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Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert
Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert
Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert
eBook632 Seiten7 Stunden

Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert

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Über dieses E-Book

Kapitalismus ist weit mehr als eine Wirtschaftsform. Mit seiner Ausbreitung wurden bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse umgewälzt, Klassengesellschaften bildeten sich. Die Autorin schildert die Entstehung unserer modernen Welt im Spiegel eines konkreten sicht- und fühlbaren Gegenstands: dem Männeranzug. Denn Bekleidung verortet die Menschen in modernen Gesellschaften, markiert ihre Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie. Und das einflussreichste Kleidungsstück der Moderne ist der Männeranzug. In dieser ausgreifenden transatlantischen Geschichte von Produktion und Konsumtion des Männeranzugs entfaltet das Buch deshalb eine Geschichte moderner Klassengesellschaften. Dabei richtet es den Fokus auf Großbritannien, die USA und Deutschland und zeigt, wie sich die Transformationen in diesen verschiedenen Gesellschaften gegenseitig beeinflussten. Die neuen Herren waren im Anzug.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum4. Apr. 2016
ISBN9783412506131
Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert
Autor

Anja Meyerrose

Anja Meyerrose wurde mit der Studie zu "Herren im Anzug" an der Universität Hannover im Fachbereich Soziologie promoviert.

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    Buchvorschau

    Herren im Anzug - Anja Meyerrose

    1. Die Uniform der Bourgeoisie

    Die Transformationen zu Klassengesellschaften begannen vor dem langen 19. Jahrhundert.¹³ Schon im 18. Jahrhundert haben sich Wahrnehmungsmuster etabliert, die bis heute nachwirken, daher muss die Forschung zur Genese moderner Gesellschaften, wie Bude et al. (2010: 15) fordern, auch früher ansetzen. In diesem ersten Teil der Arbeit wird gezeigt, wo, wann und warum die Bourgeoisie sich zusammenschließt. Die von Kocka oder Bude dafür verantwortlichen Merkmale und Schlüsselmotive, wie eine „scharfe Ausprägung des Land-Stadt-Unterschieds, kräftige adelig-feudale Traditionen, deutliche Klassenspannungen, starke städtisch-stadtbürgerliche Traditionen, die Wirksamkeit der Aufklärung, ethnische und konfessionelle Homogenität, deutliche Grenzen der Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur" (Kocka 1988a: 33) lassen sich für diese Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert nicht finden.

    Wenn man früher ansetzt, dann zeigt sich, dass es differente Macht- und Herrschaftsverhältnisse waren, die die Bourgeois begünstigten und heterogenere gesellschaftliche Verhältnisse, als dass sie sich über den einfachen Ansatz des Bürgers zwischen Adel und Arbeitern bestimmen ließen. Diese Verhältnisse zeichnen sich durch viele Überlappungen, Mischungsverhältnisse und ein Nebeneinander aus und passen nicht in einen nationalen Rahmen. Einflüsse aus näher gelegenen Regionen und weit entfernten Teilen der Welt bestimmten immer auch die eigenen gesellschaftlichen Veränderungen. Dabei gab es stets auch heftige Widerstände der alten herrschenden Stände, die durch zugesicherte Privilegien gesellschaftliche Macht und Herrschaft ausübten. Diese Verwobenheiten und Einflüsse, Kämpfe und Siege in den gesellschaftlichen Transformationen lassen sich nur als Teil eines großen Prozesses, einer erweiterten Perspektive erklären.

    In diesem Teil 1 wird aus dieser Perspektive gezeigt, wie sich eine Bourgeoisie uniformierte und als neue herrschende Klasse Maßstäbe für die Grundlagen der bis heute geltenden Herrschaftskleidung setzte: den Anzug.

    Die bourgeoise Männerkleidung entwickelte sich in England, weil sich hier von merchants ein betriebsames, an den eigenen Profiten interessiertes Denken und Handeln entfalten konnte, woraus sich später die kapitalistische Produktionsweise entwickelte. Diese merchants fanden gesellschaftliche Anerkennung und Aufnahme in die herrschende Klasse, darum wurde auch ihre Bekleidung anerkannt. Aus den „abenteuerlustigen Individualisten des elisabethanischen England" (Löwenthal 1990: 81) waren zum Ende des 17. Jahrhunderts an ihren [<<29||30>>] Bekleidungsgewohnheiten erkennbare Männer geworden: die Merchants von Manchester (Kapitel 1.1). Die Veränderung ihrer Kleidungsgewohnheiten verdankte sich den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen: Die Uniformierung im Anzug entsprach dem Bedürfnis einer einheitlichen Außendarstellung, um kulturelle (oder religiöse oder ethnische) Unterschiede innerhalb der bourgeoisen Klasse verschwinden zu lassen.

    Im nächsten Kapitel Sansculotten – Bürger im seidenen Rock? (Kapitel 1.2) wird auf Frankreich eingegangen. Häufig wird mit der Juli-Revolution von 1789 der Beginn des bürgerlichen Zeitalters angesetzt, ab dem sich die moderne Bürgerlichkeit entfaltet habe. Dazu passen die gängigen Darstellungen zur historischen Entwicklung der Männerkleidung, die dem Kampf französischer revolutionärer Bürger gegen den Adel entscheidende Einflüsse zuschreiben (René König). Auch dieses national beschränkte etablierte Wahrnehmungsmuster kann aufgebrochen werden, denn Einflüsse auf die neue französische Männerkleidung kamen vor allem aus England. In Frankreich löste die kapitalistische Produktionsweise weniger radikal ältere Produktionsweisen ab, daher wurde hier auch die Kleidung der Bourgeoisie noch nicht zur vorherrschenden, d.h. gesellschaftlich anerkanntesten Männerkleidung. Erst nach dem Ende des Napoleonischen Kaiserreichs und der Einsetzung von Louis-Philippe als König von Frankreich änderte sich das.

    Erst wenn diese frühe Entwicklung im England und Frankreich des 18. Jahrhunderts beschrieben ist, kann im Kapitel Deutsche Bürger – Von Werther zu Jahn (Kapitel 1.3) den Ursprüngen des modernen Bürgertums in der deutschen Gesellschaft nachgegangen werden. Nicht einmal hier passen für den untersuchten Zeitraum alle von Kocka genannten Merkmale oder von Bude et al. aufgezählten Schlüsselmotive. Es zeigt sich, dass in den deutschen Staaten die Entwicklungen in den großen Nachbarländern einen gewichtigen Einfluss auf die sich etablierenden Wahrnehmungsmuster zur Bürgerlichkeit hatten. Wie in Frankreich waren die englischen Einflüsse schon im 18. Jahrhundert zu spüren und auch hier traf die Uniform der Bourgeoisie auf Widerstände der alten herrschenden Stände, die durch zugesicherte Privilegien gesellschaftliche Macht und Herrschaft ausübten. Aber von größerer Bedeutung waren in den deutschen Staaten die sich transformierenden französischen Einflüsse. Die Uniform der Bourgeoisie traf in den deutschen Gesellschaften in hohem Maße auf Widerstände von weniger einflussreichen Gesellschaftsgruppen, gerade weil die Bekleidungsgewohnheiten aus der französischen Gesellschaft diese Bürger in noch stärkerem Maße beeinflussten. Die deutsche Abwehr der ausländischen Einflüsse, vor allem aus Frankreich, führte zur Nationalisierung, dadurch konnte die Uniform des Offiziers anerkannteste Männerbekleidung bleiben. Im Unterschied zur [<<30||31>>] Uniform der Bourgeoisie konnten über die Militäruniformen keine kulturellen, religiösen oder ethnischen Unterschiede verdeckt werden, sondern es wurden Teile der Gesellschaft je nach Bedarf ausgeschlossen. Gerade das Streben nach einer nationalen einheitlichen deutschen Gesellschaft förderte die Uniformierung der Männer in verschiedenen Uniformen und verhinderte die Akzeptanz der kosmopolitischen und grenzübergreifend am Handel interessierten Großhändler und Kaufleute (merchants) in ihrer Uniform der Bourgeoisie.

    1.1 Die Merchants von Manchester

    Nerissa: What say you then to Falconbridge, the young baron of England? Portia: You know I say nothing to him, for he understands not me, nor I him: he hath neither Latin, French, nor Italian, and you will come into the Court and swear that I have a poor pennyworth in the English: he is a proper man’s picture, but alas who can converse with a dumbshow? how oddly he is suited, I think he bought his doublet in Italy, his round hose in France, his bonnet in Germany, and his behaviour every where.

    William Shakespeare, The Merchant of Venice, 1.2 (1994: 31).

    Noch Ende des 16. Jahrhunderts schnitt bei Shakespeare der englische Brautwerber gegen den von Portia erwählten Venezianer ungünstig ab. Vor allem aber war er ungebildet und hatte ein schlechtes Benehmen. Mit seiner bei den verschiedensten Stilen Europas entliehenen zusammengewürfelten Kleidung war er dazu unmöglich angezogen. Rund hundert Jahre später hatte sich in Englands herrschender Klasse eine uniformierte, standardisierte Kleidung durchgesetzt, an der sich weltweit Männer zu orientieren begannen. Warum sich gerade in der englischen Gesellschaft aus der individuellen handgearbeiteten Produktionsweise die standardisierte Produktionsweise entwickelte, hat mit den sich verändernden Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu tun. Dabei waren es weniger zwei homogene Gruppen von Bürgern und Aristokraten, die gegeneinander kämpften, sondern merchants, die in der englischen Gesellschaft Anerkennung forderten. Weil sie diese Anerkennung fanden, konnten sich ihre Anforderungen an bourgeoise Kleidung durchsetzen, die im Gegensatz zu den alten ständischen Kleidungsgewohnheiten standen. [<<31||32>>]

    Spanische Mode?

    In der Modesoziologie wird die im 16. Jahrhundert vorherrschende Art sich zu kleiden als Spanische Mode bezeichnet. Nach einer Reihe von Kriegen, „in denen Spanien, England und Frankreich um die Hegemonie in Europa kämpften" (König 1967: 94), sei schlussendlich das modische Chaos zu Gunsten einer spanischen Mode entschieden gewesen. Diese sei in Europa so vorherrschend gewesen, wie die weltpolitische Herrschaft unter Kaiser Karl V. (Regentschaft von 1519–1556) (König 1967: 94).

    Bis ins 18. Jahrhundert wurden in Europa die Textilien insgesamt größtenteils aus Flachs oder Wolle hergestellt. Der überwiegende Teil der Kleidung wurde aus groben selbstgesponnenen und selbstgewobenen Leinenstoffen gefertigt; Leinen war das robusteste Material, d.h., die Stoffe waren sehr haltbar. Flachs und Wolle waren billige Materialien, weil diese Rohstoffe oft vor Ort erhältlich waren und nicht eingeführt werden mussten (Schulze-Gävernitz 1892: 31). Bevor sich die Kleidungsgewohnheiten im 16. Jahrhundert zu verändern begannen, war auch in England, wie in ganz Europa, die Bekleidung der meisten Leute weich am Körper anliegend, aber dabei formlos. Begehrt waren jedoch vom Mittelalter bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts Kleidungsstücke, die möglichst voluminös, sperrig und steif waren (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 62). Und die vorherrschende Eigenschaft von Stoff, weich zu sein und sich an den Körper zu legen, konnte nur durch eine aufwändige Bearbeitung zur gewünschten steifen Formbarkeit verändert werden. Dafür wurden bevorzugt Stoffe wie Brokate, Samte und schwere Seiden verarbeitet, denen der Wert am Gewicht abzumessen war. „the heavyweight relic wrappings that have survived in European treasuries are the most expensive and of highest quality and heaviest weight." (Snyder 2004: 150). Auf dem Gemälde, das den englischen König James I. (siehe dazu Abbildung 1) zeigt, sieht man sehr gut, wie der Maler Paulus van Somer die Weite und Steifheit der Oberbekleidung und der Hosen betont. Neben dem metallenen Harnisch wurden zudem einige andere Kleidungsstücke mit einem metallischen Glanz versehen, wodurch dem Betrachter eine Härte vermittelt wird, die von den Stoffen sonst nicht ausgeht. Denn je reichhaltiger Textilien bestickt, durchbrochen, mit Pelz oder anderen Stoffen unterfüttert und mit Gold oder Silber gewirkt waren, desto schwerer wurden sie und desto gewichtiger waren auch die Personen, die sie trugen. Macht entfaltete sich im wörtlichen Sinne unmittelbar über die Fülle der prächtigen Kleidung; die Stellung in der Gesellschaft wurde in räumlichen Ausbuchtungen, Rundungen, Faltenwürfen dargestellt.

    [<<32||33>>]

    Abbildung 1: König James I. (1566–1625), gemalt von Paulus van Somer.

    Von einer einheitlichen europäischen Mode kann darum nicht gesprochen werden, da sich einzelne Kleidungsstücke hinsichtlich ihrer handwerklichen Machart voneinander unterschieden. Unter den Produktionsbedingungen betrachtet, wurde der Stoff und die Bekleidung in Handarbeit hergestellt, das heißt gesponnen und gewoben, genäht oder bestickt, verstärkt und gefärbt. Die Arbeitskraft, die in die Herstellung und Veredelung der Stoffe hineinfloss, verstärkte gerade das Einzigartige der Textilien. In der Kombination der verschiedenen Stoffe sind die fertigen Kleidungsstücke unverwechselbar und einzigartig gewesen. Es war keine Bekleidung, die modisch war, d.h. standardisierte Bekleidung, die durch Massenfertigung produziert wurde und austauschbar war. Bei den Bekleidungsstücken handelte es sich um individuelle und unverwechselbar gearbeitete Unikate, die andererseits so großzügig geschnitten waren, dass ihre Träger wechseln konnten. [<<33||34>>] Jacken, Hosen oder Hemden wurden weniger einzelnen Personen angemessen, sondern einer Stellung in der Gesellschaft. Es gab zahlreiche Kleidungsstücke, die als Erbstücke begehrt waren, die detailreichen Beschreibungen über die Machart einiger dieser kostbaren Stücke sind aus Testamenten bekannt: „What is notable about the personal clothing described in elite wills is the obvious luxury of the fabrics and elaboration of design." (Ashley 2004: 143). Der uniforme Eindruck, den die Kleidung auf heutige Betrachter macht, entsteht durch die über die Kleidung demonstrierte Macht und Herrschaft, die bis zum 17. Jahrhundert ja auch in Europa nicht nur Männer sondern Frauen gleichermaßen über die voluminöse Entfaltung ihrer Bekleidung ausstrahlen konnten.

    Auf Gemälden aus dem 16. Jahrhundert sind die englische Königin Elisabeth I. und ihr Hofstaat, die Minister oder merchant adventurers (Kindler/Hilgemann 2006: 247), wie Francis Drake und John Hawkins, in prunkvoller, Pracht entfaltender Kleidung zu sehen. Diese an der spanischen Art und Weise orientierte, prunkvolle und aufwändige Bekleidung, so argumentiert der Soziologe René König, sei in England gerade in dem Augenblick zum radikalen Durchbruch gekommen, als das Land unter Königin Elisabeth I. (1566–1603) „einen Kampf auf Leben und Tod" gegen die Spanier ausfocht (König 1967: 109). Aber diese Akteure waren nicht von Bedeutung für die Entwicklung der neuen Männerbekleidung und auch nicht verantwortlich für die Durchsetzung einer neuen Produktionsweise. Wo die Gesellschaft in England voranschritt, blieb die spanische, wie andere aristokratische Gesellschaften, rückständig – und damit auch ihre Bekleidung.

    Für die spanische Aristokratie, so beschreibt es der Soziologe Leo Löwenthal, war Ende des 16. Jahrhunderts der innere Widerspruch zwischen der mittelalterlichen und der modernen Art des gesellschaftlichen Lebens charakteristisch. Die Monarchie konnte eine Weile davon zehren, dass durch die spanischen Entdeckungen, vor allem durch die Erträge des Kolonialreiches und die Beute aus siegreichen Feldzügen, große Gewinne vorhanden waren. Davon konnten sie einen veralteten, protzenden, aufwändigen Luxus aufrechterhalten. Damit versuchten die spanische Monarchie und die mit ihr verbundenen weltlichen und geistlichen Aristokraten „wesensmäßig kapitalistische Arten der Produktion und des Konsums einem antiquierten Feudalsystem unterzuordnen" (Löwenthal 1990: 23). So wurden unter der auf Karl V. folgenden Regentschaft von Philipp II. (von 1556 bis 1598) die wichtigsten Träger von Handel und Gewerbe unterdrückt oder unter der Inquisition getötet, die Kontrolle über die Wirtschaft und die Kolonien wurden allein dem Königshaus unterstellt (Kindler/Hilgemann 2006: 243). Die Stoffherstellung hatte im Spanischen Reich meist in den Händen der gewerblich erfahrenen Mauren gelegen, mit ihrer Vertreibung setzte der endgültige Niedergang der einst blühenden spanischen Gewerke ein (Brost 1984: 100). [<<34||35>>] So war im arabisch beherrschten Süden des heutigen Spaniens und auf Sizilien seit dem elften und zwölften Jahrhundert Baumwolle angebaut, gesponnen und verwoben worden. Aber als die Mauren um 1500 die iberische Halbinsel verlassen mussten, gingen viele Kenntnisse verloren (May/Lege 1999: 69).

    In Spanien richteten die herrschenden Stände den Blick auf die glorreiche Vergangenheit des Reiches, weil in ihrer Gegenwart die Auflösung der alten vertrauten ständischen Ordnungen in der spanischen Gesellschaft schon ersichtlich war. Im von Miguel de Cervantes 1605 veröffentlichten Don Quijote wird genau das verhandelt.¹⁴ Als an sich traurige Gestalt versucht dieser Romanheld, an einen vergangenen Ritterstand anzuknüpfen und ist doch so frei von dieser Vergangenheit, dass er als selbsternannter Ritter aus La Mancha mit Stolz das Scherbecken eines Barbiers als den goldenen Helm des Mambrin zu tragen vermag. Don Quijote mag es übertrieben haben, aber der Rekurs auf die Ritterzeit zeigt sich in der als spanisch bekannten Bekleidung deutlich. So waren zu dieser Zeit noch Brustharnische, d.h. Versatzstücke von Ritterrüstungen, Bestandteil der Bekleidung für Männer der Oberschicht. Diese Rüstungsteile wurden aber schon vermehrt durch gold- und silbern gewirkte (und damit Metallen ähnelnde) Brokatstoffe ersetzt, die bequemer und leichter waren und sich für die Kämpfe auf dem Parkett (oder der Kanzel) besser eigneten als auf dem Schlachtfeld. Die gesteigerte Entfaltung des Luxus, die sich auch in der Bekleidung zeigte, kann als eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden, die den Beginn des Verlustes feudaler Macht einleiteten. In Spanien musste der wirtschaftliche Aufschwung früher oder später ein Ende nehmen, „weil die Produktionsverhältnisse, die den Feudalismus zu ersetzen begannen, nicht Luxus, sondern Fleiß verlangten – ‚Betriebsamkeit‘ in zweierlei Hinsicht: als Charaktereigenschaft und als objektive Gegebenheit von Industriebetrieben." (Löwenthal 1990: 23).

    Auch in der englischen Monarchie wird noch diese feudale rückwärtsgewandte Bekleidung getragen, doch hat längst die Transformation in eine Gesellschaft begonnen, in der Betriebsamkeit gesellschaftlich anerkannt wird. Und damit werden Männer, die betriebsam sind, hier in ihrer Bekleidung anerkannt. Nun werden diese betriebsamen Charaktere bei den deutschen Historikern und Soziologen meist unter den Bürgern gesucht. So schreibt René König von den Stadtbürgern, dass sie diese Spanische Mode akzeptiert hatten, insbesondere in Italien und Süddeutschland, wo die „großen Kaufherren" bald fürstliche Allüren [<<35||36>>] angenommen hätten (1967: 92).¹⁵ Doch hätten tatsächlich die Kaufleute und Bürger einfach die Mode der Aristokratie, also eines antiquierten Feudalsystems übernommen, wäre kaum zu erklären, wieso sich die Männerkleidung gerade in der englischen Gesellschaft verändert hat. Die Akzeptanz der Spanisch genannten Art der Bekleidung wurde weder von allen Kaufleuten und Bürgern noch von allen Aristokraten Europas (oder darüber hinaus) gleichermaßen geteilt. Nur wenn man die Vorstellung von zwei sich bekämpfenden homogenen Gesellschaftsgruppen überwindet, wie sie im etablierten Wahrnehmungsmuster deutscher Geschichtsschreibung vorkommt, kann die Frage der Weiterentwicklung der Männerkleidung befriedigend beantwortet werden.

    Die neuen Händler

    In der Übergangszeit von der Renaissance zur Moderne beschreibt Shakespeare im Merchant of Venice zwei Typen von Kaufleuten, die sich durch unterschiedliches Geschäftsgebaren auszeichnen. Der etablierte ist der Kaufmann von Venedig, der noch auf freundschaftlicher Basis seine Geschäfte führt und seine Schiffe auf eigene Gefahr beladen lässt. Er hilft einem Bekannten mit einem riskanten Geschäft, das ihm nicht nur keinen Profit, sondern vielleicht den eigenen Untergang einbringen kann. Den anderen Typ stellt der merchant Shylock dar, der Geschäfte unabhängig von der persönlichen, der bekannten Beziehung macht, sondern auf seine eigenen interests¹⁶ schaut.¹⁷ Indem Shakespeare [<<36||37>>] ihn einer anderen Religionsgemeinschaft zugehörig sein lässt, zeigt er sehr einfach, aber mit aller Deutlichkeit, dass Shylock, obwohl er in derselben Stadt lebt, nicht unter den sich bekannten, miteinander freundschaftlich verkehrenden Kaufleuten zuhause ist. Er ist ein Fremder, der mit Fremden seine Geschäfte macht. Das verändert die Handelstätigkeiten, denn die sich fremden merchants konzentrierten sich stärker auf eigene interests, wodurch wiederum die Geschäfte mittelbar und unpersönlich, aber profitabler wurden.

    In ganz Europa gab es solche Männer (und Frauen), aber bei den „abenteuerlustigen Individualisten des elisabethanischen England" (Löwenthal 1990: 81) konnte sich diese Betriebsamkeit freier entfalten, wodurch sich die Möglichkeiten zu Geschäften und Profiten erweiterten und sie ihre interests besser durchsetzen konnten. In England waren die Umstände günstig, dass diese neuen merchants akzeptiert wurden. Darum wurde es bei Shakespeare thematisiert, weil sich seine Gesellschaft im Umbruch befand und mit diesen Transformationen auseinandersetzte. Denn die zunehmende Durchsetzung des abstrakteren, unpersönlicheren, also mittelbaren Denkens und Handelns führte zur Loslösung von der Bedarfsdeckung hin zur Bedarfsweckung über die Ausweitung der Betriebsamkeit. Und in England galt die allgemeine Freiheit im Handel mehr als in jedem anderen Land. Es war die Freiheit, ohne Zoll einheimische Waren fast jeder Art in beinahe jedes fremde Land auszuführen, die schrankenlose Freiheit, Waren von einem Landesteil in den anderen zu transportieren, ohne irgendeiner staatlichen Behörde darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, ohne Befragung und Überprüfung unterworfen zu sein. Aber es gehörte auch die gerechte und unparteiische Justizverwaltung dazu, die die Rechte der Untertanen schützte und jeden Erwerb, egal welcher Art, anregte, weil sie dem Einzelnen die Früchte seiner Arbeit sicherte (Smith 2003 [1789]: 513). Diese gesellschaftlichen Verhältnisse in England begünstigten den betriebsamen Typ von Kaufleuten oder besser merchants, darum kam es hier früher als in Spanien zur Ablösung von der ständischen Gesellschaftsordnung. So wurde das antiquierte Feudalsystem der handwerklichen individuellen Produktion und des luxuriösen Konsums, das die spanischen herrschenden Stände noch bevorzugten, zum kapitalistischen System umgebildet.

    Für die Veränderung der englischen Gesellschaft und damit des Bekleidungsverhaltens der Männer, spielte das Begehren nach luxuriösen, teuren, gewichtigen Stoffen eine bedeutende Rolle. Die über den in England unbeschränkten Fernhandel von merchants nach Europa gebrachten Textilien ließen auch die ständische Gesellschaftsordnung durcheinandergeraten. Dieser kommerzielle [<<37||38>>] Handel mit Textilien reichte weit zurück bis in die Zeit des ersten erfolgreichen Kreuzzugs (1095), denn schon die Erfahrungen der Pilger und Kreuzfahrer hatten bei vielen Europäern den Wunsch nach Stoffen und Kleidung aus der Levante hervorgerufen (Snyder 2004: 154).¹⁸ Es waren bis zum 16. Jahrhundert die luxuriösen von der spanischen Aristokratie vor-getragenen Kleidungstücke und das Bedürfnis nach teuren Stoffen aus aller Welt, durch die sich der Handel mit Textilien steigerte, was wiederum die merchants bereicherte.¹⁹ Auch mit Hilfe der betriebsame merchants begünstigenden Gesetze war es unter der Herrschaft von Königin Elisabeth I. (Regierungszeit von 1558–1603) zur Expansion der englischen Seefahrt gekommen, die zu einer erhöhten Einfuhr von Waren aus aller Welt geführt hatte (Schulze-Gävernitz 1892: 76). Das Angebot an Textilien erweiterte sich zu einer noch nicht gekannten Vielfalt an Materialien, Stoffen, Dekoren, das durch neue Techniken des Schneiderns und des Färbens in allen Farben immer größer wurde (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 16). Durch [<<38||39>>] den sich ausweitenden Überseehandel stieg die Bedeutung der merchants an: „The merchants are the eyes, ears and nose of the trade." (Farnie 2004: 30). Die im Fernhandel tätigen merchants brachten vermehrt begehrte, aus dem Rahmen der eigenen Produktionsgrenzen fallende Waren in die Städte und sprengten die vorhandenen Einzelwirtschaften, die nur in geringer Weise durch Tausch und Handel miteinander verknüpft waren (Sombart 1913).

    Und diese Produktionsgrenzen hatte es auch für die englischen Textilgewerbe gegeben: „Was der einzelnen Wirtschaft an Gütern zukommt, bestimmt Sitte und Recht, insbesondere der Stand, in dem der Träger der Wirtschaft geboren ist." (Schulze-Gävernitz 1892: 31). Seit dem Hochmittelalter verlagerte sich in Europa die Herstellung von Stoffen aus Wolle oder anderen Textilien in die Städte. Damit wurde die Stoffproduktion vom überwiegend privaten in den allgemeinen öffentlichen Bereich getragen, wo die Herstellung von Gütern an eine rechtlich anerkannte Stellung im handwerklichen Gewerbe gebunden war. Aufgrund überlieferter Ordnungen sollte für ein auskömmliches Dasein der in Gilden oder Zünften organisierten Mitglieder gesorgt werden. Auch wenn die Bestimmung nicht einfach ist, lässt sich zumindest zeigen, dass in Nordwest-Europa die Männer bei dieser Arbeit prominent wurden und die Frauen aus dem Herstellungsbereich verdrängten. In England zumindest arbeiteten die meisten in Gilden zusammengeschlossenen Männer in der lukrativen Wollweberei. Schlussendlich waren die Gilden so erfolgreich bei der Etablierung der Monopole, dass sie nicht mehr nur Frauen ausschlossen, sondern auch ihren Nachwuchs bei den Söhnen der Gildenmitglieder rekrutierten (Karras 2004: 93 ff.).²⁰ Im ständischen Textilgewerbe, hier vor allem bei der Woll- und Leinenstoffherstellung, bedeutete dies eine Monopolstellung für die Verleger (wie die Organisatoren und Verbindungsmänner in der Textilproduktionskette hießen). Durch die Stellung als regionale Monopolisten wurde einerseits eine Konkurrenz unter den Verlegern verhindert. Andererseits waren sie dadurch aber gezwungen, von den ihnen unterstellten Spinnerinnen und Webern alle in Auftrag gegebenen Stoffe, d.h. die gesamte gearbeitete Ware, abzukaufen. Damit mussten [<<39||40>>] die unterschiedlichen individuell besser oder schlechter gearbeiteten Produkte mit ihren Unregelmäßigkeiten und Fehlern im gewobenen Stoff abgenommen werden. Reglementierungen bestimmten die Anzahl an Handwerkern und Webstühlen, es gab feste Preise und Verkaufsmaxima; Produktion und Profit waren insgesamt begrenzt. Durch die festgelegten Limitierungen, die Abweichungen unter Strafe stellten, fehlten Anreize zu Verbesserungen in der Herstellungsweise und damit zum technischen Fortschritt (Schulze-Gävernitz 1892: 35).

    Das mit dem Fernhandel steigende Angebot an fremden Waren brachte eine unerwünschte Konkurrenz, wenn diese nicht über einen höheren Konsum ausgeglichen wurde. Mit den von merchants verstärkt eingeführten Waren wurden die ständischen Gesellschaften auch noch dadurch belastet, dass in den von ihnen belieferten Regionen Kauflust und demonstratives Zurschaustellen von Reichtum auch in anderen als der aristokratischen Gesellschaftsschicht geweckt wurden. Es gab in vielen Städten Bekleidungsregeln, die dadurch häufig unterlaufen wurden.

    Diese Bekleidungsregeln unterschieden sich. Es gab Regeln, die die Zugehörigkeit zu bestimmten Gesellschaftsgruppen erkennbar machen sollten: Adel, Klerus oder Bauernschaft und noch wichtiger vor allem Randgruppen wie die Juden, Dirnen und Bettler, die zu bestimmter Kleidung gezwungen wurden. Welchem Familienstand Frauen angehörten, konnte auch streng geregelt sein: Ob Ehe-, Jungfrau oder Witwe, das musste sich in der Kleidung unbedingt ausdrücken (Reich 2005: 172). Und es konnte nach Vermögen, den machtpolitischen Möglichkeiten sowie der Berufszugehörigkeit (z.B. der Zunft- oder Gildenzugehörigkeit) zugeordnet werden (Reich 2005: 175). Diese Bestimmungen stellten unter Strafe, wenn bestimmte Kleidungsstücke nicht getragen wurden oder Markierungen an der Bekleidung fehlten.²¹

    [<<40||41>>] Aber es gab auch Kleiderordnungen, die detaillierter waren und beispielsweise das Tragen bestimmter Stoffe oder Farben verboten (Snyder 2004: 154).²² Nach gängiger Ansicht in der Modeliteratur sollte hier verhindert werden, dass reiche Bürger die höfischen Moden, d.h. die Kleidung der Aristokratie, nachahmten, der Vorgang, durch den sich ein modischer Wettstreit zwischen Bürgertum und Adel entwickelt habe (König 1967: 90). Um die Bürger an der Nachahmung zu hindern, hätten erst die staatlichen und kirchlichen, dann auch die städtischen Obrigkeiten mit genauen Vorschriften zügelnd und lenkend einzugreifen gesucht (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 20). Wie aber neuere Untersuchungen zeigen, sollte durch diese Kleiderordnungen vor allem der Aufwand, den der Einzelne in Bezug auf Kleidung leisten durfte, geregelt werden. Das spricht weniger dafür, dass es bei den Reglementierungen darum ging, den reichen Bürgern die Anpassung an das Bekleidungsverhalten des Adels zu verbieten (Reich 2005: 172 ff.). Vielmehr waren es Versuche, mit diesen Ordnungen allgemein einen sich ausbreitenden Konsum einzudämmen. Mögen die Motive für diese Begrenzungen und Kontrollen im Konkreten vielfältig gewesen sein, lagen doch meistens auch ökonomische Gründe vor, um die Ausgaben einzelner Bürger zu beschränken: aus Angst vor der Verknappung von Edelmetallen oder Münzen, aber auch in dem Versuch, die Bürger vor dem eigenen Bankrott durch Verschuldung zu bewahren.

    As Kovesi Killerby observes, the absence of laws before the thirteenth century can be simply explained by the absence of large, organized groups of consumers. [...] The laws are a way of coping with a new social reality, that of constant desire for consumption. The emergence of these laws in the thirteenth century marks the emergence of a society beginning to organize itself to make constant consumption a possibility: by producing and importing a constant supply of available goods, by seeking to create available personal spending money, and by engaging in discourses that signaled what – and what not – to consume, (Heller 2004: 130 f).²³

    [<<41||42>>] Wer aber gehörte zu den neuen Konsumenten, die sich in der Ständegesellschaft die luxuriösen Waren leisten konnten? Wahrscheinlich waren einige Handwerker wie Goldschmiede oder reiche Färber darunter, die sich über die Zunftgesetze hinwegsetzen konnten. Größtenteils werden sie jedoch anfangs aus der Gruppe der in ihrer Gegend etablierten Kaufleute und reichen Stadtbürger gekommen sein, wie es der Soziologe René König für die großen Kaufherren mit den fürstlichen Allüren in den reichen Handelsstädten beschreibt (1967: 92). Durch den sich ausbreitenden Konsum von mehr und neuen Waren wurden aber vor allem die nicht etablierten Kaufleute, die merchants, begünstigt, jene, die den Handel ausweiteten, um ihren eigenen interests nachzugehen, um Profite zu machen. Und mehr und mehr merchants schienen in die starren und veralteten gesellschaftlichen Ordnungen, die sich über die Standeszugehörigkeit bildeten, nicht hineinzugehören. Gerade weil sich den Kaufleuten und Großhändlern durch diese Freiheiten mehr als anderen Gesellschaftsgruppen, wie die im 16. Jahrhundert qua Geburt in eine Zunft oder Gilde eingebundenen Handwerker, Verleger oder die Aristokraten, die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Auf-, oder Abstiegs anboten, gingen seit der Zeit der Renaissance die überlieferten Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten immer mehr verloren. So kam es einerseits zur Ausweitung des Konsums, weil einige Männer sie sich durch steigende Gewinne leisten konnten. Aber sicher auch dadurch, dass diese merchants, als potentielle Fremde, es eher gewagt haben, dies auch in der Bekleidung auszudrücken. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche konnten vielleicht gerade diese Fremden, wie das auch für spätere Zeiten zu gelten scheint, in der prächtigen Kleidung versucht haben, unter den veralteten gesellschaftlichen Verhältnissen gesellschaftliche Anerkennung der länger ansässigen Einwohner zu gewinnen. Dann hätten etablierte Stadtbürger und Kaufleute zu den eigentlichen Wetteiferern und Antreibern des Luxuskonsums werden können (König 1967: 92), gerade weil ihre etablierte Machtstellung – ähnlich wie bei den herrschenden Aristokraten in Spanien – nicht mehr nach ständischer Ordnung unhinterfragt bestand. In der sich transformierenden Gesellschaftsordnung, in der nichts an sich galt, fingen andere Gesellschaftsgruppen an, diese neu zu bestimmen. [<<42||43>>]

    Gewobener Wind: Die neuen Stoffe

    Da sich letzendlich nicht die Spanische Mode, sondern die englische Bekleidung durchsetzte, muss auch eine andere Erklärung dafür gefunden werden. In der Modeliteratur werden häufig gerade für die differente Entwicklung von Männerkleidung im England des 16. Jahrhunderts, eine Zeit, in der sich die göttlich ständische Ordnung der Gesellschaft aufzulösen begann, religiöse Gründe angeführt; vor allem wegen der englischen Protestanten habe sich die Männerkleidung verändert. Die in England herrschenden reformatorischen Kräfte hätten sich nicht nur politisch gegen die spanische Vorherrschaft des Katholizismus aufgelehnt, sondern dies auch in ihrer Kleidung auszudrücken versucht (König 1962: 108 ff., König 1967: 111). Während die aristokratischen Kleidungsstile vorwiegend Prachtentfaltung und die damit verbundene Ehre, das Gewichtige im Äußeren ausdrückten (was auch die gegenreformistische Prachtentfaltung der katholischen Kirchen widerspiegelte), sollen sich die Puritaner von dieser Vorstellung losgesagt haben, um sich abzugrenzen und die innere Verfasstheit des Individuums in den Mittelpunkt zu stellen. Abgeleitet vom Wort Puritaner wird resümiert, dass auch ihre Kleidung pur, d.h. schlicht und einfach, gewesen sein soll, dabei wird vor allem auf ihre Farbwahl verwiesen. Schwarze Kleidung, wie sie Protestanten bevorzugt getragen haben sollen, habe sich für die Männerkleidung insgesamt durchgesetzt (König 1662: 110, Brenninkmeyer 1962: 137). Gleichzeitig wird allerdings argumentiert, dass der Katholik Philipp II. von Spanien Einfluss auf die schwarze Bekleidung gehabt haben soll, womit René König seine Argumentation der sich durchsetzenden spanischen Mode für die Farbwahl weiterführt.

    Das Merkwürdigste aber ist, daß der große Gegenspieler der spanischen Monarchie, der Protestantismus, in dieser Hinsicht wenigstens seinem Todfeind getreulich folgt, wie auch mitten im Kriege spanische Moden nach England und in die aufständischen Niederlande wandern. (König 1967: 109).

    Doch kann weder der Einfluss der englischen Puritaner noch der des katholischen Königs bestätigt werden, weil vom 16. bis ins 18. Jahrhundert die Farben für Bekleidung der herrschenden Stände weniger bunt und gedeckter waren, aber nicht einfarbig schwarz. Einfache Kleidung aus Leinen- oder Wollstoffen war braun gewesen und wenn z.B. in Testamenten andere Kleidung erwähnt wurde, so war es weiße, manchmal schwarze oder rote und in einer überraschend hohen [<<43||44>>] Zahl auch violette Kleidung.²⁴ Vor allem diese violetten Kleidungsstücke wurden im frühen 16. Jahrhundert, wie aus Testamenten hervorgeht, meist an die nächsten engen Verwandten vererbt (Ashley 2004: 140 f.). Aus der Perspektive der einfachen Leute betrachtet, war die Kleidung durchaus bunt, auch wenn die vorherige Bekleidung der Aristokraten bunter und bestickter, glänzender und noch farbenfroher gewesen war. Die allgemeine Durchsetzung von Schwarz für die Männerkleidung ist erst eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts und zu dieser Zeit keinen religiösen Einflüssen zu verdanken (siehe dazu Kapitel 3.1). Was sich ab dem 16. Jahrhundert vor allem veränderte waren der Schnitt und die Stoffqualitäten. Und diese Entwicklung wurde vor allem durch den Krieg in den Niederlanden und die damit einhergehende Emigration nach England angetrieben. Die niederländische Emigration aber war keinesweg vorwiegend religiös bedingt, sondern auch ökonomisch.

    Man hat sich angewöhnt, solche Wanderungsbewegungen vor allem als Ausfluß religiös-konfessioneller Verfolgung zu sehen (so der Hugenotten in Frankreich, der Griechen im ottomanischen Reich und der Juden in verschiedenen Staaten). Dies ist jedoch nur ein Aspekt. Unternehmungsgeist und Kapital sind mobil und werden sich, wenn die politischen Bedingungen dies erlauben, zu den Standorten bewegen, die die besten Gewinne versprechen. (Chapman 1992: 134).

    Aber nicht nur die politischen Bedingungen mussten es erlauben, auch gesellschaftliche Akzeptanz war nötig: Oft waren merchants weniger etabliert, als sie dachten, und gezwungen zu fliehen, weil sie vertrieben wurden. Im für sie günstigsten Fall konnten diese Migranten neben Kenntnissen und Verbindungen auch ihr Kapital mitnehmen und an anderen Orten neue Handelsstätten aufbauen oder das Kapital in nicht etablierten Produktionszweigen investieren. [<<44||45>>] Es waren solche Fremden, die damals nach Manchester in England kamen. Wo bisher traditionell vor allem Wolle verarbeitet wurde, brachten sie Kenntnisse in der Baumwollstoffproduktion hierher, mit der die Industrialisierung Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nehmen sollte. Diese Baumwollstoffproduktion ist in dieser Region so wichtig für die Entwicklung der Bekleidung, dass sie hier genauer beschrieben werden muss.

    Insgesamt gab es in Europa im 16. Jahrhundert nur wenige Produktionszentren für die Verarbeitung von Baumwolle, denn die Rohstoffbeschaffung war teuer und die Handelswege mühsam. Daher waren die großen Fernhandelsstädte meist auch die Orte, an denen Baumwollstoffe gewoben wurden. Antwerpen war, neben Rotterdam, in dieser Zeit die Drehscheibe des Handels, in beiden Städten zusammen wurden rund 50 % der Welthandelsgüter umgeschlagen (Kindler/Hilgemann 2006: 245).²⁵ Hier wurden nicht nur fertige Stoffe aus Indien oder Ägypten gehandelt, sondern auch Rohbaumwolle für die Herstellung von Baumwollstoffen eingeführt (Schulze-Gävernitz 1892: 25). Als das reiche Antwerpen im Jahr 1585 vom Herzog von Alba während der holländischen Unabhängigkeitskriege zerstört wurde, flüchteten viele Bewohner in andere Teile Europas.²⁶ Einige der nach England vertriebenen merchants siedelten im Gebiet Lancashire, vor allem in Manchester, in dem damals schon die Wollweberei ein großes Zentrum besaß.²⁷ Es war eine Gegend, die für die Agrarwirtschaft ungeeignet war, aber sich wegen der geografischen Bedingungen [Flüsse, weil man für die Herstellung von Textilien viel Wasser braucht] für die Produktion [<<45||46>>] von Stoffen auszeichnete (Schulze-Gävernitz 1892: 32). Hierher kamen die Antwerpener merchants als Fremde und brachten, neben den nötigen Kenntnissen über den Handel mit dem Rohstoff Baumwolle, auch die dafür notwendigen Produktionskenntnisse mit. Diese Migranten stammten aus einer der bis dahin wirtschaftlich höchstentwickelten Regionen Europas, sie verfügten über Kapital, gute ökonomische Kenntnisse und handwerkliche Fertigkeiten.

    Auf dem europäischen Festland war es auch in den schon seit langem Baumwolle verarbeitenden Regionen zur Entstehung von Gilden gekommen und das Recht, Baumwolle zu weben, wurde an die Mitgliedschaft in einer Zunft geknüpft (Schulze-Gävernitz 1892: 34). In England hatte sich nur die Wollindustrie etabliert und war ähnlichen einschränkenden Regelungen und Auflagen unterworfen wie auf dem Kontinent. Daher stand die Baumwollindustrie den Flüchtlingen als neues Gewerbe offen. Im Gebiet Lancashire beruhte die weitere Entwicklung der Textilherstellung im 16. und 17. Jahrhundert auf der relativen Abwesenheit einer restriktiven Gesetzgebung. Gerade in jenen Distrikten, die keinen Gesetzen für die Weberei unterworfen waren, setzte die Expansion der Textilgewerbe ein (Rose 1992: 150, auch schon Daniels 1920: 20 ff.). Weil in diesem Gewerbe keine ältere rechtliche Ordnung bestand, wie sie in anderen Baumwolle verarbeitenden Gebieten Europas die Produktion beschränkte, konnte sich hier der Umschwung aus der älteren Gewerbeordnung vollziehen. Da diese nicht von in Zünften eingebundenen Handwerkern besetzt war, konnten sich die Fremden durchsetzen, auch wenn die Wollindustrie anfangs vom Parlament noch bevorzugt wurde (Schulze-Gävernitz 1892: 34 f.).²⁸

    Die großen Handelsstädte waren immer auch Hauptproduktionsstätten für Baumwollstoffe in Europa gewesen, doch konnte durch den sich ausweitenden Fernhandel in England Baumwolle jetzt leichter beschafft und von London aus billig nach Manchester transportiert werden. Die Handelsbeziehungen von Manchester über Liverpool nach London waren gut ausgebaut, über London wurden schon lange Wollstoffe nach ganz Europa exportiert (Beckert 2014: 7 ff., Schulze-Gävernitz 1892: 25). Von Londons Hafen aus, im 16. Jahrhundert einer [<<46||47>>] der größten Europas, war der früheste englische Baumwollhandel organisiert worden (Chapman 1992: 135). Anfangs war die Einfuhr des Rohstoffs Baumwolle nach England mit hohen Zöllen belegt, doch die expandierende Monarchie brauchte für die Entlohnung ihrer Beamten und Soldaten Geld und begann schon bald, auch den Handel mit Baumwolle zu fördern (Schulze-Gävernitz 1892: 32 ff.), so dass Rohbaumwolle immer billiger eingeführt werden konnte (Pope 1970 [1905]: 2). Da die ständische Gesellschaftsordnung durch den sich ausweitenden Welthandel schon im Umbruch war und da dieser den Wohlstand zu mehren schien, wurden dem Handel mit Baumwolle und der nicht zünftisch organisierten Warenproduktion bei Baumwollstoffen wenige Einschränkungen entgegengesetzt.

    Die neuen Produzenten von Baumwollstoffen waren vielleicht in Antwerpen etablierte Stadtbürger und Kaufleute gewesen, in Manchester aber weder etablierte Bürger noch Städter, denn Manchester war immer noch ein ländliches Gebiet. Nein, diese Migranten schienen in die starre und veraltete gesellschaftliche Ordnung der Standeszugehörigkeit nicht hineinzugehören und mussten, da sich die englische Gesellschaft insgesamt schon veränderte, die Zugehörigkeit auch nicht mehr erzwingen. Dass die Antwerpener Migranten Calvinisten waren, um noch einmal auf das gerne gebrauchte Argument der religiösen Zugehörigkeit zurückzukommen, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auch wenn gesellschaftliche Kämpfe häufig als Religionskämpfe geführt wurden, ging es doch immer um Anerkennung und Akzeptanz in der Gesellschaft. Zuviel Bedeutung sollte daher den religiösen Einflüssen der Protestanten an der weiteren Entwicklung im 17. Jahrhundert für die sich verändernde Männerkleidung in England nicht beigemessen werden.

    Wie auf der zeitgenössischen englischen Karikatur (siehe dazu Abbildung 2) gut zu erkennen ist, war die Kleidung der Puritaner nur in Details verschieden von der ihrer Gegner. Eine ersichtlich andere oder auffällige Neuerung der englischen Puritaner waren ihre kurz geschnittenen Haare, die im deutlichen Kontrast zu den langen Locken und Perücken standen, die standesgemäß am Hof von Charles I., dem auf Elisabeth I. folgenden englischen Regenten, getragen wurden. Daher kam der Ende 1641 entstandene spöttische Ausdruck Roundhead, unter dem die englischen Puritaner, mit ihrem berühmtesten Vertreter Oliver Cromwell (1599–1658), bekannt

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