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Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie: Eine besondere Begegnung
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eBook463 Seiten5 Stunden

Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie: Eine besondere Begegnung

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Über dieses E-Book

Joseph Rieforth und Gabriele Graf verschmelzen zwei anerkannte Verfahren, die Tiefenpsychologie und die systemische Therapie. Die Synthese, die psychodynamisch-systemische Therapie,betrachtet psychische Belastungen und Störungen im sozialen und biografischen Kontext;integriert bewusste und unbewusste Anteile;fördert die Autonomie des Patienten bzw. Klienten;ermöglicht die Anwendung verschiedenster Interventionsformen.Die Autoren zeigen, wie sich mit dieser neuen Kombination in einer Halt gebenden therapeutischen Beziehung die Basis für ein verändertes Fühlen und Handeln des Patienten bzw. Klienten schaffen lässt. Durch den Aufbau »narrativer Strukturen« entwickeln sich neue Geschichten, (Be-)Deutungen und Wirklichkeitsinterpretationen. Mit viel Kreativität und Wertschätzung wird Patienten und Klienten die Möglichkeit eröffnet, ihren aktuellen psychischen Konflikt zu verstehen und zu bearbeiten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Juni 2014
ISBN9783647996110
Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie: Eine besondere Begegnung

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    Buchvorschau

    Tiefenpsychologie trifft Systemtherapie - Joseph Rieforth

    Teil A: Theoretische Grundlagen

    1Psychische Störungen: Auslöser, Ausprägungen und Zusammenhänge

    Psychische Störungen wurden über lange Zeit vor allem als Schwäche der Betroffenen ausgelegt oder im schlimmsten Fall als »verrückt sein« abqualifiziert. So wurden psychische Störungen häufig gar nicht diagnostiziert oder in einer kompensatorisch-körperlichen Symptomatik versteckt und somit jahrelang nicht angemessen behandelt. Bei vielen Betroffenen dauerte es daher durchschnittlich mehrere Jahre, bis eine zutreffende psychische Diagnose gestellt wurde. Heute werden psychische Erkrankungen besser erkannt und die hinter den diffusen Schmerzen stehenden psychischen Ursachen diagnostiziert. Auch die Überweisung vom Hausarzt zum Psychologischen Psychotherapeuten oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten geschieht häufiger. Zudem können die Patientinnen seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes im Jahre 1999 (Behnsen u. Bernhardt, 1999) direkt den approbierten Psychotherapeuten aufsuchen. Dennoch geht der Erkennung einer psychischen Störung oft eine lange Zeit des Leidens voraus, die nicht selten zu einer Chronifizierung des Problems mit teilweise massiven Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Betroffenen wie etwa ein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Berufsleben führt. Nach einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (2014) zur psychischen Erkrankung und Frührente bezogen im Jahr 2012 75 000 Versicherte erstmals eine Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund psychischer Erkrankungen. Mit 42 % ist fast jede zweite neue Frührente inzwischen psychisch verursacht. Das durchschnittliche Alter zu Beginn der Frühverrentung liegt mittlerweile bei 49 Jahren. Die Anzahl der wegen einer psychischen Erkrankung bedingten betrieblichen Fehltage hat sich danach im Zeitraum von 2000 bis 2012 fast verdoppelt (96 %); der Anteil dieser Erkrankung an allen betrieblichen Fehltagen liegt bei knapp 14 %. Nach den Muskel-Skelett-Erkrankungen sind psychische Erkrankungen damit der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeit, wodurch sie eine erhebliche volkswirtschaftliche Dimension erreichen.

    Nachdem psychische Störungen lange Zeit weitgehend im tabuisierten Bereich blieben, drängen sie nun zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Psychische Erkrankungen und hier insbesondere die depressiven Störungen sowie Angststörungen haben deutlich zugenommen bzw. werden zunehmend häufiger diagnostiziert. Zahlreiche Studien, epidemiologische Untersuchungen und letztlich auch die Daten der Krankenkassen und Rentenversicherungsträger zu psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeiten, Klinikeinweisungen, Verrentungen oder Arzneimittelverordnungen belegen dies. Laut Gesundheitsreport 2010 der Techniker Krankenkasse (Techniker Krankenkasse, 2010) stiegen die verordneten Psychopharmaka-Tagesdosen in der Dekade von 2000 bis 2009 bei männlichen Patienten um 119 % und bei weiblichen Patienten um 96 %. Im Jahre 2012 nahmen die durch psychische Störungen verursachten Fehlzeiten weiter zu und machten mittlerweile über 17 % aller Fehlzeiten aus. Danach lief jeder sechste Krankschreibungstag unter einer psychischen Diagnose (Techniker Krankenkasse, 2013). Gleichzeitig führen Patientinnen mit psychischen Erkrankungen die Liste der stationären Behandlungstage in deutschen Kliniken mit Abstand an (vgl. Barmer GEK, 2011). Die Ergebnisse des Bundes-Gesundheitssurveys (Jacobi, Hoyer u. Wittchen, 2004), einer vom Robert-Koch-Institut im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführten repräsentativen Erhebung zum Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung von 1997 bis 1999, zeigen, dass etwa jeder dritte erwachsene Deutsche im Laufe eines Jahres an einer psychischen Störung erkrankt. Als häufigste Diagnosen sind Angststörungen, Störungen durch psychotrope Substanzen (insbesondere Alkohol), affektive Störungen (vor allem Depressionen) und somatoforme Störungen (körperliche Beschwerden ohne ausreichende organische Ursache) zu nennen.

    Die Zunahme dieser Störungen wird unter anderem im Zusammenhang mit den sich immer weiter verändernden sozialen Strukturen, mit all den Individualisierungs- und Flexibilisierungsansprüchen in einer »Risikogesellschaft« diskutiert (vgl. Beck u. Beck-Gernsheim, 1994). Dabei müssen aber auch die Effekte einer verbesserten Diagnostik und zunehmenden Entstigmatisierung beachtet werden. Psychische Störungen dürfen keinesfalls als bloße Befindlichkeitsstörungen bagatellisiert werden, sondern sie stellen Störungsbilder dar, die in jedem Fall heilkundlich von qualifizierten Fachkräften behandelt werden sollten. Psychotherapie ist psychologische Heilkunde und wird als solche im öffentlichen Gesundheitswesen von qualifizierten Psychologen und von psychologisch qualifizierten Ärzten ausgeübt. Im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie kommen auch ausgebildete und demnach approbierte Pädagogen und Sozialpädagogen zum Einsatz. Medizinische und psychologische Heilkunde unterscheiden sich in vielfacher Weise und ergänzen sich gerade dadurch gegenseitig zu einer umfassenden Behandlung seelischer und körperlicher Erkrankungen.

    Es drängt sich die Frage nach dem eigentlichen Kern einer psychischen Störung und der damit verbundenen Psychodynamik auf, die häufig durch oberflächliche, aber dominant wirkende Symptome überdeckt wird. Das Ausmaß unbewusst ablaufender Prozesse bei psychischen Erkrankungen und ihre unbewusste Konfliktdynamik konnten durch die Untersuchungen und Ergebnisse der neueren Hirnforschung belegt werden (vgl. Kapitel 4.1.4). Wie in Kapitel 5.7 näher beschrieben wird, erfüllt das Symptom der jeweiligen psychischen Störung eine bedeutsame Funktion als Abwehr- und Kompensationsmechanismus im Sinne einer Bewältigungsstrategie. Bei der Betrachtung der aktuell nicht mehr zu bewältigenden intra- und interpsychischen Konflikte müssen sowohl psychodynamische als auch psychosoziale und psychogenetische Aspekte einbezogen werden. Sowohl die Berücksichtigung der intrapsychischen als auch der interpersonellen und systemischen Realität ist Voraussetzung für eine angemessene und zutreffende Diagnose und einen daraus zu entwickelnden Behandlungsplan.

    Die Anwendung der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie in Kombination mit der systemischen Therapie sichert die Berücksichtigung der psychopathologischen und salutogenetischen Zusammenhänge. Die Definition von Krankheit wird so aus verschiedenen Perspektiven betrachtet (vgl. Kapitel 2.2).

    Im Rahmen der Psychotherapie-Richtlinien und hinsichtlich der Kostenübernahme durch die Krankenkassen stellt sich die Frage, wann eine seelische Störung behandlungsbedürftig im Sinne einer psychischen Störung mit Krankheitswert ist und welche psychotherapeutischen Möglichkeiten im jeweiligen Fall indiziert sind.

    Psychotherapie-Richtlinien

    Die im Jahre 1967 in Kraft getretene erste Psychotherapie-Richtlinie hatte das Ziel, die nach der Reichsversicherungsordnung der 1960er Jahre bestehenden gesetzlichen Erfordernisse der Notwendigkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit für den Bereich der ätiologisch orientierten Psychotherapie zu regeln. In dieser Richtlinie werden Kriterien zu der Indikation sowie der Aufgabenbereich für die Psychotherapie festgelegt, um die Verpflichtung zur Kostenübernahme durch die gesetzlichen Versicherungsträger zu definieren.

    Die Psychotherapie-Richtlinien werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss als oberstem Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen entwickelt und kontinuierlich an die aktuellen Erfordernisse angepasst.

    Bezieht man den Krankheitsbegriff auf psychische Störungen, wird eine besondere Problematik deutlich. Die Schwelle von der Gesundheit zur Krankheit ist in vielen Fällen nicht exakt bestimmbar und zeigt sich als fließender Prozess. Bei psychischen Störungen mit Krankheitswert handelt es sich um erhebliche Abweichungen des Erlebens, Denkens, Fühlens und Handelns von der Norm, die den Betroffenen so sehr in seiner alltäglichen Lebensführung beeinträchtigen, dass eine angemessene Bewältigung des alltäglichen Lebens eingeschränkt ist. Daher muss die wahrgenommene Ausprägung der Störung sowohl von der Patientin selbst als auch von therapeutischer Seite angemessen eingeschätzt werden.

    Gemäß der Richtlinientherapie, die 1967 als unentgeltliche Leistung der Sozialversicherungsträger im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung eingeführt wurde, kann eine psychische Krankheit in psychischen und körperlichen Symptomen und in krankhaften Verhaltensweisen erkennbar werden. »Seelische Krankheit wird als krankhafte Störung der Wahrnehmung, der Erlebnisverarbeitung, der sozialen Beziehungen und der Körperfunktionen verstanden. Der Krankheitscharakter dieser Störungen kommt wesentlich darin zum Ausdruck, dass sie der willentlichen Steuerung durch den Patienten nicht mehr oder nur zum Teil zugänglich sind« (Faber u. Haarstrick, 2012, S. 15).

    Sämtliche psychischen Störungen mit Krankheitswert sind im international anerkannten diagnostischen Klassifikationssystem ICD (International Classification of Diseases) in Kapitel V (F00–F99) aufgelistet. Dieses System wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verantwortet und steht aktuell in der zehnten Fassung zur Verfügung. Ein weiteres international anerkanntes System wird von der American Psychiatric Association herausgegeben und steht aktuell in der fünften Version als DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) zur Verfügung. Für alle Diagnosen werden in beiden Systemen die Merkmale beschrieben, die die jeweilige Störung mit Krankheitswert kennzeichnen. Allerdings müssen die im Behandlungskontext erarbeiteten Diagnosemerkmale angesichts zunehmender Diversität der zu behandelnden Patientinnen heute grundsätzlich hinterfragt werden (vgl. Breidenbach u. Nyri, 2008), um Fehldiagnosen zu vermeiden. Aus diesem Grund war auch die Ausgabe des DSM-V (2013) schon im Vorfeld in die Kritik geraten; da hier vielfältige neue Diagnosen konzipiert und aufgenommen worden sind, besteht nun noch ein größeres Risiko, dass psychische Leidenszustände unzulässig pathologisiert werden. Als eine Folge der Ausweitung des Krankheitsbegriffs könnte eine Überdiagnostik unter anderem auch eine Übermedikation nach sich ziehen. Insgesamt besteht hier die Gefahr, dass gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten auch schon bei Kindern pathologisiert und mit Medikamenten egalisiert wird. Im Vordergrund sollte der tatsächliche, unmittelbare Leidensdruck der Betroffenen stehen, verbunden mit der Frage: Worum geht es hier wirklich, unabhängig von einer scheinbar objektiven Diagnose? Absolut unerlässlich ist an dieser Stelle ebenso die Frage, in welchem inneren und äußeren Kontext diese Störung (Störung der Lebensbewältigung) steht. Die reine Symptomebene kann hier nicht aussagekräftig sein, da es anders als bei somatischen Störungsbildern in der Regel keine klaren biologischen Ursachen gibt, die es abzuarbeiten gilt. Wenngleich sich psychische Vorgänge auch in hirnstrukturellen und hirnorganischen (auch stoffwechselbedingten) Vorgängen abbilden, sollte dies jedoch keinesfalls dazu verleiten, psychische Leidenszustände als hirnorganisch bedingte Stoffwechselstörungen oder gar als rein genetisch determinierte Fehlfunktionen zu erklären und einer medikamentösen Behandlung den Vorzug zu geben. Die vermehrte Ausschüttung verschiedener Neurotransmitter und auch Stresshormone wie beispielsweise Adrenalin im Augenblick einer realen Gefahr gilt ebenso als »normal« und angemessen wie eine Veränderung der Vorgänge im Zusammenhang mit psychischen Belastungen und seelischen Konfliktlagen, ohne dass in diesen Fällen schon von einer ursächlichen Stoffwechselstörung oder einer ursächlichen Störung im Gehirn gesprochen werden kann. Ein Anstieg der hirnorganischen Aktivität, der auch durch bildgebende Verfahren nachgewiesen werden kann, ist damit nicht automatisch die Erklärung für die ursächliche Störung.

    Nach den von der WHO festgelegten Kriterien wird Gesundheit nicht allein als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern umfasst den Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. Die Krankenkassen stehen in der Pflicht, die Kosten zu übernehmen (Leistungspflicht), wenn körperliche oder seelische Funktionen über eine bestimmte Norm hinaus eingeschränkt sind, sodass sie nur noch mit Hilfe eines Arztes bzw. Psychotherapeuten wiederhergestellt werden können. Dies soll durch Diagnostik und Klassifikation objektivierbar werden. Im Zusammenhang mit neurotischen Erkrankungen betonte allerdings auch Freud in seinem Werk »Abriss der Psychoanalyse«: »Die Neurosen haben nicht wie z. B. die Infektionskrankheiten spezifische Krankheitsursachen. Es wäre müßig, bei ihnen nach Krankheitserregern zu suchen. Sie sind durch fließende Übergänge mit der sogenannten Norm verbunden und andererseits gibt es kaum einen als normal anerkannten Zustand, in dem nicht Andeutungen neurotischer Züge nachweisbar wären« (Freud, 1938, S. 109).

    Diese »fließenden Übergänge«, wie auch Angst vor Stigmatisierung oder Unverständnis aus dem sozialen Umfeld, können den Umgang mit verschiedenen Vorurteilen bei psychischen Störungen erschweren und die Entscheidung für eine Psychotherapie erheblich verzögern. Häufig geäußerte Vorbehalte wie beispielsweise »Ich bin doch nicht verrückt«, »Ich habe Angst, in die geschlossene Psychiatrie weggesperrt zu werden« oder Vorwürfe aus dem Umfeld wie »Die soll sich einfach mal zusammenreißen, es geht doch jedem mal schlecht« verhindern die Suche nach therapeutischen Hilfsmöglichkeiten. Insgesamt besteht so (verständlicherweise) bei vielen von psychischen Störungen Betroffenen die Befürchtung, dass das Bekanntwerden einer psychischen Problematik zu einer Stigmatisierung mit gravierenden Nachteilen führen könnte. Diese Thematik soll aufgrund ihrer Bedeutung auch in den folgenden Kapiteln noch einmal aufgegriffen werden.

    Gesetzt den Fall, eine psychische Störung mit Krankheitswert ist diagnostiziert, kann eine Psychotherapie im gesetzlichen Krankenkassensystem (GKV) mit Hilfe anerkannter wissenschaftlich fundierter Verfahren die Bewältigungsfähigkeit des Betroffenen verbessern. Neben den im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung geforderten Voraussetzungen einer Krankheitstheorie und einer wissenschaftlich reflektierten Behandlungstechnik sind aktuell neben der Psychoanalyse, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Verhaltenstherapie noch die Gesprächspsychotherapie und die systemische Psychotherapie wissenschaftlich anerkannt. Die beiden zuletzt genannten Verfahren haben aber bisher noch keine Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss für die Umsetzung im GKV-System erhalten, sodass für die Patientinnen in diesen Fällen keine Kostenerstattung erfolgt.

    2Verständnis von Krankheit und Gesundheit: Pathogenese und Salutogenese

    Der Begriff Krankheit oder die Definition einer psychischen Störung als Krankheit erscheint im ersten Moment als ein wissenschaftlich überprüftes Faktum, welches ein psychisches Phänomen scheinbar objektiv einordnet und damit auch festschreibt. Insgesamt ist die Ausgangslage der menschlichen Phänomenologie jedoch vielschichtiger. Auch kann der (festschreibende) Umgang mit dem Begriff Krankheit gerade im Bereich der psychischen Störungen gravierende Folgen auslösen. Im Sinne einer differenzierten Sichtweise soll dies unter den Aspekten Pathogenese und Salutogenese unter Berücksichtigung von Pathologisierung und Chronifizierung im Folgenden beleuchtet werden. Dabei soll auch die Bedeutung der Resilienz, die Entwicklung der psychischen Widerstandsfähigkeit eines Menschen, thematisiert werden.

    2.1 Krankheitsbegriff, Pathologisierung und Chronifizierung

    Um den problematischen Gebrauch von Begriffen wie »Krankheit« oder »Erkrankung« weitgehend zu vermeiden, wird seit den 1990er Jahren in dem ICD-System der WHO der Begriff »Störung« (»disorder«) verwendet, um einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzuzeigen. Diese sind immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden (Dilling, Mombour u. Schmidt, 1993, S. 22 f.; Franke u. Broda, 1993).

    Die Klassifikation einer psychischen Störung als Krankheit, um die Voraussetzung für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen zu erfüllen, beinhaltet die Gefahr, Eigenverantwortung und Handlungskompetenzen der Betroffenen zu schmälern. Handelt es sich um eine Krankheit, so ergibt sich zwangsläufig die (Mit-)Verantwortung eines Arztes oder Psychotherapeuten als Experten für den Umgang mit der Krankheit. Dabei besteht die Gefahr, dass die Verantwortung für den Umgang mit der Krankheit von der Patientin weitgehend abgegeben wird. Die Patientin wird so zum Opfer der Krankheit und verhält sich entsprechend. Diese Situation führt bei einer Reihe von Patientinnen zunächst zur Entlastung bei gleichzeitiger Reduktion der eigenen Verantwortlichkeit. Ebenso können Betroffene mit höheren Sympathiewerten, mit Mitleid und auch Hilfsbereitschaft im sozialen Umfeld rechnen, wenn ihre psychische Störung als Krankheit definiert wird. Diese Situation kann ein Bearbeiten der Symptome erschweren, Handlungsunfähigkeit fördern und zu einer Chronifizierung der psychischen Störung führen.

    Die Klassifizierung einer psychischen Störung als Krankheit kann Konsequenzen haben, die den weiteren Krankheitsverlauf wesentlich beeinflussen (vgl. hier von Schlippe u. Schweitzer, 2012). Letztendlich sollte deshalb bei aller Notwendigkeit diagnostischer Maßnahmen immer noch die Frage bleiben, unter welchen Bedingungen Menschen und ihre Problematiken überhaupt klassifiziert werden können. Es ist wichtig, die Störung immer unter den jeweils biografischen und sozialen Gegebenheiten in einem ganzheitlichen, umfassenden Verständniszusammenhang zu sehen. Diagnosen und Begriffe sollten immer in den individuellen und sozialen Kontext gestellt und auch vor dem Hintergrund lebensgeschichtlicher Begebenheiten und der Gründe für die Aufrechterhaltung der Symptomatik gesehen werden. Dabei ist eine psychische Störung als ein Prozess zu sehen, der nicht automatisch abläuft, sondern beeinflusst werden kann und beeinflusst wird. Das institutionelle Anforderungsprofil für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen gibt zwar die Definition einer psychischen Störung als Krankheit (Krankheitswert) vor, darüber hinaus lässt sich aber der Störungsbegriff anhand der Ursachen, des Verlaufs und der Interventionsmöglichkeiten durchaus auf vielfältige Weise differenzierter beleuchten. So ergibt sich zum Beispiel in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie der Sinn einer psychischen Störung zunächst aus den lebensgeschichtlichen Bedingungen, während aus systemischer Sicht zunächst die zirkulär-kausalen Wechselwirkungen aus dem jeweiligen sozialen Kontext der Patientin entscheidend sind.

    Um einer Stigmatisierung (vgl. Kapitel 6.2) entgegenzuwirken, wird im Rahmen der Internationalen Klassifikationsrichtlinien (ICD-10) (Dilling, Mombour u. Schmidt, 1993) empfohlen, den Begriff der psychischen Krankheit durch den Begriff »psychische Störung« zu ersetzen. Dies gilt unabhängig davon, dass Kostenträger des Gesundheitssystems im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung weiterhin den Krankheitsbegriff im Sinne einer Störung mit erheblicher Einschränkung der Bewältigung des Alltags definieren. Da einer seelischen Störung häufig eine aktuelle seelische Krise zugrunde liegt, könnte der Begriff »Krise mit Krankheitswert« hilfreich sein. Dadurch würde der Fokus der Betrachtung auf die krisenhaft zugespitzten krankheitswertigen Abweichungen des Erlebens und Verhaltens gerichtet. Im Sinne einer psychodynamisch-systemischen Sichtweise wäre eine Pointierung auf die jeweilige kontextuelle Beziehungssituation ebenfalls hilfreich, um zu vermeiden, dass eine Krise allein als eine Störung des Einzelnen betrachtet wird. Die Auswirkungen auf die Mitbeteiligten (Partner, Kinder, Angehörige, Freunde etc.), die die Krise entweder mit ihren Ressourcen positiv beeinflussen oder durch ihre Problemsicht eher verstärken können, sollten ebenfalls Berücksichtigung finden. Daher schlagen wir als Begriff »Krise mit Krankheitswert im sozialen System« vor. So könnte der jeweilige Zustand der Betroffenen treffender beschrieben und eine unnötig schwere und stigmatisierende Pathologisierung vermieden werden. Folglich könnten Selbstkompetenz und Selbstverantwortung sowie Entscheidungs- und Handlungskompetenz auch im Rahmen von Psychotherapie für die Beteiligten stärker ins Blickfeld rücken. Der Begriff »Krise« könnte das Augenmerk vielmehr auf einen nötigen Wendepunkt und damit auf ein ausbaufähiges Potenzial legen, wenn man die Krise als eine krisenhafte Zuspitzung einer auslösenden Belastungssituation mit Reaktivierung frühkindlicher Traumata im weitesten Sinne und dem damit zusammenhängenden Zusammenbruch der bis dahin funktionsfähigen Abwehrmechanismen versteht. Wird dabei gleichzeitig der aktuelle Kontext mit seinen konkreten Realbeziehungen und den interpersonellen Mustern mit möglichen Delegationsmustern aus früheren Generationen (vgl. Kapitel 4.2) berücksichtigt, kann diese Bewusstmachung als Ressource für den Veränderungsprozess genutzt werden. Eine krisenhafte Störung könnte somit bei allem Leid als eine Chance für neue Entwicklungsprozesse gesehen werden.

    2.2 Pathogenese und Salutogenese als Ressourcenorientierung

    Der Begriff Pathogenese entstammt dem Forschungsgebiet der Pathologie. Diese hat in der Psychologie bereits seit langem ihren Platz. Bekannt geworden durch den griechischen Arzt Galenus, bedeutet Pathologie frei übersetzt die Lehre vom Leid. Die Pathogenese (zusammengesetzt aus griech. Pathos »Leid«, »Mitleid«, »Leidenschaft« und griech. Genesis »Ursprung«, »Entstehung«, »Entwicklung«) als Teilgebiet der Pathologie beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie eine Krankheit und ein Leid entstehen (Kuhlmann u. Rieforth, 2006, S. 89 f.).

    Psychische Störungen aus pathologischer Sicht zu betrachten, stellt zunächst die gängige Form dar, da ohne eine Diagnose nach ICD oder DSM keine Heilbehandlung im Gesundheitssystem möglich ist. Neben den Vorteilen, die eine solche Klassifizierung im Sinne der Vergleichbarkeit und der notwendigen Operationalisierung für eine gemeinsame Verständigung mit sich bringt, stellt die Diagnose einer psychischen Störung insofern eine besondere Situation dar, da diese auf die Patientin eine direkte Auswirkung hat, die sich für die Gesundung nicht nur förderlich, sondern in vielen Fällen auch krankheitsbestätigend auswirken kann. So macht zum Beispiel Simon (1990) in seinem Werk »Meine Psychose, mein Fahrrad und ich« auf die malignen Wechselwirkungen zwischen Diagnose und Individuum aufmerksam. Mittlerweile findet zwar vermehrt eine kritische Betrachtung einer einseitig pathologisch orientierten Diagnostik unter anderem auch durch Erkenntnisse aus der Resilienz- und Salutogeneseforschung statt, gleichzeitig besteht aber durch eine immer differenziertere Diagnostik die Gefahr einer zunehmenden Pathologisierung menschlichen Verhaltens. Durch die zunehmenden Forschungsaktivitäten unter Laborbedingungen im Rahmen von randomisierten kontrollierten Studien (RCT-Studien) und weitere auf die Effizienz ausgerichtete Wirksamkeitsstudien bei der Erfassung psychischer Störungen wurden naturalistische und die Effektivität (Wirksamkeit unter realen Bedingungen) erfassende Studien nur eingeschränkt wahrgenommen. Dabei steht die Frage nach der Relevanz dieser Studienergebnisse aus den Laboruntersuchungen für die Anwendung in der Praxis in vielen Fällen noch aus (vgl. Beutel, Doering, Leichsenring u. Reich, 2010, S. 54 ff.). Das systemische Modell hat in den vergangenen Jahrzehnten eindrucksvoll gezeigt, wie durch die Relativierung (Verflüssigung) störungsspezifischer Diagnosen durch eine Dekonstruktion dieser einseitigen Zuschreibung bei der Behandlung störungsspezifischer psychischer Störungen gute Erfolge erzielt werden konnten (Ludewig, 2013; von Sydow, Beher, Retzlaff u. Schweitzer, 2007; Beher, 2006; Scholz, 2005). Die im Rahmen der psychodynamischen Verfahren entwickelte Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD) hat ebenfalls zum Ziel, eine psychische Störung nicht als einen Zustand, sondern als einen Prozess mit entsprechenden Wechselwirkungen in den jeweiligen sozialen Kontextsituationen zu erfassen (in Kapitel 6.3 wird dieses Diagnosemodell und seine Bedeutung für eine konstruktive Beziehung zwischen beiden Psychotherapieverfahren näher dargestellt).

    Bei aller Unterschiedlichkeit der Überlegungen zur pathologischen Entstehungsgeschichte von psychischen Störungen stehen die gemeinsamen Ziele, für den Patienten größere Freiräume im Umgang mit der psychischen Störung und eine Förderung seiner Autonomie zu schaffen, im Vordergrund (Schweitzer u. von Schlippe, 2006).

    2.3 Salutogenese: Die Entstehung von Gesundheit

    Aaron Antonovsky, ein amerikanisch-israelischer Medizinsoziologe, der 1960 nach Israel emigrierte, beschäftigte sich in seinen Arbeiten erstmalig nicht mehr mit den Entstehungsbedingungen einer Krankheit, der Pathogenese, sondern stattdessen mit der Salutogenese, der Entstehung von Gesundheit (von lat. »salus«: »Heil«, »Wohlbefinden«). Ihn interessierte insbesondere die Frage, wieso Menschen trotz der hohen Anzahl von Umweltgiften und psychosozialen Stressoren in den unterschiedlichen Lebensfeldern (Familie oder am Arbeitsplatz) und trotz wiederkehrender alltäglicher Ärgernisse gesund bleiben oder nicht selten ihre Gesundheit durch solche Situationen sogar noch steigern können. Dabei stellte Antonovsky folgende Annahmen der salutogenetischen Perspektive auf:

    1. Statt Menschen als entweder krank oder gesund zu kategorisieren, werden sie auf einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum lokalisiert.

    2. Im salutogenetischen Modell wird nicht die Entstehungsgeschichte der jeweiligen Krankheit isoliert betrachtet, sondern die gesamte Lebensgeschichte eines Menschen wird einbezogen.

    3. Das Interesse in der salutogenetischen Betrachtungsweise liegt bei den Faktoren, die an einer Bewegung auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank bzw. an der Stabilisierung einer bestimmten Position mitwirken.

    4. Stressoren sind immer und überall in verschiedener Form vorhanden und nicht in Gänze zu beseitigen. Gleichzeitig sind Stressoren nicht grundsätzlich als krank machend anzusehen, sie können auch gesundheitsfördernde Konsequenzen haben (Bernath, Fichten u. Rieforth, 2000; Rieforth u. Fichten, 1994; Fichten u. Rieforth, 1995).

    Die Grundidee der Salutogenese, Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern als ein Kontinuum zwischen Krankheit und Gesundheit zu betrachten, schuf die Voraussetzung für die prozesshafte Darstellung der jeweiligen Ausprägungsqualität im Sinne einer »Mehr-oder-weniger-Skala«. Das Erleben des Menschen kann nun individuell auf dieser Skala verortet werden (Kuhlmann u. Rieforth, 2006). Gesundheit und Krankheit werden nicht als starre Normen aufgefasst, sondern aus einem Prozess der Bewegung zwischen den beiden Polen verstanden (siehe Abbildung 1).

    Das Erleben von Gesundheit und von Krankheit ist dabei immer subjektiv. Psychische, körperliche wie auch soziale Einflüsse bestimmen den Grad der Krankheit bzw. den der Gesundheit. Nach Antonovsky ist der »Kampf in Richtung Gesundheit […] permanent und nie ganz erfolgreich« (Antonovsky, 1993, S. 10 f.). Dabei gilt es im salutogenetischen Ansatz die Frage zu klären, welche Faktoren dem Menschen dazu verhelfen, so erfolgreich wie nur möglich mit den Bedrohungen im Verlauf seines Lebens umzugehen und wie diese gleichzeitig gesundheitserhaltend wirken können (Antonovsky, 1993).

    Indem der Blick in Richtung Gesundheit gelenkt wird, verändert sich auch die Wahrnehmung von kranken Menschen. Sie sind auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum nicht nur mehr oder weniger krank, sondern auch mehr oder weniger gesund. Der Fokus verschiebt sich so auf die gesund machenden Faktoren und auf die individuellen Ressourcen, die zu Gesundheit führen.

    Abbildung 1: Krankheit und Gesundheit als dynamischer Prozess

    Die Bewegungsrichtung in dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum wird nach Antonovsky (1997) bestimmt durch den erfolgreichen oder erfolglosen Umgang mit den durch die Stressoren verursachten Spannungszuständen. Ob ein Stressor als solcher wahrgenommen wird oder nicht, ist abhängig davon, ob ein Individuum ihn subjektiv als Stressor wahrnimmt und ob es die nötigen Ressourcen aufbringen kann, mit dem Stressor umgehen zu können. Stressoren rufen im Organismus einen Spannungszustand hervor, der bewältigt werden muss. Dieser Bewältigungsprozess ist von zentraler Bedeutung für die Salutogenese. Bewältigt das Individuum den Spannungszustand, so bewegt es sich im Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung Gesundheit. Kann der Spannungszustand nicht gelöst werden, so erfolgt – in Wechselwirkung mit anderen krank machenden Faktoren – eine Bewegung in Richtung Krankheit. Die sogenannten Widerstandsressourcen (»generalized resistance resources«, GRR) bestimmen jeweils, in welchem Maße der Bewältigungsprozess Erfolg versprechend ist. Hilfreiche Widerstandsressourcen sind zum Beispiel eine sichere Lebenssituation und Unterstützung im sozialen Bereich, eine zufriedenstellende Partnerschaft, eine gesundheitsbewusste Lebensweise, ein intaktes Immunsystem, eine gute medizinische Betreuung, aber auch vorhandene Stressbewältigungsstrategien. Allen Widerstandsressourcen zum Trotz ist eine Bewegung in Richtung Gesundheit letztendlich immer abhängig von der intrinsischen Motivation, die über die Bereitschaft, die eigenen Ressourcen auch einzusetzen, entscheidet. Die intrinsische Motivation ist wiederum abhängig von dem individuellen Stärkegrad des Kohärenzsinns (»sense of coherence«, SOC). Nach Antonovsky wird im Kohärenzgefühl die individuelle Grundhaltung, aus der das Individuum den Umgang und den Bedeutungsprozess belastender Ereignisse steuert, repräsentiert. Er definiert dies als ein grundsätzliches und gleichzeitig dynamisches Gefühl des Vertrauens, das davon ausgeht, dass die inneren und äußeren Umstände sich so entwickeln, wie es vernünftigerweise zu erwarten ist (vgl. Antonovsky, 1997).

    Das Vorliegen einer solchen generellen Einstellung und Haltung gegenüber dem Leben wird als eine dispositionelle Bewältigungsressource betrachtet, die Menschen widerstandsfähiger gegenüber Stressoren macht. Danach führt ein starkes Kohärenzgefühl zu einer Immunisierung gegen Krankheit und zu einer Unterstützung von Gesundheit. Das Kohärenzgefühl lässt sich nach Antonovsky durch drei zentrale Kompetenzbereiche beschreiben, die miteinander verbunden sind. Dabei handelt es sich um die »Verstehbarkeit«, die »Handhabbarkeit« und die »Bedeutsamkeit« bzw. »Sinnhaftigkeit« (Antonovsky, 1997). Eine daraus entwickelte Frageskala, die Sense of Coherence Scale, wurde in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung teststatistisch überprüft und in Form einer Kurzskala (Leipziger Kurzskala) weiterentwickelt (Schumacher, Wilz, Gunzelmann u. Brähler, 2000).

    Der Kompetenzbereich »Verstehbarkeit« ermöglicht es Menschen, Situationen einschätzen und Entwicklungen vorhersagen zu können. Interne und externe Reize bekommen dadurch Sinn und erlauben eine gewisse Form von Kontrolle im eigenen Leben. Die Annahme, dass späteres Bindungsverhalten durch frühe Objektbeziehungen mitbeeinflusst wird, weist dem Verständnis der Verbindung zwischen den frühen Erfahrungen und den aktuellen Konflikten eine besondere Aufmerksamkeit zu. Durch die Nutzung der therapeutischen Arbeitsbeziehung mit der Bearbeitung der damit verbundenen Übertragungsprozesse durch fokussierte Reflexionen wird die Einsicht der Patientin in ihre unbewussten Motive unterstützt und damit die Verstehbarkeit ihrer innerpsychischen Impulse und der damit verbundenen Interaktionen gefördert.

    Die »Handhabbarkeit« als zweiter Kompetenzbereich ermöglicht, Lebenssituationen aus eigener Kraft oder mit Unterstützung von außen zu begegnen und Schwierigkeiten als Herausforderung oder Lernerfahrung zu betrachten. Der dritte Kompetenzbereich schließlich fokussiert die Bedeutsamkeit, nach der ein Individuum entscheidet, welche Bereiche ihm wichtig sind und wo es sich engagieren will, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Sind die Ausprägungen in allen drei Bereichen hoch, dann verfügt das Individuum über ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens (Antonovsky, 1997), das die Ereignisse des Lebens strukturierbar, vorhersehbar und erklärbar macht. Die dafür notwendigen Ressourcen stehen dem Individuum dabei zur Verfügung und es empfindet die dafür erforderlichen Anforderungen und das Engagement als lohnend.

    Entscheidend für eine salutogenetische Entwicklung sind Ressourcen, die vom Individuum eingesetzt werden. Diese lassen sich in vier Kategorien einteilen:

    1. Persönliche oder psychische Ressourcen: bereits bestehende Ressourcen wie bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, Fähigkeiten und Kompetenzen verringern Spannungszustände (z. B. Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen, Bewältigungsstrategien).

    2. Soziale Ressourcen: Unterstützung, Hilfeleistungen und Halt aus dem sozialen Umfeld sowie intakte zwischenmenschliche Beziehungen.

    3. Soziokulturelle Ressourcen: gesellschaftliche, salutogene Strukturen, Werte und Normen, die das Individuum in seiner Entwicklung, in seinem seelischen Zustand und seinen Leistungsmöglichkeiten beeinflussen.

    4. Physikalisch-materielle Ressourcen: Sicherung der Qualität und Quantität äußerer Faktoren (z. B. Umwelt), um körperliche Gesundheit zu garantieren und Störungen zu vermeiden (z. B. ausreichende Bewegungsmöglichkeiten, Qualität der Luft).

    Aus salutogenetischer Sicht wird eine Reihe von Persönlichkeitseigenschaften als besonders hilfreich für die Gesundheit eines Menschen angesehen. Dazu zählen zum einen Zuversicht und Optimismus, zum anderen das Vertrauen in die eigene Kompetenz sowie die Fähigkeit und die Motivation, seine momentane Gefühlswelt zum Ausdruck zu bringen.

    Antonovsky macht deutlich, dass in einer seelischen Konfliktlage und bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen die Person mit einem starken Kohärenzgefühl darauf vertraut, dass mit neuen Informationen etwas Sinnvolles anzufangen ist. Diese Situation betrachtet die Person als Herausforderung und nicht als Gefahr (Antonovsky, 1997). Eine beziehungsorientierte tiefenpsychologisch fundierte sowie systemische Psychotherapie stellt – wie noch im Weiteren zu sehen sein

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