändert, womöglich nach seinem Bilde. Denn verändern kann sich der Coachee nur aus eigener Kraft und mit seinen eigenen Ressourcen. Der Coach begleitet ihn dabei, unterstützt ihn und stellt ihm sein Wissen zur Verfügung. Er hilft ihm, seine Aufmerksamkeit auf die prozessrelevanten Perspektiven zu fokussieren, zum Beispiel auf die Ziele, Wegführungen, Ressourcen, Stolpersteine und Sackgassen. Er respektiert die Autonomie seines Gegenübers.

    Der Coach wird in der Regel keine direkten Ratschläge geben, sondern durch geeignete Interventionen seinem Gegenüber dabei helfen, sich in seiner Lebens- und Arbeitssituation auf dem Hintergrund und im Wechselspiel mit seiner Lebens- und Arbeitswelt wahrzunehmen (Bewusstseinsarbeit), sich zu begreifen (sinnlich evident erfahren) und zu verstehen, seine Ressourcen zu erkennen, um realistische Veränderungsziele und Lösungen anzustreben. Der Coach belehrt nicht, aber er stellt all sein Wissen zur Verfügung. Er arrangiert Erfahrungs- und Experimentierräume, um Neues auszuprobieren, und bietet Trainingsmöglichkeiten, um alternatives Verhalten, neue Kompetenzen aufzubauen.

    Der Coach arbeitet im Vergleich zu anderen Beratungsverfahren (z. B. Supervision) interaktiver, zupackender und flexibler. Er benutzt alle Kommunikationskanäle, also auch analoge Ausdrucksformen. Sein Vorgehen ist mehrperspektivisch und multimethodisch. Nur mit einer mehrperspektivischen Sichtweise ist es möglich, der komplexen Lebens- und Arbeitswelt des Coachees gerecht zu werden.

    Zusammenfassung der Aspekte des Vorgehens:

    •  Die Aufgaben des Coachs sind: Die Begleitung und Unterstützung von Erfahrungs-, Veränderungs- und Kompetenzentwicklungsprozessen von Einzelnen, Gruppen und Systemen.

    •  Der Coach arbeitet nicht ohne Auftrag.

    •  Der Coachee kommt freiwillig in die Beratung.

    •  Der Coach ist zuständig für die Gestaltung der Struktur, des Settings, der Methoden, also für Form und Qualität der Begleitung.

    •  Das Kundensystem ist für Ziele, Themen, Probleme, Motivation, Risikobereitschaft, Intensität und Tiefe des Prozesses verantwortlich. Entsprechend ist es wichtig, das Klarheit darüber geschaffen wird, welcher der Beteiligten für was Verantwortung trägt.

    •  Coach und Coachees bilden ein Beratungssystem, das sich von anderen Systemen abgrenzt.

    •  Das Coachingsystem ist partiell asymmetrisch, bedingt durch unterschiedliche Rollen und Aufgaben, durch einen unterschiedlichen Wissensstand etc. Auf der Beziehungsebene ist das System tendenziell jedoch symmetrisch, bedingt durch gegenseitige Wertschätzung, Akzeptanz und Anerkennung der jeweiligen Fachlichkeit.

    •  Ziele und Regeln müssen im Kontrakt klar ausgehandelt und von dem Coachee akzeptiert werden. Nur so kann der Coach professionelle Arbeit gewährleisten.

    1.8 Grenzen des Coachings

    Coaching ist eine breitbandige, methodenplurale und flexible Beratungsmethode. Coaching und Coachs haben Grenzen. Nicht immer ist Coaching das geeignete Angebot. Manchmal muss ein Coach auch nach einer gründlichen Analyse und Diagnose der Hintergründe den Auftrag ablehnen.

    Der Coach sollte eine Beratung absagen, beenden oder eine Kontraktänderung vorschlagen, wenn er merkt,

    –  dass sein Coachee an einer schweren psychischen Störung leidet. Hier besteht seine Aufgabe darin, seinem Kunden die Notwendigkeit einer Psychotherapie plausibel zu machen.

    –  dass der Coachee nicht freiwillig kommt und die Beratung nur formal wahrnimmt.

    –  dass die auftraggebende Organisation das Coaching instrumentalisieren will, zum Beispiel um einen Mitarbeiter freizusetzen.

    –  dass der Coachee bestimmte Kompetenzen besser in einer anderen Lernform erarbeiten könnte, zum Beispiel in einem Training für neue Führungskräfte.

    –  dass beim Coachee kein Entwicklungspotential zu aktivieren ist bzw. er dies auch nicht will. Beispiel: Ein Mitarbeiter soll Führungsaufgaben übernehmen. Er will dies eigentlich nicht und wird folglich weder seine Führungskompetenzen erweitern noch seine Führungsprobleme angehen.

    –  dass er keinen tragfähigen Kontakt zu dem Coachee bekommt, weil sie zu verschieden sind.

    –  dass das vereinbarte Coachingziel erreicht ist, der Coachee aber die gemeinsame Arbeit weitermachen möchte.

    Natürlich ist nicht immer der Coachee oder die beauftragende Firma das Problem. Auch der Coach kann seinen Teil dazu beitragen. Der Coach sollte, wenn er merkt, dass er stark verunsichert oder irritiert ist, selbst einen Supervisor aufsuchen, um Klarheit zurückzugewinnen.

    Coachs können selbst den Prozess behindern, weil sie

    –  ihre Gegenübertragungsneigung auf bestimmte Coachees nicht beachten.

    –  Aufträge annehmen, die ihre Kompetenzen übersteigen.

    –  sich von der auftraggebenden Organisation instrumentalisieren lassen und dabei die berechtigten Anliegen des Coachees nicht mehr genügend berücksichtigen.

    –  sich zu stark auf die Helferseite schlagen und dabei die Organisation aus dem Blick verlieren.

    –  Rahmenbedingungen akzeptieren, die den Coachingprozess behindern.

    –  durch vorgefasste Hypothesen das Anliegen des Coachees nicht mehr klar wahrnehmen können.

    –  die Aussagen ihres Coachees nicht in ihr Sprachsystem übersetzen können und ihn deshalb ständig missverstehen.

    Bei einer Ablehnung des Auftrages oder beim Abbruch eines bereits begonnenen Prozesses sollte der Coach zwei Dinge beherzigen: Nie die Schuld auf den Coachee schieben, sondern die Begründung an sich oder neutralen Bedingungen festmachen. Andernfalls könnten Coachees so irritiert sein, dass sie nie wieder einen Coach aufsuchen wollen. Nach Möglichkeit eine Alternative vorschlagen, zum Beispiel einen anderen Coach, eine Trainingsveranstaltung oder einen Psychotherapeuten.

    1.9 Coaching im Vergleich zu anderen Beratungsansätzen

    Coaching ist eine Beratungsmethode im Überschneidungsbereich von Supervision, Therapie und Organisationsentwicklung. Ihre Abgrenzung gegenüber diesen Verfahren fällt deshalb nicht leicht.

    Coaching und Psychotherapie: Sie beziehen sich beide auf die Systemebene Psyche (Binnensystem Person). Psychotherapie ist ein Heilverfahren. Es dient der Behandlung von psychisch gestörten Menschen (z. B. Sucht, schwere Angst und Depressionszustände). Hier muss der Coach seine Grenze ziehen und einen stärker heilungs- als beratungsbedürftigen Coachee an einen Psychotherapeuten überweisen. Die meisten therapeutischen Verfahren beinhalten eine starke biographische Aufarbeitung, wohingegen Coaching eher lösungs- und ressourcenorientiert arbeitet. Bei Fragen der Selbstkenntnis, der Bewältigung psychischer Konflikte und Krisen, dem Erkennen und Modifizieren von Erlebens- und Verhaltensmustern kann Coaching jedoch unter Umständen erfolgreich eingreifen.

    Coaching und Supervision: Die gemeinsame Systemebene ist die Beziehungsdynamik. Trotzdem gilt die Supervision mehr als die Methode von und für Beziehungsarbeiter (z.B. für Therapeuten, Sozialarbeiter, Pädagogen) und Coaching eher als Beratung von Führungskräften und leitenden Angestellten. Vielen Managern ist Supervision suspekt, weil sie Beziehungsarbeit mit Psychotherapie gleichsetzen. Für die Bearbeitung beruflicher Probleme verwenden beide Ansätze zum Teil das gleiche Instrumentarium, unterscheiden sich durch ihre unterschiedliche Akzentsetzung, ein unterschiedliches Klientel und unterschiedliches kulturelles Verständnis. Coaching hat stärker das Gesamtsystem, die Organisation im Blick. Dies gilt auch für das Einzelcoachen, das interaktiver und flexibler als Supervision ist. Heute ist eine immer größere Annäherung der beiden Beratungsverfahren zu beobachten.

    Coaching und Organisationsentwicklung: Beide beziehen sich auf große Systeme (Organisationen). Im Rahmen der Personalentwicklung für lernende Organisationen trägt auch Coaching zur Veränderung des Gesamtsystems bei, Ansatzpunkt ist jedoch die beraterische Dyade oder die Kleingruppe. Bei der Organisationsentwicklung stehen die Systemeigenschaften im Fordergrund. Um der Komplexität großer Systeme gerecht zu werden, bedarf es meist eines Teams von Beratern mit unterschiedlichen Spezialkenntnissen.

    Coaching und Training: Beide Ansätze beinhalten Kompetenzvermittlung. Beim Training geht es um das gezielte Erlernen von bestimmten Kompetenzen, Fertigkeiten, Handlungsabläufen, mit denen spezifische situative Anforderungen gemeistert werden können, zum Beispiel Moderationstraining, Rhetoriktraining, Verkaufsgespräche gestalten. Charakteristisch ist das Moment des wiederholten Übens. Der Trainer leitet die Übungen an, gibt Feedback und korrigiert das Verhalten der Teilnehmer im Bedarfsfalle. Es ist Anleitung und nicht Prozessbegleitung. Häufig wollen Auftraggeber ja auch genau diesen eng gefassten Kompetenzerwerb. Es muss deshalb bei der Auftragsanalyse geklärt werden, ob ein Beratungsprozess auch tatsächlich gewünscht ist. Coaching und Training schließen sich aber nicht aus. Es kann zum Beispiel im Verlauf eines Coachingprozesses erkannt werden, dass bestimmte Kompetenzen nicht genügend entwickelt sind. Dann kann ein Training entweder vom Coach dazwischen geschoben oder parallel im Rahmen einer externen Veranstaltung eines anderen Trainers besucht werden.


    ¹ Eine ausführliche Darstellung des Coachingprozesses finden Sie in Kapitel 3.

    2 Coaching mit Gestalt und System, ein Beratungskonzept mit Herz und Verstand

    2.1 Das Methodennetzwerk

    Coaching ist eine berufsbezogene Beratungsmethode zur Begleitung und Unterstützung von Menschen in schwierigen oder neuen Arbeitszusammenhängen auf dem Hintergrund einer sich schnell ändernden Marktgesellschaft. Gerade Mitarbeiter in verantwortlichen Positionen und Führungskräfte bekommen die wachsende Spannung zwischen Person und Organisationsdynamik immer stärker zu spüren. Diese Situation ist natürlich eine große Herausforderung für Coachs.

    Sie müssen Methoden entwickeln, die sowohl der Komplexität als auch Flexibilisierung der Arbeitswelt angemessen sind. Dies kann nur von einem Ansatz geleistet werden, der selbst sehr flexibel ist, mehrperspektivisch und methodenplural vorgeht, aber auch analoge, vor- und nichtsprachliche Aspekte neben der sprachfixierten Kommunikation berücksichtigt.

    Das Spezifische meines Ansatzes liegt in dem Methodennetzwerk, dass es ermöglicht, die schwer fassbare Komplexität menschlicher und institutioneller Verflechtungen und Hintergründe über alle Sinne begreifbar und damit dem rationalen Problemlöseverhalten zugänglich zu machen. Mein Coachingansatz ist kreativitätsfördernd, erlebnisaktivierend, erfahrungszentriert und handlungsorientiert.

    In diesem Sinne arbeite ich bevorzugt mit fünf methodischen Ansätzen, die ich in mein Coachingkonzept integriert habe. Sie werden in diesem Kapitel näher erläutert:

    •  Methoden aus der integrativen/kreativen Gestaltarbeit;

    •  systemische Perspektiven und Arbeitsweisen;

    •  Kreativitätskonzepte;

    •  analoge und expressive Arbeitsmittel/kreative Medien für das, was sich noch nicht in Sprache ausdrücken lässt;

    •  Körper- und Bewegungserfahrungen.

    Kernstück meines Coachingansatzes bilden die Kombination von Elementen aus der kreativen Gestaltarbeit und der systemischen Beratung. Ich glaube, dass sich die beiden Verfahren sehr gut ergänzen und in einer Beratung mit Herz und Verstand zusammenwirken. Gestaltarbeit richtet den Fokus auf die Subjektseite des Systems, also dem Wie der inneren Erlebnisverarbeitung des Menschen und den sie begleitenden expressiven Äußerungen. Der systemische Ansatz beachtet stärker die interaktive Seite, also die Dynamik und Regelmäßigkeiten von Beziehungen und Beziehungsnetzen, das heißt Systemen. Die Personen werden eher als Funktions- bzw. Rollenträger betrachtet. Beide Beratungsansätze betonen die Selbstorganisationsfähigkeit von personalen und sozialen Systemen. Das besagt, die Systeme regulieren sich selbst. Nur aus sich heraus können sie sich verändern. Beratung kann sie dabei unterstützen, ein geeignetes Milieu/Umfeld zu schaffen sowie Informationen zur Verfügung zu stellen. Der Coach begleitet seinen Kunden mit einem großen Respekt vor dessen Autonomie und Selbstregulationsfähigkeiten. Gestalt und System bevorzugen beide ein ressourcen- und lösungsorientiertes Vorgehen in der Gegenwärtigkeit (Hier und Jetzt).

    Auch heute noch sind viele Coachingansätze verbal ausgerichtet, benutzen weitgehend nur den Kommunikationskanal Sprache. Da aber 70 bis 80 Prozent des Informationsaustausches zwischen Menschen nicht- oder vorsprachlicher Natur ist, wird bei diesem Vorgehen auf wichtige Kommunikationswege verzichtet. Große Bedeutung hat in diesem Ansatz die »Sprache hinter der Sprache«, der analoge Raum. Das Analoge ist der Ausdruckraum des Unbewussten. Dieser kennt zwar keine Sprache, wohl aber Bilder, Töne, Gesten, Symbole, Szenarien, die mit emotionalem Erleben verbunden sind.

    In diesem Ansatz werden viele Ausdrucks- und Eindruckskanäle in die Beratung einbezogen und für die Beratung nutzbar gemacht. Eine wichtige Funktion nehmen dabei die kreativen Medien ein. Der Körper sammelt und archiviert seine Erfahrungen (Leibgedächtnis). Die Erfahrungsspuren werden verkörpert und können über Körper- und Bewegungsübungen für die bewusste Wahrnehmung wieder zugänglich gemacht werden.

    Coaching ist ein ko-kreativer Vorgang, also ein gemeinsamer kreativer Prozess von Coach und Coachee. Kreativität ist die Grundlage für Veränderung. Die Wiederentdeckung von Lust am Kreativen im Coachingprozess öffnet viele Ressourcen, zum Beispiel am spielerischen Entdecken neuer Lösungswege. Kreative Medien unterstützen die schöpferischen Prozesse. In diesem Sinne ist das Konzept Kreativität ein zentraler Aspekt meines Coachingansatzes.

    Veränderung im Coaching ist ein kreativer Prozess, bei dem der Coachee seine dysfunktionalen Muster erkennt (biographisch-rekonstruktiver Ansatz), diese Gewohnheiten auflöst (Tiefen), sich nach neuen Möglichkeiten umsieht und ein Lösungsweg ansteuert (lösungsorientiertes, systemisches Vorgehen). Häufig bedarf es auch der geistigen Perspektive, bei der es um existentielle, sinngebende und spirituelle Fragestellungen geht. Diese vier Fragerichtungen habe ich in einem Interventionskreuz zusammengefasst. Die Koordinaten bieten dem Coach die Grundlage für seine Interventionsziele ( s. Interventionsrichtungen, Kapitel 6).

    Die fünf Konzeptelemente Kreativität, Gestaltarbeit, systemisches Vorgehen, kreative Medien und Körper- und Bewegungserfahrung sind starkmiteinander verwoben und vernetzt, so dass sie in nahezu allen Interventionen vorkommen, wenn auch in einem jeweils unterschiedlichen Verknüpfungsmuster.

    2.2 Der Gestaltansatz

    Der Coaching-Gestaltansatz zeichnet sich durch wachstumsorientierte, ganzheitliche, phänomenologische und dialogische Haltung aus. Er bezieht sich auf das Konzept der kreativen Gestaltarbeit und Methoden aus der Integrativen Therapie.

    Die Gestalttherapie wurde in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von Fritz und Laura Perls (Perls, 1974, 1976; Perls, Hefferline u. Goodman, 1979a, 1979b) gegründet. Den kreativen und künstlerischen Aspekt von Gestalttherapie arbeitete besonders Joseph Zinker (1982) heraus. In Deutschland entwickelte Hilarion Petzold (1993) ein wesentlich erweitertes Konzept von Gestalttherapie, die Integrative Therapie, in dem neben Methoden aus anderen therapeutischen Ansätzen (z.B. Psychoanalyse, Psychodrama, Verhaltenstherapie) der reflektierte Einsatz von kreativen Medien (Petzold, 1977) hinzukam. Dorothea Rahm (1990) entwarf den ersten ausführlichen Beratungsansatz und von Astrid Schreyögg (1996) stammt das erste elaborierte Coachingkonzept auf der Basis der Methodik der Integrativen Therapie.

    Ich möchte zum Einstieg von einer kleinen Erfahrung berichten, wie sie jedem Menschen hundertfach im Laufe seines Lebens widerfährt.

    Ich sitze an meinem Schreibtisch, in die Lektüre eines Buches vertieft. Da meldet sich mein Magen. Die Empfindung wird immer stärker, so dass ich ihr die volle Aufmerksamkeit zuwende. Ich konstatiere ein Hungergefühl, das mir keine Ruhe mehr lässt (Energetisierung). Ich öffne eine Schreibtischschublade, hole ein paar Kekse heraus und verspeise sie. Langsam beginnt das Hungergefühl zu schwinden. Meine Aufmerksamkeit ist wieder ungeteilt beim Buch. Irgendwann spüre ich ein Kribbeln im Hals. Der Mund ist trocken. Ich habe Durst, ich gehe in die Küche usw. Mein Bewusstsein ist ständig mit Impulsen beschäftigt, die, wenn sie eine bestimmte Intensität erreichen, sich mit Gefühlen verbinden und auf Handlung drängen.

    Ich nenne dies den Zyklus des Erlebens (Zinker, 1982; ausführlich beschrieben in Kapitel 3). Der Mensch steht in einer ständigen Wechselbeziehung mit seiner Umwelt. Die Austauschprozesse zwischen Innenwelt und Umwelt vollziehen sich an der Kontaktgrenze. In unserem einfachen Beispiel ist dies der Mund. Mit der Stimulierung (hier ausgelöst durch den inneren Reiz im Magen) startet der Erlebenszyklus. In jedem Stadium hat die Aufmerksamkeit einen anderen Fokus: Sie bewegt sich von dem Gewahrwerden einer Empfindung, Gefühlen, der Aktivierung, dem Handlungsentwurf bis zum eigentlichen Austauschprozess (Kontakt) und der Lösung (Befriedigung). Etwas Neues tritt in den Vordergrund des Bewusstseins und leitet die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Im Fluss des Bewusstseins treten also zunächst unbewusste Impulse als Empfindungen ins Gewahrsein, bekommen Bedeutung, die als Gefühl erlebt werden, was dann bei hinreichender Intensität Energie ansammelt (Affekt), eine Intention entwickelt (Handlungsentwurf) usw.

    Aus der Wahrnehmungspsychologie und der Hirnforschung wissen wir, dass das gesamte Gehirn an der Strukturierung unserer kognitiven und affektiven Prozesse beteiligt ist. Unsere Wahrnehmungen und Erinnerungen werden durch Affekte moderiert. Ererbte und erworbene Muster der Bewertung fokussieren die Blickrichtung. Natürlich greift der Mensch bewusst, reflektiert, intuitiv oder unbewusst, unwillkürlich in den Erlebnisprozess ein. Komplexe Szenarien erfordern auch komplexe Reizverarbeitungen.

    Die Hauptarbeit der Lebenslenkung leistet ein Art Autopilot, der durch ererbte und erworbene Bewältigungsmuster programmiert ist. Viele Dinge geschehen automatisch. Man braucht gar nicht darüber nachzudenken. Das ist praktisch und erleichtert das Leben. Manchmal sind aber die Programme des Autopiloten veraltet, können nicht mehr ein erfolgreiches Verstehen und Verhalten in der aktuellen Lebenswelt gewährleisten. Im Zyklus des Erlebens treten Irritationen, Hemmungen, Blockaden, Vermeidungen, Vernebelungen auf. Statt Lösungen werden Symptome produziert. Der Mensch vergeudet Energie, verliert seine Kreativität und Flexibilität, büßt seine Kommunikationsfähigkeit ein und wird schlimmstenfalls krank (Richter, 1997a).

    Eine zentrale Frage in der Gestaltarbeit ist also: Wie reguliert ein Mensch seine kognitiven, expressiven und manipulativen (handelnden) Impulse in Kontakt mit sich, anderen Menschen und seiner Umwelt? Wie jemand handelt, fühlt, denkt, ist allemal interessanter als warum er dies tut. Das Wie gibt Auskunft über das wirkende Muster.

    In der Gestaltarbeit versuchen wir uns dieser Frage in folgenden Schritten zu nähern.

    1.  Phänomenologische Sichtweise: Sie konzentriert sich auf das direkt Beobachtbare, Sichtbare, Offensichtliche, also alles, was in der Situation direkt erlebt, gesehen, gehört, gerochen, gefühlt oder ertastet werden kann. Im Zentrum des Interesses steht die Bewusstseinsbühne mit all dem, was sich darauf abspielt (Bewusstheit). Interventionen können dabei die Aufmerksamkeit auf verschiedene Ausschnitte, zum Beispiel die Gefühlsseite, lenken, die dadurch klare Konturen (eine Gestalt) gewinnt ( s. erlebnis- und bewusstseinsaktivierende Interventionen, Kapitel 7).

    2.  Prozessuale Orientierung: Jedes Handeln ist Teil eines Prozessgeschehens, bzw. von Wechselwirkungen, in einem dynamischen Kräftefeld. Das innere Erleben ist deshalb zugleich auch immer Resonanz auf Kontakt – und Austauschprozesse, auf Beziehungskonstellationen und Handlungsintentionen. Es gibt eine Orientierung an inneren Prozessen ( s. Zyklus des Erlebens, Abschnitt 3.4.3) und äußerer Dynamik (z.B. Gruppenprozesse).

    3.  Strukturelle Reflexion: Bestimmte Erlebens- und Handlungsweisen tauchen immer wieder auf der Bewusstseinsbühne auf. Die beobachteten Redundanzen lassen den Schluss zu, dass es sich hier nicht um ein zufälliges oder willkürliches Agieren handelt, sondern dieses einem Plan, einem Skript folgt (Autopilot). Muster sind nicht sichtbar, sie liegen hinter den Phänomenen. Man kann sie nicht direkt wahrnehmen, sondern nur Vermutungen über ihr Vorhandensein anstellen (Hypothesenbildung). Muster strukturieren weitgehend unser Leben, sind die strukturelle Verkörperung unserer Erfahrungen. Im Hinblick auf Muster wird in einem anderen Zusammenhang dann auch von Strukturen gesprochen (Rahm, 1986). Strukturen und Muster haben Entstehungsgeschichten (Quellszenen).

    4.  Mediale Exploration: Kreative Medien und analoge Ausdrucksmittel sind wie Hilfsbühnen oder Nebenbühnen. Hier wird das Stück noch einmal gespielt, aber in einer anderen Sprache und anderen Gestaltungsregeln. Es sind Experimentalbühnen. Auf ihnen kann das Stück (das Muster) einmal ganz anders gespielt, vielleicht sogar der Schluss umgeschrieben werden.

    Die Arbeit auf der Bewusstseinsbühne ist ein Ausgangspunkt für Gestaltarbeit: Der Coach lädt seinen Coachee ein, seiner Bewusstseinsbühne besondere Beachtung zu schenken, zum Beispiel mit Fragen wie: Wie geht es Ihnen jetzt? Was fühlen Sie gerade? Interessant ist, wie auf dieser Bühne des Bewusstseins gespielt wird und was da zum Beispiel nicht vorkommt (unbewusste Vorgänge). Der Coach hat natürlich keinen unmittelbaren Zugang zur Bewusstheitsbühne seines Coachees. Er ist auf seine Beobachtungen und die Äußerungen des Coachees angewiesen (phänomenologisches Vorgehen). Wichtig ist dabei auch nicht, dass der Coach alles begreift, was sich dort abspielt, sondern dass er den Coachee anleitet, in Kontakt mit den inneren und äußeren Ereignissen zu kommen, die einer Klärung bedürfen (prozessuale Orientierung).

    Wenn der Coach seinen Coachee fragt: »Was fühlen Sie gerade?«, so will er nicht nur eine Information, sondern regt damit den Coachee an, seine Wahrnehmung in diese Richtung zu lenken. Manchmal melden sich dann ganz zaghaft Gefühle, denen der Coachee sonst nie Beachtung schenkte, die aber im Untergrund kräftig wirken, zum Beispiel eine stille Wut, eine tiefe Enttäuschung, eine unakzeptierte Vorliebe usw. Bekommen diese Impulse eine Auftrittschance in der Bewusstheitsbühne, kann sich der Coachee mit ihnen auseinandersetzen, sie ausdrücken oder in Handlung umsetzen (mediale Exploration). Gefühle kommen allerdings selten allein. Sie sind Bestandteil eines Handlungsmusters (Wie gehe ich zum Beispiel mit meiner Abneigung gegen bestimmte Mitarbeiter um?). Ich bekomme Kontakt mit ganzen Szenarien, begreife, wie ich mit anscheinend unwillkürlich bestimmten Abläufen umgehe (strukturelle Reflexion).

    Das »Hier-und-Jetzt«-Prinzip: Alle Kontexteinwirkungen, alle Einflüsse aus Vergangenheit und Zukunft figurieren, was ich jetzt auf meiner Bewusstseinsbühne erlebe. Veränderung geschieht deshalb nicht in der Vergangenheit oder Zukunft, sondern hier und jetzt. Die Stücke, die auf der Bühne gespielt werden, mögen von der Vergangenheit handeln oder die Zukunft ausmalen, gespielt wird in der Gegenwärtigkeit der Bewusstseinsbühne. Deshalb ist auch die Vergegenwärtigung von Vergangenem oder Zukünftigen eine wichtige Interventionstechnik ( Kapitel 7).

    Das Kontaktprinzip: Das Kontaktprinzip setzt natürlich immer andere oder anderes voraus, mit dem man in Kontakt treten kann, in den Austausch, in die Interaktion. Hat ein Mensch den Kontakt zu sich, seinen Bedürfnissen, Gefühlen, Gedanken, seiner Lebendigkeit und seinen Handlungsmöglichkeiten verloren, so ist es schlecht um ihn bestellt. Hat eine Person den Kontakt zu anderen Menschen, zur Natur, zur Kultur, zu Beziehungen usw. verloren, so ist seine Lebensfähigkeit gefährdet. Denn der Mensch lebt vom Austausch mit seiner Umwelt und ist auf die Selbstorganisationsmöglichkeiten seiner Innenwelt angewiesen. Kontakt geschieht an der Grenze. Nur in Grenzbereichen gibt es Veränderungen und Wachstum. Die Arbeit mit den Kontaktmöglichkeiten ist deshalb ein zentrales Thema der Gestaltarbeit.

    Gestalt ist erlebnisaktivierend: Sie befördert körperliche, affektive und geistige Prozesse in die Bewusstheit (Kontakt) und verhilft ihnen zum Ausdruck. Damit werden erstarrte Strukturen wieder

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