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Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte: Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930)
Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte: Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930)
Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte: Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930)
eBook862 Seiten8 Stunden

Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte: Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930)

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Über dieses E-Book

Der Band untersucht den Ausbau- und Standardisierungsprozess der neugriechischen Schriftsprache zwischen 1780 und 1930. Im Vordergrund stehen dabei die Diglossie-Verhältnisse, u.a. die systemischen und funktionalen Differenzen zwischen zwei Sprachvarianten (High und Low), sowie die Sprachideologie. Beide prägten im Zuge einer kulturell-ideologischen Fixierung der griechischen Gesellschaft auf der H-Variante das allgemeine Sprachverhalten. Die Diglossie als ideologisches Konstrukt erlangte erst nach der Staatsgründung von 1830 an Bedeutung, sodass der daraus entstandene Sprachenstreit den Standardisierungsprozess letztlich destabilisierte und verzögerte.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum3. Apr. 2016
ISBN9783412506315
Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte: Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930)

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    Buchvorschau

    Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte - Christos Karvounis

    1Sprachliche Emanzipation, Standardisierung und Nationalsprachen

    1.1Das westeuropäische Vorbild

    Unter sprachlicher Emanzipation⁴ ist im europäischen⁵ Kulturraum die soziolinguistische Loslösung einer (zunächst „primär mündlichen oder als solche stigmatisierten) Varietät/Sprache von einer sozial „übergeordneten und dominanten, verwandten oder nicht, (Schrift)Sprache zu verstehen. Diese Loslösung ging meistens mit dem Etablierungsprozess der ersteren Varietät, welche im Laufe der Zeit einen soziolinguistisch äquivalenten Status erlangte und die dominante (Schrift)Sprache schließlich in sämtlichen Domänen ersetzte, einher. Bei den dominanten Sprachen handelte es sich zunächst vor allem um Latein und Altgriechisch, die für lange Zeit als prototypische bzw. als einzige (europäische) „Vollsprachen" galten, wobei in der Slavia das Altkirchenslawisch eine mehr oder weniger vergleichbare Rolle einnahm und später einige dieser etablierten Varietäten, wie etwa Französisch, Italienisch oder Deutsch, selbst als dominante Kultursprachen gegenüber anderen Varietäten fungierten. Der Begriff der sprachlichen Emanzipation stellt somit einen langwierigen und vielschichtigen Prozess der funktionalen Verteilung, des funktionalen Synkretismus, der sprachlichen Interferenz und der sprachideologischen Wertekonflikte dar; einen Prozess, der das Sprachbewusstsein der westeuropäischen Landschaft vom Hochmittelalter bis etwa dem 17. Jh. geprägt hat.

    Sprachliche Standardisierung ist ein weit gefasstes Konzept, das im Kontext der Sprachplanung vor allem den Entwicklungsprozess einer (bestimmten) regionalen [<<15||16>>] Varietät zur dominanten bzw. Standardsprache beschreibt.⁶ In E. Haugens Matrix⁷ lässt sich dieser Prozess in vier Phasen einteilen: Auswahl (norm selection), Kodifizierung (codification), Ausbau (elaboration) und Akzeptanz oder Aus- bzw. Durchführung (acceptance/implementation), deren zeitliche Abfolge variieren kann und sozial sowie linguistisch bedingt ist. Da die sog. sekundären Dialekte (Entwicklungsrichtung: Standardsprache > Varietäten/Dialekte) eine überregionale bzw. Standardsprache voraussetzen, ist für die Zeit vor der sprachlichen Standardisierung und/oder der Bildung eines Nationalstaats vorwiegend oder ausschließlich mit primären Varietäten zu rechnen (Entwicklungsrichtung: Varietäten > Standardsprache), die zunächst soziolinguistisch weitgehend gleichwertig waren und miteinander konkurrierten. Hier drängt sich die Frage auf, wie sich aus diesem Kontext der sprachlichen Diversität und der funktionalen Äquivalenz heraus eine bestimmte Varietät durchsetzte und [<<16||17>>] es schließlich zur nationalen Monoglossie kam.⁸ Sowohl M. Weinreichs Definition „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine" als auch Haugens Matrix durchzieht der Leitgedanke, dass die sprachliche Standardisierung bestimmten soziopolitischen Entscheidungen und Aktionen unterliege, so dass nicht nur die sozialen (Auswahl, Akzeptanz/Durchführung), sondern auch die sprachlichen Phasen (Kodifizierung, Ausbau) und somit der gesamte Sprachplanungs- und Standardisierungsprozess (sprach)ideologisch motiviert sein können/kann.

    Nationalsprache ist ein unscharfer Begriff, der die Komplexität des Konzeptes Nation auf eine soziolinguistische Ebene überträgt.⁹ Insbesondere im europäischen Sprach- und Kulturraum legt der Begriff Nationalsprache die Vorstellung nahe, einer Nation sei eine „dazugehörige (National)Sprache zuzuordnen. Diese Zuordnung wurde vor allem im 19. Jh. als eine naturgegebene Ordnung, die zur Vorstellung von sprachlicher Homogenität und Exklusivität führte, verstanden. Im Kontext eines sprachlich-nationalen Homogenisierungsprozesses wurde somit die sprachliche Diversität, vom Grad des linguistischen Abstands zwischen der Nationalsprache und den „anderen Varietäten unabhängig, als eine mit dem Konzept Nation im besten Fall „unkonforme" Situation erachtet.

    Sprachliche Emanzipation, Standardisierung und sprachlicher Nationalisierungsprozess bezeichnen zum einen unterschiedliche Prozesse bzw. Größen, stellen aber zum anderen, gerade im europäischen Kulturraum, Bestandteile eines in vielen Fällen kontinuierlichen Prozesses dar, während dessen sich aus regionalen und primär mündlichen Varietäten mehrheitlich illiteraler Sprachgemeinschaften überregionale und elaborierte Schriftsprachen mit nationaler Identifikationsdynamik herausgebildet haben.

    Im Kontext dieses mehr oder weniger kontinuierlichen Prozesses gilt es hier, soziolinguistische Konvergenzen im westeuropäischen Sprach- und Kulturraum hervorzuheben und dann diesen Konvergenzen die entsprechende Entwicklung des (Neu)Griechischen gegenüberzustellen. Im Fall von „europäischen" Konvergenzen ist allerdings auch die Polysemie oder die Konstruktion des Begriffs Europa bzw. europäischer Sprach- und Kulturraum zu beachten, zumal dieser auf unterschiedliche, z. B. geographische, historische, [<<17||18>>] sprachliche oder kulturelle Weise ausgelegt werden kann. Die grundlegende Trennung zwischen West- und Osteuropa ist historisch und soziopolitisch zwar gerechtfertigt, aber vor allem „Osteuropa" erscheint als ein heterogenes Gebilde, das als soziopolitische Einheit der entsprechenden Entwicklung der letzten 500 Jahre kaum gerecht wird. In diesem Sinne ist Tornows Ausführungen zu Osteuropa grundsätzlich beizupflichten,¹⁰ der der Frage nach dem (räumlich-kulturellen) Ende Osteuropas nachgeht und auf die Verschiebung der kulturellen bzw. soziopolitischen Grenzen aufmerksam macht. Danach seien die unterschiedlichen Binnengrenzen zu beachten, die auf folgende vier Teilräume schließen: Westeuropa („Kerneuropa", d. h. Frankenreich, England, Skandinavien, Italien, Hispanien; östlichste Sprachen: Slowenisch, Deutsch, Finnisch), Ostmitteleuropa (Sprachen: Kroatisch, Ungarisch, Slowakisch, Tschechisch, Polnisch, Litauisch, Lettisch, Estnisch), Osteuropa (Sprachen: Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Rumänisch, Serbisch) und Südosteuropa (Albanisch, Bulgarisch, Griechisch, Türkisch, Azeri, Armenisch, Georgisch, Tatarisch).¹¹ Auch wenn die sprachlichen mit den soziopolitischen und kulturellen Grenzen in Tornows Ausführungen nicht immer übereinzustimmen scheinen – es ist beispielsweise fraglich, ob man das Serbische und vor allem das Rumänische von Südosteuropa trennen kann, nicht nur aufgrund der soziopolitischen Entwicklung unter dem Osmanischen Reich und der Zugehörigkeit zum orthodoxen Millet bzw. zum Patriarchat, sondern auch allein aufgrund der Einflusssphäre der Phanarioten und der Bildungsimpulse, die die neugriechische Aufklärung hier gegeben hat –, ist die Trennung Ost- : Südosteuropa vor allem dann sinnvoll, wenn der Fokus auf Ost- und Südosteuropa gerichtet wird.

    Die Vorstellung von der kulturellen Einheit Europas, sollte sich diese vorwiegend auf der christlichen Identität und dem griechisch-römischen Kulturerbe gründen, ist zwar gerechtfertigt, aber man sollte dennoch beachten, dass selbst die griechisch-römische Antike als einheitliches Kulturerbe ein neuzeitliches Konzept ist, zumal diese vermeintliche Einheit bereits in der Antike eine Idealisierung römischer Denker darstellte. Die Vorstellung von einer westeuropäischen Kultur, die die griechische Antike linear fortsetze und in Homer den ersten „Dichter des Abendlandes finde, erinnert jedenfalls an „erschaffene Traditionen, wenn man bedenkt, dass gerade altgriechische Sprache und Literatur frühestens im 14. Jh. (z. B. mit M. Chrysoloras), aber hauptsächlich ab dem 15. Jh. (durch byzantinische Gelehrte in der Diaspora) in Westeuropa weitgehend bekannt wurden und eine Gräzistik-Tradition begründeten, so dass man hier eher von einer Diskontinuität ausgehen sollte.¹² Der Wettstreit, welche der westeuropäischen Sprachen [<<18||19>>] dem Griechischen sprachlich-kulturell am nächsten stehe bzw. dieses am würdigsten fortsetze – man beachte unter anderem die Übersetzung und Rezeption altgriechischer Literatur¹³ –, lässt somit die Vorstellung von einer entsprechenden Translatio studii als ein Konzept des gewünschten Selbstverständnisses verstehen. Wenn also an entsprechender Stelle von der Ideologisierung der klassischen Antike und des Altgriechischen in den bürgerlichen griechischsprachigen Eliten zur Zeit der neugriechischen Aufklärung oder im historischen und kulturellen Selbstverständnis des griechischen Nationalstaats die Rede sein wird, sollte bereits hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Vorstellung von einer kulturellen Fortsetzung der griechischen Antike oder der Anspruch auf kulturelle „Exklusivität" kein Konzept der neugriechischen Aufklärung oder des Sprach- bzw. Kulturnationalismus des griechischen Staats waren, sondern auf eine westeuropäische Tradition zurückgehen, die im Rahmen des griechischen Nationalstaats eine entsprechende Dynamik und Form annahmen.

    Zu berücksichtigen ist außerdem noch der Umstand, dass Europa als kulturelle Größe bzw. als Selbstdefinition einer höheren Kultur mit einheitlichen Zügen vorwiegend das sog. „lateinische" Europa erfasste und sich in dieser Form im Wesentlichen dann auch auf Westeuropa beschränkte.¹⁴ In diesem Sinne ist dieses (west)europäische Wir-Gefühl weniger die lineare Fortsetzung der griechisch-römischen Antike, sondern eben deren Rezeption. Die christianitas, die die wesentliche Identitätskonstante im europäischen Mittelalter darstellte, wurde in der Neuzeit zunehmend in Frage gestellt, so dass sowohl die Infragestellung der religiösen, sozialen und politischen Ordnung als auch die Neudefinition des Menschen als würdevolles Individuum die christliche Identität mehr oder weniger ablösten und eine europäische Identität überhaupt erst schufen. In diesem Sinne ist Burkes leicht provokative Titelfrage „Did Europe exist before 1700?"¹⁵ nachvollziehbar,¹⁶ weil schließlich jene kulturelle Eigenschaften, die (West)Europa unter anderem auszeichnen, z. B. die Rezeption des römisch-griechischen Erbes und der kreative Umgang damit, der Sieg der Wissenschaft über die Religion und die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften, die Infragestellung religiöser Anweisungen für soziale Belange, die Neudefinition des Verhältnisses zwischen Staat und Religion bzw. Kirche, die Grundlegung des Rechtsstaats, der Liberalismus, die Verbreitung der Literalität, die Hochschätzung von Bildung und Kunst usw., eben in der Zeit nach der Renaissance ihre eigentliche Form annahmen und erst im 17. Jh. ein europäisches [<<19||20>>] Wir-Bewusstsein als wertende Größe und als „überlegene" Kultur konstituierten.¹⁷ Die Vorstellung, Europa sei eine konstante und kontinuierliche kulturelle Größe von der Antike bis zur Gegenwart, erinnert somit an die Konstruktion nationaler Identitäten und Kontinuitäten, obwohl auch hier der Kern dieser Idealisierung – um an Anthony Smiths Beitrag zu denken¹⁸ – ein durchaus realer gewesen sein dürfte.

    Europäische Konvergenzen sollen also hier nicht die Vorstellung einer sprachlich-kulturellen Kontinuität oder womöglich linearen Identität nahelegen, sondern vor allem einen sprachlichen Habitus, der sich im Wesentlichen zum einen aus der soziolinguistischen Dominanz des Lateinischen bzw. des Altgriechischen, zum anderen aus der „Haltung mehrerer Sprachgemeinschaften auf der Mikro- sowie der Makroebene zu diesem sprachlich-kulturellen Erbe resultierte. Dieses sprachliche Erbe wurde lange vor der Ideologisierung und Mythisierung der eigenen Varietät de facto rezipiert, unter anderem durch die Kirchensprache und die weitgehende „Christianisierung der lexikalischen Ebene; oder beim Versuch, die jeweilige regionale bzw. volkssprachliche Varietät in der Domäne Wissenschaft als Schriftsprache zu verwenden, d. h. mittels eines korpusorientierten bzw. intensiven Ausbauprozesses,¹⁹ der auf der Ebene der Pragmatik zunächst wenig oder kaum sprachideologische Züge enthielt, sondern eher kommunikativen und sozialen (Ausbau)Bedürfnissen entsprang. Ein westeuropäischer Ansatz ist hier unverkennbar, so dass man auch von einem mehr oder weniger einheitlichen oder zumindest vergleichbaren Prozess ausgehen kann.²⁰ Das soziolinguistische Prestige, welches vor allem Latein im westlichen Mittelalter besaß, resultierte aus verschiedenen Aspekten, wie etwa dem korpusorientierten Ausbau, der Schriftlichkeit, der literarischen Tradition, der religiösen Bedeutung, dessen Verwendung als Fach- und Wissenschaftssprache sowie als intereuropäische Kommunikationssprache.²¹ Für das westliche Mittelalter war Latein der Inbegriff der Sprache und der Bildung, während die anderen „gesprochenen" Sprachen, die laut zeitgenössischer Auffassung keinen Regeln [<<20||21>>] unterlagen, lediglich als Sprachen der anspruchslosen, alltäglichen Kommunikation galten. In diesem Sinne kam dem Lateinischen auch eine soziale Bedeutung zu, weil die Exklusivität der Lateinkenntnisse das strikt vertikale soziale Schichtverhältnis der Zeit auch sprachlich untermauerte.²²

    Die große soziolinguistische Kluft zwischen Latein und zunächst sämtlichen regionalen volkssprachlichen Varietäten stellte allerdings an sich ein weiteres gemeinsames Merkmal der westeuropäischen Sprachlandschaft, das im Laufe der Zeit zu weiteren gravierenden Konvergenzen führte, dar. Hier ist eine zwischen dem 9. und 12. Jh. festzustellende Welle volkssprachlicher Schriftlichkeit auf westeuropäischem Boden zu nennen, die sowohl die sog. pragmatische als auch eine rein literarische Schriftlichkeit betraf.²³ Neben kleineren, christlichen Texten, handelte es sich meistens einerseits um eine mündlich überlieferte Literaturtradition von Heldenepik, deren Niederschrift sekundär war, andererseits um höfische Versromane. Beide Textformen scheinen auf das verstärkte (Selbst)Bewusstsein einer sozialen Schicht und deren Untergebenen bzw. Umgebenden hinzudeuten, die die eigene Nähesprache in den Vordergrund stellen und die Latinität des hohen Klerus bzw. des früheren Adels marginalisieren wollte. Vielleicht verfolgte man damit die Absicht, die eigene soziopolitische Stellung zu stärken, indem man den kulturellen Primat des Lateinischen und deren Befürworter in Frage stellte; vielleicht resultierte aber diese Haltung aus einer rein pragmatischen Notwendigkeit heraus, eine Sprache verwenden zu wollen, die man auch gut verstand. Letzteres könnte insbesondere im Kontext öffentlicher Feierlichkeiten, die das Zusammengehörigkeitsgefühl und vor allem das Herrscherbild bzw. das Selbstverständnis des (niederen?) Adels stärkten und prägten, von Bedeutung gewesen sein. Dieser erste Aufschwung der volkssprachlichen Schriftlichkeit scheint also neben rein praktischen Bedürfnissen auch darin begründet zu sein, dass zunehmend die Sprache mit der Herausbildung einer Gruppenidentität und der Selbstverherrlichung einer sozialen Schicht bzw. bestimmter Tugenden einherging. In diesem Sinne sollte man dem Verhältnis zwischen Macht (oder zumindest Prestige) und Sprache weit größere Aufmerksamkeit schenken als vereinzelten Aktionen christlichen Inhalts (und somit den Einwänden gegen die Auffassung der frühen volkssprachlichen Schriftlichkeit als eine vorwiegend klerikale Erscheinung beipflichten).²⁴ Das bedeutet, dass die epische Tradition der Chansons de geste der Galloromania [<<21||22>>] der eigentliche Auslöser der volkssprachlichen Schriftlichkeit war und nicht etwa La Sequénce de Sainte-Eulalie (ca. 880) und entsprechende Heiligenviten des 10. und 11. Jh. Dem höfischen Versroman, der etwa zeitgleich sowohl im Altokzitanischen als auch im Altfranzösischen entstand, lag kein klerikaler Ansporn zugrunde, sondern er reflektierte die (literalen) Bedürfnisse einer Schicht, die im Begriff war, ihre Position unter anderem durch eine sprachliche Neuerung (neu) zu definieren bzw. abzugrenzen. Betrachtet man diese frühe volkssprachliche Schriftlichkeit im westeuropäischen Kulturraum insgesamt, so findet man trotz eindeutiger Unterschiede – z. B. die christlich inspirierte Schriftlichkeit des englischsprachigen Raums, das unterschiedliche Verhältnis zum Lateinischen, die starken zeitlichen Abstände bei der Entstehung bzw. Stabilisierung der volkssprachlichen Schriftlichkeit in den verschiedenen Sprachräumen, die Differenzierung zwischen pragmatischer und literarischer Schriftlichkeit usw. – dennoch starke Ähnlichkeiten, die soziopolitisch und darüber hinaus soziolinguistisch bedingt waren. Auch wenn die frühesten Phasen romanischer Sprachen im frühen Mittelalter bzw. germanischer Sprachen in der Antike anzusetzen sind, beginnt die eigentliche Geschichte moderner westeuropäischer Sprachen, die sich an das sprachliche und kulturelle Erbe der klassischen Antike anschließen, mit deren Verschriftlichung,²⁵ die in den meisten Fällen spätestens dann das Verhältnis clericus : laicus als Literalitätsgrenze ins Wanken bringt. Die vor allem kulturelle Entideologisierung des Lateinischen hing somit mit dem sog. „emphatischen Lob"²⁶ der eigenen Sprache eng zusammen, zumal die Domänen-Reduktion des Lateinischen aus einer sprachideologischen Umorientierung der literalen Eliten resultierte. In diesem Sinne sollte man mit Gardt von einem Sprach- und Kulturpatriotismus,²⁷ der zwar keinen Sprachnationalismus, aber dennoch einen wesentlichen Bestandteil dieses kontinuierlichen Prozesses darstellte, ausgehen.

    [<<22||23>>] Diese volkssprachliche Schriftlichkeit musste allerdings in einem bestimmten soziokulturellen Kontext wirken, damit sie zur Geltung kommen konnte, denn allein die Ansätze einer volkssprachlichen Schriftlichkeit per se führ(t)en nicht zum Ausbau, zur Standardisierung oder Etablierung der volkssprachlichen Varietäten. Das Okzitanische, eine der ersten und bedeutendsten Literatursprachen der Romania im Hoch- und Spätmittelalter konnte beispielsweise mit der machtpolitischen Position der Französisch bzw. Franzisch²⁸ sprechenden Herrscher Nordfrankreichs nicht konkurrieren und wurde mit der Zeit wieder zu einer „mündlichen" regionalen Varietät.²⁹ Dieser neue Kontext, hauptsächlich mit der Zeit (ab) der Renaissance verbunden, zeichnete sich nun durch mehrere Merkmale,³⁰ die mit gravierenden soziopolitischen und kulturellen Veränderungen verbunden waren, aus. Die wichtigsten dieser Merkmale werden im Folgenden kurz dargestellt:

    Der Buchdruck setzte zwar den Literalitätshunger des Spätmittelalters und der frühen Renaissance fort, eröffnete aber zugleich völlig neue Dimensionen. Unter anderem die Vervielfältigung der Exemplare hat die Produktionspreise heruntergedrückt, so dass Bücher kein kleines Vermögen mehr kosteten und nicht mehr wenigen vorbehalten waren. Auch wenn der Buchmarkt zunächst vom Lateinischen dominiert war, gewann die Herausgabe von Büchern säkularen Inhalts bereits zu Ende des 16. Jh. leicht die Oberhand. Außerdem bedeutete der Buchdruck den Beginn und die Möglichkeit einer systematischen Pflege der Volkssprache, zumal Literalität, die im Mittelalter vor allem Lateinkenntnisse – ganz gleich welcher Art – voraussetzte, jetzt auch mit den volkssprachlichen Varietäten in Verbindung gebracht werden konnte.

    Es erfolgte eine Stärkung jenes Standes, der seine „Privilegien" selbst, d. h. durch Eigenleistung, erkämpfte bzw. konstituierte, weil Vermögen bzw. Ansehen zusehends aus dem eigenen geistigen Einsatz und nicht aus geerbten Titeln resultierte. Auch wenn es nicht leicht ist, in der Renaissancezeit von einem bürgerlichen Stand zu sprechen, gibt es wohl soziale Gruppen, die zunehmend durch soziale Kompetenzen und geistige Fähigkeiten in den Vordergrund treten: Bildung und Literalität spielten bei deren Selbstverständnis eine überaus entscheidende Rolle. Dadurch bildete sich [<<23||24>>] eine immer größer werdende und stabilere Leserschaft, bei der Lesen, Schreiben und die literarische Betätigung „standesgemäß" bzw. zum Merkmal des sozialen Selbstverständnisses wurden.

    Weitere Kennzeichen waren der Anstieg des Literalitätsbedürfnisses und somit der Literalitätsquote, die mit den oben genannten Faktoren sehr eng zusammenhing; die zunehmende Bedeutung der Stadt als soziopolitisches Gebilde, welches das soziale, politische und kulturelle Verhalten einer als Städter bzw. Bürger verstandenen Schicht prägte, sowie die Erweiterung des geographischen Horizonts. Die Entdeckung des Fernen Ostens und des amerikanischen Kontinents führte zur Frage nach sprachlichen Universalien und löste somit den Begriff Sprache von den klassischen und heiligen Sprachen des Altertums endgültig los.

    Außerdem trat durch die Verbindung der (eigenen) Volkssprache mit einer Sprachgemeinschaft eine sprachlich-kulturelle Identität immer mehr in den Vordergrund. Dieser Aspekt verdient größere Aufmerksamkeit, da die Verbindung zwischen Sprache und Kultur bzw. Volk ein Wir-Gefühl und somit einen Sprach- und Kulturpatriotismus konstituieren konnte.³¹ Dies war zwar keineswegs einer nationalen Identität gleichzusetzen, aber markierte dennoch den Beginn einer sprachlich-kulturellen Identität, die von den bürgerlichen Eliten entsprechend bzw. beliebig gelenkt und ausgenutzt werden konnte. Die Identitätsfrage erklärt auch den für den westeuropäischen Kulturraum überaus bedeutenden sprachlich-literarischen Wettstreit der frühen Neuzeit. Auch Luthers Widerstand gegen die päpstliche Autorität dürfte zum Teil durchaus Keime einer sprachlich-kulturellen Differenzierung enthalten haben, die erst später im Rahmen der darauffolgenden politisch-religiösen Polarität durch das Dilemma katholisch vs. reformatorisch/protestantisch neutralisiert wurde.

    An die Identitätsfrage schließt sich letztendlich auch die Herrscheridentität an bzw. eine Art imperiales Selbstverständnis, das vor allem zwischen dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit sehr deutlich zutage trat. Die großen Herrscherhäuser Westeuropas, dessen politisch-militärische, aber auch kulturelle Dominanz und Einflusssphäre im genannten Zeitraum zur Entfaltung kamen, ließen ein völlig neues (zunächst machtpolitisches) Selbstbewusstsein entstehen und führten bald zu dem Rückschluss, dass zwischen Königreich, Kultur und Sprache eine entsprechende Korrespondenz zu herrschen habe. In diesem Zusammenhang gewann auch die eigene Sprache imperiales Ansehen. Spanien, Frankreich und England sind als typische Beispiele für dieses Verhältnis zwischen Machtpolitik und Sprache zu verstehen, welches beispielsweise bei Nebrijas Gramática (1492) überaus deutlich zur Sprache kam.³²

    [<<24||25>>] Erst in diesem neuen soziopolitischen und -kulturellen Kontext in Westeuropa erreichte der Emanzipations- und Etablierungsprozess der Volkssprachen seinen ersten Höhepunkt,³³ so dass dieser Prozess vorerst in zwei³⁴ aufeinanderfolgende Phasen – die sicherlich weiter spezifiziert werden könnten – eingeteilt werden kann: zum einen in die Zeitspanne zwischen Hoch- und Spätmittelalter, in der in Westeuropa eine volkssprachliche – sowohl literarische als auch pragmatisch-wissenschaftliche – Schriftlichkeit entstand, zum anderen in die Zeitspanne zwischen Spätmittelalter bzw. Frührenaissance und der Aufklärungszeit, in der in Westeuropa mehrere Volkssprachen ausgebaut (oder weiter ausgebaut) bzw. standardisiert wurden und sich darüber hinaus als Schriftsprachen (z. B. in Domänen, die bis dahin ausschließlich für das Lateinische reserviert waren) durchgesetzt und somit das Lateinische zum größten Teil oder komplett ersetzt haben. Die Grenze zwischen diesen beiden Phasen ist fließend, aber wenn man Dantes Werk De vulgari eloquentia als Beispiel nimmt, stellt man fest, dass dessen Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte sehr deutlich den Übergang von der ersten zur zweiten Phase dokumentieren: Verfasst wurde De vulgari eloquentia etwa zwischen 1303 und 1304,³⁵ aber deren Wirkungsgeschichte beginnt erst 1529,³⁶ als Gian Giorgio Trissino die Schrift „wiederentdeckte" (um 1514) und eine Übersetzung ins Italienische veröffentlichte.³⁷

    [<<25||26>>] Auch wenn Dante im auf Italienisch geschriebenen Convivio die Thematik bereits anschnitt, so wurde diese in De vulgari eloquentia erst ausführlich erörtert.³⁸ Die „Verteidigung" und das Lob der Volkssprache waren in Zusammenhang mit Dantes Ansehen ausschlaggebend. Allerdings wirkte Dantes Werk wie bereits erwähnt erst im 16. Jh., d. h. zu einer Zeit, als die italienische Geisteswelt bereit war, einen öffentlichen Diskurs (hierzu vgl. unten) über die geeignete Literatur- und Standardsprache zu führen, so dass die berühmte questione della lingua nicht zur Zeit Dantes, sondern erst im 16. Jh. begann. Man sollte hierbei unter anderem den beiden folgenden Bemerkungen bei Dantes De vulgari eloquentia besondere Aufmerksamkeit schenken:

    Die erste betrifft die Unterscheidung zwischen einer natürlichen (lingua naturalis) und einer künstlichen Sprache (lingua artificialis), d. h. den Umstand, dass die gesprochene Sprache, die laut Dante das Kind mit der Milch der Amme bekomme, eine natürliche von Gott gegebene Sprache sei, die jeder zu lieben habe. Auch wenn der Primat des Lateinischen hier nicht in Frage gestellt wird – dieses wird dennoch als eine künstliche, durch formale Bildung erlernte Sprache bezeichnet –, ist die Hervorhebung des Volgare das Fundament für die nachfolgende Verschiebung der traditionellen Gewichtung. In diesem Sinne liegt uns hier ein explizites und sehr frühes Zeugnis für die Wahrnehmung der linguistischen bzw. funktionalen Äquivalenz (vgl. Kap. 3: Phasenmodell) der volkssprachlichen Varietät (in der Terminologie der Diglossie: der L-Varietät) vor.

    Die zweite betrifft die Unterscheidung dreier unterschiedlicher „Sprachstile" innerhalb des Volgare, was einerseits an den Aristophanes-Kommentar erinnert (vgl. 2.2.1 mit Anm. 101), andererseits die Vorstellung von der Variationsfähigkeit der volkssprachlichen Varietät bezeugt und eine innersystemische Bewertungsskala impliziert. Dante hebt das sog. vulgare illustre hervor, dem das vulgare mediocre und das vulgare humile untergeordnet sind. Diese der antiken Rhetoriktradition verpflichtete Stilunterscheidung³⁹ wird zum ersten Mal auf eine volkssprachliche Varietät angewendet, denn sowohl in der griechischen als auch in der römischen Rhetoriktradition betrafen diese Stilunterscheidungen im Wesentlichen die literarischen Abstufungen des klassischen Griechisch bzw. Latein. Der überaus gewagte Schritt – besonders spürbar im italienischen Sprachraum, der in Vergleich zu anderen romanischen Sprachen sehr spät eine volkssprachliche Schriftlichkeit auf literarischer Ebene vorzuweisen hat – untermauerte mehr oder weniger auf theoretischer Ebene die literarischen Qualitäten der Volkssprache und deren „Anrecht", überhaupt als Literatursprache gelten zu dürfen, und ist in gewissem [<<26||27>>] Sinne als sprachideologische Ergänzung der Divina Commedia zu verstehen, die bald die angesprochenen bzw. angekündigten Qualitäten in der Praxis unter Beweis stellte.

    Wenn man nun diesen sprachtheoretischen Ansatz mit der Wirkung und dem Ansehen der literarischen Trias der frühen italienischen Literatur in Verbindung bringt, versteht man umso mehr die Rezeption von De vulgari eloquentia im 16. Jh., denn jetzt konnte die literarische Beschaffenheit des Volgare als bewiesen gelten. Unter dieser Voraussetzung wurde also die Diskussion über die Qualität, die Verbreitung oder auch den geeigneten Namen der Volkssprache (questione della lingua) erst berechtigt, auch wenn der Aufstieg der Volksprachen nicht immer linear verlief, zumal die Renaissance zugleich auch die (erneute) Hochschätzung der klassischen Sprachen bedeutete. L. Vallas’ Schrift De linguae latinae elegantia libri sex (erschienen 1471) stellt in dieser Hinsicht einen Höhepunkt dar, denn neben der Vergötterung des Lateinischen ging es ihm überaus deutlich auch um die „korrumpierte Volkssprache".⁴⁰

    Ein weiterer Unterschied zur Zeit Dantes war auch der, dass nun ein öffentlicher Diskurs über die Sprache stattfand. Nicht nur das Interesse an der Volkssprache, sondern auch der Kreis der literalen, italienischsprachigen Eliten war nun bedeutend umfangreicher und williger, eine entsprechende Diskussion zu führen. Die Sprachdebatte entfaltete im Italien des 16. Jh. eine exemplarische Funktion für Gesamteuropa. In einer Zeitspanne von etwa zweihundert Jahren erschienen zahlreiche Dialoge in literarischer Form. Sie zeigten, wie bedeutend das Thema Sprache – ganz gleich welcher Aspekt – für das italienische Bürgertum geworden war. Sie zeigten auch, dass von Dantes Zeit bis zum 16. Jh./17. Jh. die favorisierte volkssprachliche Varietät in Italien, zwar nicht in sämtlichen Domänen, doch im Wesentlichen inzwischen erfolgreich an die Stelle des Lateinischen als Schrift-, Bildungs- und Standardsprache getreten war. Dem öffentlichen Diskurs sollte besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, denn mangels einer medialen Kommunikation von gewisser Breite, wie diese erst im 19. Jh. möglich wurde, trugen diese Rolle einerseits das sprachtheoretische Schrifttum, andererseits die Sprachgesellschaften, die Vereine und im Allgemeinen die literarischen Salons, die eine öffentliche Diskussion über die Sprache und die Literatursprache initiiert hatten. Obwohl diese Diskussion nicht das Ausmaß hatte, das ihr die Zeitungen und die Zeitschriften im späten 18. und im 19. sowie im 20. Jh. hätte verleihen können, war sie doch für das Bürgertum und die Sprachgemeinschaft insgesamt durchaus repräsentativ, und vor allem rückte sie die Sprache als kulturelle Thematik schlechthin ins Zentrum der bürgerlichen Interessen. Von daher ist allein die Existenz dieses öffentlichen Diskurses ein wesentlicher Hinweis für den Stellenwert der sprachlichen Äußerung innerhalb der (literalen) Sprachgemeinschaft [<<27||28>>] und insbesondere für den Stellenwert, den inzwischen die Volkssprachen als Literatur- und Bildungssprachen im soziokulturellen Komplex der (frühen) Neuzeit angenommen hatten.⁴¹

    Der Emanzipationsprozess, der in den Standardisierungsprozess überging, wurde zwischen dem 16. und dem 18. Jh. „einheitlicher", denn der Wettstreit zwischen den verschiedenen westeuropäischen Landschaften funktionierte mehr oder weniger als eine Kettenreaktion. In diesem soziokulturellen Kontext war dann bald die Sprachpflege vom Sprach- und Kulturpatriotismus nicht mehr zu unterscheiden. In einem mehr oder weniger für mehrere west-, aber zum Teil auch mitteleuropäische Sprachen gemeinsam verlaufenden Prozess wurde ein öffentlicher Diskurs über die (Volks)Sprache entfacht, der sie ins Zentrum kultureller Aktivitäten rückte, weil sie zunehmend unter anderem als distinktives Identitätsmerkmal der literalen Eliten bzw. des Bürgertums angesehen wurde. Nebrijas Grammatik folgten Beschreibungen des Volgare in Italien, die bald entsprechende Grammatiken in Frankreich und im deutschsprachigen Raum hervorriefen.⁴² Einige dieser Grammatiken waren auf Latein oder in einer regionalen Varietät verfasst worden, obwohl ihr Ziel nicht so sehr die Normierung der Varietät/Sprache war, sondern vor allem die Legitimierung der eigenen Volkssprache auf soziolinguistischer Ebene bzw. die Erbringung des Nachweises, dass die (ausgewählte) volkssprachliche Varietät durchaus in der Lage war, auch auf sprachtheoretischer Ebene die Rolle des Lateinischen zu übernehmen. Normierung, Verfassung einer Grammatik und eines Wörterbuchs, korrekter Gebrauch, Unterscheidung zwischen gesprochenem und geschriebenem bzw. gehobenem Gebrauch, Übersetzung antiker Literatur und Schaffung eigener Literatur waren einige der wesentlichen Ziele bzw. Aktivitäten oder Aspekte der Auseinandersetzung mit der zunehmend als eigen empfundenen Volkssprache, die zwischen dem 16. und dem 17. Jh. ihren Höhenpunkt erreichte. Italien und die Gründung der Academia della Crusca (1583) war wiederum richtungsweisend, denn nicht nur in Akademien, sondern auch in Vereinen, Gesellschaften oder auch in literarischen Salons wurde die sprachliche Eleganz in der eigenen Volkssprache (später manchmal auch in einer bestimmten Volkssprache, z. B. im Französischen) zum bürgerlichen Bildungsideal schlechthin herausstilisiert. Diese [<<28||29>>] Sprachpflege konnte allerdings erst im geeigneten soziokulturellen Kontext entfaltet werden, denn ohne ihn wäre die Verfassung einer volkssprachlichen Grammatik wahrscheinlich wirkungslos geblieben.

    Auch rein linguistisch brachte der Wille des Adels und der bürgerlichen Eliten, die Volkssprache in vielen neuen Domänen einzusetzen, den entscheidenden Wendepunkt, der bald einen korpusorientierten bzw. intensiven Ausbau mit sich brachte. Auch wenn immer wieder Einwände gegen die Verbindung zwischen Volkssprache und einer bestimmten Domäne erhoben wurden und Latein in vereinzelten Fällen sowohl sein Ansehen als auch seine praktische Gültigkeit noch über das 19. Jh. hinaus bewahrte, signalisierte das Zeitalter der Aufklärung die funktionale Erosion des Lateinischen. Dieser Ausbau nahm allerdings eine ganz neue Form an, als schließlich die Volkssprachen auch zu Nationalsprachen wurden. Auch der dritten Phase dieses Prozesses soll Beachtung geschenkt werden, denn obwohl viele volkssprachliche Varietäten bereits Bildungs- und Standardsprachen waren, stellten sie zunächst zahlenmäßig eingeschränkte Teilvarietäten der literalen Eliten dar.

    Das Verhältnis zwischen Sprache und Nation soll hier ganz am Rande angeschnitten werden,⁴³ denn es betrifft den Etablierungsprozess der Volkssprachen nur bedingt, wobei in mehreren Fällen wie bereits erwähnt die Einzelphasen dieses Prozesses fließend sind und ineinander übergehen. Im bereits erwähnten Sprachpatriotismus sind zweifelsohne deutliche Keime eines Sprachnationalismus zu sehen, wobei oft wenig darauf eingegangen wird, dass auch diese Art des Nationalismus zunächst die literalen Eliten betraf und somit der eigentlichen sog. Volksnation zunächst fernlag.⁴⁴ Die Frage, ob die Sprache zur nationalen Identität oder erst der Nationalstaat zur Nationalsprache führte, ist zum Teil zirkulär.⁴⁵ Es ist jedoch zu beachten, dass die sprachliche Modernisierung, Standardisierung und Homogenisierung das Produkt einer gezielten Sprachpolitik darstellt, die außerhalb eines modernen Nationalstaats kaum denkbar wäre. Ungeachtet dessen, welche Komponenten das nationale Selbstverständnis europäischer Staaten bzw. Nationen geprägt haben mögen und welche Rolle Sprache dabei gespielt haben mag, wurden die Mythisierung, die Ideologisierung der nationalen Merkmale und entsprechende nationale „Tugenden" stets auf die Sprache übertragen. Nationale Feierlichkeiten und Helden, Kunst und Volkskultur, Geschichte und Literatur – alles [<<29||30>>] mündete früher oder später auch in die Sprache, die als Träger der „nationalen Besonderheit" hochstilisiert wurde. Selbst wenn die Sprache vorerst keine unabdingbare nationale Komponente darstellte, wie unter anderem auch im Fall Griechenlands,⁴⁶ so wurde sie schließlich zum wesentlichen Bestandteil der nationalen Identität. Zu berücksichtigen wäre auch der Umstand, dass sich die vollständige Identifizierung der eigenen Sprache mit einer übergeordneten nationalen Identität in der Regel erst dann vollzog, als der Zugehörigkeitsgedanke die breiten Bevölkerungsmassen erreichte, was im Wesentlichen durch die Homogenisierungspolitik des Nationalstaats, der vorhandene sprach- und kulturbezogene Identitäten entsprechend transformierte, geschah. Die institutionalisierten „Überredungsmechanismen des Staatsapparats verbreiteten die Idee der kollektiven (nationalen) Zugehörigkeit erst im Zuge einer „modernen Ideologisierungs- und Sprachpolitik, die unter anderem auf der Schulpflicht und dem militärischen Pflichtdienst bauten. Erst in diesem Kontext war es möglich, ein effektives öffentliches Nationalbild zu inszenieren, das unter anderem die Sprache als konstitutives Element der nationalen Identität definierte.⁴⁷ Auch wenn die Hypostasierung der eigenen (Volks)Sprache auf die Barockzeit zurückgeht,⁴⁸ so blieb diese in den darauffolgenden Jahrhunderten lediglich ein „Motto des literalen, zahlenmäßig eingeschränkten, Bürgertums. Zu tatsächlichen Nationalsprachen, d. h. zu kommunikativ und sprachideologisch „verbindlichen Varietäten der ganzen Nation, wurden die einzelnen Volkssprachen meist erst im ausgehenden 19. und im 20. Jh.⁴⁹

    1.2Das Neugriechische

    Dieser Prozess der Emanzipation, Etablierung und Standardisierung westeuropäischer Volkssprachen nahm eine prototypische Funktion an,⁵⁰ die früher oder später, zunächst innerhalb des europäischen Kulturraums (in Ost- und Südosteuropa), weitere Sprachen, Sprachgemeinschaften und Völker mitriss. Welche Gemeinsamkeiten damit und Unterschiede davon wies aber speziell das griechische Modell auf? Als typische [<<30||31>>] Gemeinsamkeit mit dem Lateinischen wird auf allgemeinsprachlicher Ebene gemeinhin die vergleichbare soziokulturelle Bedeutung des (Alt)Griechischen im östlichen Teil des mittelalterlichen Europas und dessen Bedeutung (als Sakralsprache) für das Christentum genannt; darüber hinaus ist natürlich auch dessen Einwirkung auf Sprachen und Völker im kleinasiatischen Raum sowie im Nahen Osten zu nennen. Als typischer Unterschied wird hingegen der Umstand verstanden, dass sich im Vergleich zum Lateinischen das Griechische nicht in mehrere bzw. unterschiedliche Varietäten/Tochtersprachen ausgegliedert hat. Bei der ausgebliebenen sprachlichen Ausgliederung ist allerdings nicht so sehr die sprachtypologische,⁵¹ sondern vor allem die soziokulturelle Dimension zu beachten, unter anderem die Konzentration der kulturellen Bürde der griechischen Antike auf einen Kulturraum und eine einzige Volkssprache, das Neugriechische. Die „Aufteilung" des kulturellen Erbes der klassischen Antike in mehrere Sprach- und Kulturräume Westeuropas sowie die erfolgte sprachlich-kulturelle Rivalität scheinen viel positiver auf die volkssprachlichen Varietäten eingewirkt zu haben als dies im Fall des Griechischen gewesen ist.

    Einen weiteren, sehr bedeutenden Unterschied zum westeuropäischen Kulturraum stellte der soziopolitische und -kulturelle Rahmen im osmanischen Balkan, der zur Verzögerung des oben umrissenen Emanzipations- und Standardisierungsprozesses der volkssprachlichen Varietäten um etwa drei- bis fünfhundert Jahre entschieden beitrug, dar.

    Wenn von einer besonderen Stellung des Griechischen auszugehen ist, die unter anderem auf der antiken Vergangenheit und somit der prototypischen Funktion im westeuropäischen Selbstverständnis, auf dessen Bedeutung als Sakralsprache, auf dem byzantinischen Erbe sowie auf dem soziopolitischen Rahmen des Osmanischen Reiches begründet ist, drängt sich hier die Frage auf, welche Auswirkung dieses komplexe Erbe auf den Etablierungsprozess des Neugriechischen hatte. Im Folgenden soll auf einige gravierende Konvergenzen und Divergenzen dieses Prozesses im Neugriechischen, verglichen mit jenem in Westeuropa, eingegangen werden. Im Vorfeld soll auf den Unterschied zwischen sprachlicher Emanzipation und volkssprachlicher Schriftlichkeit hingewiesen werden. Unter volkssprachlicher (vorwiegend literarischer) Schriftlichkeit, die im Neugriechischen, verglichen mit dem Englischen, Okzitanischen oder Französischen, später einsetzt (ähnlich wie im italienischen Sprachraum), sind die schriftlichen Zeugnisse der volkssprachlichen Varietät(en) gemeint, die zwar den Beginn des [<<31||32>>] Emanzipationsprozesses einleiten, dessen Vollendung aber keineswegs voraussetzen. Der Emanzipations- und Etablierungsprozess, wie dieser im vorigen Abschnitt zu Westeuropa grob umrissen wurde, setzt wiederum eine aktive und bewusste Auseinandersetzung mit der Volkssprache, ihre Pflege und Kodifizierung, ihren Ausbau und die Erweiterung ihrer Domänen voraus, mit dem klaren Ziel, diese an die Stelle der „älteren" Kultursprache zu setzen.

    Eine volkssprachliche Schriftlichkeit setzte in der byzantinischen Welt etwa im 12. Jh. (Digenis Akritis, Michael Glykas, Ptochoprodromika) ein und entwickelte bald ein eigenes Gepräge, auch wenn die Impulse aus westeuropäischen Literaturgattungen (z. B. Ritterromane) immer wieder vordrangen. Diese „typisch byzantinische volkssprachliche Schriftlichkeit ging dann mehr oder weniger nahtlos, etwa im 15. Jh., in die „neugriechische über, zumal der Übergang vom „Mittel- zum „Neugriechischen für den genannten Zeitraum weniger linguistisch begründet war, sondern viel mehr zum einen eine Veränderung des Sprachbewusstseins, zum anderen eine soziokulturelle und, in Bezug auf die Literatur, thematische Verschiebung dokumentierte.⁵² In jedem Fall verzeichnete die spätbyzantinische und frühneugriechische volkssprachliche Schriftlichkeit, trotz des Ausbleibens der pragmatischen Schriftlichkeit, die im Wesentlichen am altgriechischen Typus orientiert blieb, eine im Großen und Ganzen durchaus parallele sprachliche Entwicklung mit Westeuropa, sowohl quantitativ als auch qualitativ.

    Der entscheidende Unterschied des Emanzipationsprozesses der byzantinischen und frühneuzeitlichen Welt der Gräkophonie zu jenem der westeuropäischen Sprachen ist der ausbleibende Diskurs bzw. die Stagnation dieses Prozesses. Die rein linguistische Entwicklung verlief zwar parallel, aber die soziale bzw. soziolinguistische nicht. Auch wenn in der byzantinischen Welt eine verhältnismäßig reiche volkssprachliche Schriftlichkeit produziert worden war, fehlte hier im Grunde jegliche sprachideologische Auseinandersetzung mit der Volkssprache und deren Wert, was unter anderem an der „Isolation" der byzantinischen Bildungseliten und der fehlenden Rivalität lag. Die gegenseitigen (sprachlich-kulturellen) Einflüsse und der daraus resultierende Wettstreit in der Sprachlandschaft Westeuropas hatten in der byzantinischen Welt keinerlei Parallele, obwohl der Kontakt der byzantinischen Welt mit den Kreuzfahrern starke Impulse für die volkssprachliche Schriftlichkeit gab. Diese Impulse dokumentieren überaus deutlich unter anderem die Chronik von Morea (14. Jh.), die pragmatische Schriftlichkeit und die Literatur auf Zypern oder auch die byzantinischen Ritterromane. Auch wenn das sog. Epos Digenis Akritis und die berühmten Ptochoprodromika, beides aus dem 12. Jh., eine klare Parallele zur entsprechenden westeuropäischen Literatur darstellen (Heldendichtung bzw. höfische Literatur), der Gedanke, die Volkssprache für „ernste" Literatur oder als [<<32||33>>] Wissenschaftssprache zu verwenden, blieb den Byzantinern im Wesentlichen fremd. Darüber hinaus lag ihnen auch die Idee, die Volkssprache auf die eine oder andere Art aufzuwerten, fern. Das oben erwähnte imperiale Selbstverständnis,⁵³ welches in manchen Regionen Westeuropas die Aufwertung der volkssprachlichen Varietäten förderte, ging in Byzanz mit dem Altgriechischen einher, was die Vermutung nahelegt, dass die kaiserliche Identität der Byzantiner primär ständisch und religiös war, aber kaum „protonationale" Züge enthielt. Auch eine sprachlich-kulturelle kollektive Identität ist für die spätbyzantinische Welt kaum nachweisbar. Neben der typischen Antwort des ersten Patriarchen nach dem Fall Konstantinopels, Gennadios Scholarios, der sich als Griechisch sprechenden Christen sah,⁵⁴ aber keineswegs als Hellenen – eine Benennung, die für ihn ausschließlich die Heiden, d. h. die alten Griechen, bezeichnete bzw. zu bezeichnen hatte⁵⁵ –, dokumentiert auch das Verhalten der byzantinischen Eliten (hoher Klerus, Adel und „Bürgertum") nach dem Fall Konstantinopels deutlich deren ambivalente Haltung zur eigenen Sprachkultur. Die hier vorgenommene Dreispaltung ist sicherlich schematisch und enthält eher repräsentative Züge, aber es ist dennoch bezeichnend, dass die Vertreter des hohen Klerus im Wesentlichen ihre Privilegien von den Osmanen zurückerhielten, weil Erstere den Gegensatz zu den neuen Machthabern oft weniger in der Sprache, der Kultur oder der Herkunft sahen, als eher in der Religion bzw. die Letztgenannte als weit höher oder dienlicher werteten.⁵⁶ Dieser Teil des Adels andererseits, der den Fall Konstantinopels überlebt hatte und nicht in den Westen geflüchtet war, war in sehr vielen Fällen zum Islam übergetreten und übernahm entsprechend würdige Posten in der osmanischen (Militär)Elite, was noch deutlichere Fragen nach dessen [<<33||34>>] Identitätsmerkmalen aufwirft.⁵⁷ Das gebildete Bürgertum war hingegen die Schicht schlechthin, die entweder in den Westen – oft vor dem Fall Konstantinopels – oder in die ehemaligen Gebiete des byzantinischen Kaiserreichs, die unter der Herrschaft der Kreuzfahrer standen (vor allem Kreta, Zypern, Rhodos), floh. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich vor allem diese letzte Gruppe, die auch zahlreiche Klerusangehörige enthielt, sich um eine sprachlich-kulturelle Identität formierte und sowohl das antike Erbe als auch die Bildung und die Sprache förderte. Die funktionale Verteilung zwischen Latein und Italienisch bzw. Französisch dürfte hier als imposantes Vorbild gewirkt haben, so dass in diesem neuen, politischen sowie soziokulturellen Kontext eine bewusste Auseinandersetzung mit der neugriechischen Volkssprache einsetzte, die allerdings in der Regel nur vereinzelt sprachideologisch, sondern fast nur pragmatisch-funktional war. Entscheidend ist in diesem Kontext nicht nur, dass man bewusst Literatur in der volkssprachlichen Varietät schrieb, diese für pragmatische Schriftlichkeit nutzte oder in die Volkssprache (Zielsprache) übersetzte, sondern auch dass man (griechische) volkssprachliche Literatur, ältere und zeitgenössische, druckte; man kann vermuten, dass dies mit einer primär sprachlich-kulturellen Identität verbunden war, die sich nun expliziter um die volkssprachliche(n) Varietät(en) und die „Volkskultur formierte.⁵⁸ Diese, von Venedig und Rom über Monemvasia und Rhodos bis Kreta und Zypern verteilte, gemeinsame oder zumindest vergleichbare Empfindung demonstriert deutlich und zum ersten Mal die Verbindung zwischen zeitgenössischer Sprache und Identität. Obwohl eine sprachideologische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Sprache eher selten war, war die Hypostasierung der volkssprachlichen Varietät unmissverständlich und mit dem entsprechenden soziokulturellen Kontext untrennbar verbunden, d. h. mit dem adlig-„bürgerlichen Kontext der Kreuzfahrerstaaten bzw. Kretas oder der italienischen Städte. Hier wurde der Bruch mit der byzantinischen Vergangenheit – wie auch immer man dieses komplexe Erbe definieren mag – deutlich und es setzte der Wunsch nach Aufwertung, Pflege und Ausbau der (regional verwendeten) volkssprachlichen Varietäten ein, die man zunehmend als eigene betrachtete. Damit konstituierte man die Keime einer neuen (im gewissen Sinne protonationalen oder zumindest sprachpatriotischen) Identität, die man nun immer bewusster der entsprechenden Identität westeuropäischer Völker und Länder gegenüberstellte. Kardinal Bessarions gepflegte volkssprachliche Varietät und sein Ton (1465) in einigen seiner Briefe⁵⁹ und vor allem N. Sophianos stellen zwei typische Beispiele für den fortschreitenden Prozess dieser neuen Identitätssuche dar. Wie die meisten Byzantiner der ersten Generation fühlte sich Bessarion der Antike und dem [<<34||35>>] byzantinischen Erbe verpflichtet,⁶⁰ so dass die zeitgenössische Sprache (und Identität) zunächst völlig im Hintergrund standen. Bessarions volkssprachliche Schriftlichkeit stellt zwar eine bedeutende Neuerung dar, dennoch galt sein Wirken primär der Bildung und der Wissenschaft im Zuge der humanistischen Tradition. Aber schon eine Generation später verfasste Sophianos die erste Grammatik des Neugriechischen (ca. 1540)⁶¹ und übersetzte (Pseudo)Plutarchs Über die Erziehung der Kinder in die neugriechische Volkssprache.⁶² Auch wenn Sophianos programmatisches Wirken im Grunde ohne wirkliche Fortsetzung blieb, verdient er besondere Aufmerksamkeit, weil er sich (z. B. im Nachwort seiner Grammatik) deutlich auf die zeitgenössische Sprache und die kollektive Identität bezog. Sophianos sprach einerseits unmissverständlich von einer zeitgenössischen Koine/Sprache (κοινή των Ελλήνων γλώσσα; κοινή γλώσσα; εδική μας ομιλία [=unsere Sprache]) und verstand andererseits unter hellenisch (ελληνικά μαθήματα, ελληνική γλώσσα) ausschließlich das Altgriechische. Sowohl die Bezeichnung κοινή (nicht ελληνική) als auch der Verweis auf die Sprechergruppe (Έλληνες, Ρωμαίοι, Γραικοί) als Abgrenzung der griechischen Sprache von den Volkssprachen anderer „Nationen zeigte deutlich in Richtung einer neugriechischen Sprachkultur.⁶³ Die kollektive Identität war bei Sophianos umso deutlicher. Innerhalb zweier Seiten verwendet er alle drei ethnischen Beinamen, die uns auch in der Zeit der neugriechischen Aufklärung wieder begegnen: Έλληνες, Ρωμαίοι und Γραικοί sowie die Begriffe γένος und έθνος (Volk, Stamm, Ethnie, „Nation). Die westeuropäischen Völker nennt er έθνη (Völker, „Nationen"), für die (zeitgenössischen) Griechen benutzt er primär γένος, verwendet aber an einer Stelle auch έθνος dafür. Sophianos dürfte einer der ersten griechischen Gelehrten überhaupt gewesen sein, der auf diese neue bzw. neuzeitliche kollektive Identität verwies bzw. sie offen deklarierte, eine Identität, die weder auf der Antike, noch auf dem byzantinischen Erbe noch auf der orthodoxen Religion basierte, sondern allein auf der zeitgenössischen Volkssprache und -kultur.⁶⁴

    [<<35||36>>] Eine (sprach)ideologische Auseinandersetzung mit der neugriechischen Sprache sowie mit der Sprach- und Volkskultur stellte allerdings in den darauffolgenden Jahrhunderten die Ausnahme dar und obwohl die volkssprachliche Literaturproduktion zwischen dem 15. und 17. Jh. durchaus florierte und die entsprechenden Drucke auch ihre Beliebtheit dokumentieren, blieb in der geographisch sowie kulturell äußerst fragmentierten Welt der Gräkophonie eine kollektive Besinnung auf diese neuzeitliche bzw. neugriechische Identität im Wesentlichen aus. In den verschiedenen Zentren der griechischen Sprachlandschaft scheint bei den literalen Eliten die vielleicht dominanteste Konstante jeweils eine andere gewesen zu sein, z. B. das Patriarchat, das Christentum, der Bezug zur osmanischen Administration, der Bezug zur einheimischen Kultur (vor allem in den westeuropäischen Städten) oder zu jener der herrschenden Obrigkeit (Kreta, Zypern usw.). Die Griechischsprachigkeit blieb zwar ein gemeinsamer fester Wert – allerdings oft eher unterschwellig –, aber der Bezug zur Sprache kollidierte oft mit der soziopolitischen Diversität, mit der die Griechischsprachigen konfrontiert waren. Der kretische Adel bzw. das kretische „Bürgertum im 16. und 17. Jh., der hohe Klerus im Patriarchat, die Phanarioten in den Fürstentümern Moldau und Walachei, die Gelehrten in Ioannina oder jene in Italien, Wien und Paris interpretierten ihre Vergangenheit, ihre Sprachkultur sowie ihre soziopolitische Stellung und „Mission oft auf sehr unterschiedliche Weise, so dass das Griechische keine einflussreiche Homogenisierungskonstante gewesen sein dürfte.

    Obschon also die volkssprachliche Schriftlichkeit im Mittel- und frühen Neugriechischen, etwa zwischen dem 12. und 17. Jh., sehr umfangreich war und jener in Westeuropa entsprach, so blieb die gezielte Auseinandersetzung mit der neugriechischen Volkssprache, sowohl auf rein linguistischer als auch auf sprachtheoretischer Basis, sowie deren soziale Aufwertung vorerst aus. Beides setzte erst in der Zeit der neugriechischen Aufklärung, deren Höhepunkt zwischen 1774 und 1821 war, ein. Zunächst soll jedoch kurz auf die soziolinguistisch begründete Sonderstellung des (Neu)Griechischen auf dem Balkan eingegangen werden, die das Neugriechische von anderen Balkansprachen deutlich unterschied.

    Diese Sonderstellung gründete sich einerseits auf den rein linguistischen Status, weil das Neugriechische als einzige Volkssprache die schriftsprachliche Tradition einer antiken Bildungssprache, des Altgriechischen, fortsetzte und direkt darauf zurückgreifen konnte. Da die Grenze zwischen Alt- und Neugriechisch in der Schriftsprache fließend war, konnte die neugriechische Volkssprache als einzige Balkansprache und – mit Ausnahme des Italienischen – als einzige europäische Sprache einen derart gleitenden Übergang von einer antiken Bildungs- und Standardsprache zu einer modernen Volkssprache realisieren. Auf sozialer Ebene andererseits genoss das Neugriechische sehr hohes Ansehen aufgrund der Domänen, in denen es verwendet wurde. Zum einen war das Neugriechische die Handelssprache im Balkan, so dass seinerzeit selbst [<<36||37>>] Händler anderer Herkunft als „Griechen" bezeichnet wurden.⁶⁵ Darüber hinaus fungierte das Neugriechische als (eine) lingua franca, und zwar ungeachtet der religiösen Grenzen. Das Herrschaftsgebiet von Ali-Pascha in Epirus (zu Beginn des 19. Jh.), der selber albanischer Herkunft war, stellt ein einleuchtendes Beispiel für den Einsatzbereich der neugriechischen Volkssprache als offizielle Verwaltungs- und Korrespondenzsprache dar. Das Archiv von Ali-Pascha⁶⁶ erschließt uns eine multiethnische, -religiöse und mehrsprachige Welt, die sich um Ali-Paschas Machtzentrum drehte. Die Verwendung der neugriechischen Volkssprache und nicht etwa einer am altgriechischen Typus orientierten Schriftsprache (so wie es beispielsweise in der Korrespondenz des Patriarchats oder vieler Gelehrten der Fall war), geschrieben von Menschen jeglicher Bildung, Religion und Muttersprache, gibt uns ein imposantes Bild vom Umgang mit der volkssprachlichen Schriftlichkeit, die selbst im osmanischen Verwaltungsapparat genauso ungewöhnlich war, da man hier nicht das Türkische, sondern ein sehr gepflegtes Osmanisch verwendete.

    Hinzu kam, dass das Griechische nicht nur die Sprache der orthodoxen Liturgie war, zumindest in den meisten Fällen, sondern auch die Sprache des Patriarchats, d. h. die offizielle Sprache des orthodoxen Millets (Millet-i-rum), welches nicht nur zahlenmäßig das größte, sondern auch das einflussreichste im Osmanischen Reich war. Die Gleichung orthodoxe Christen = Griechisch bzw. Griechen, auch wenn sie im Grunde lediglich für eine Minderheit zutraf, lag demnach auf der Hand und wurde auch von muslimischer Seite entsprechend assoziiert. Von Bedeutung ist außerdem die Funktion des Griechischen als Schul- und Bildungssprache, ein Umstand, der gerade in den Regionen, wo die Griechen eine kleine Bildungselite ausmachten, z. B. in den Fürstentümern Moldau und Walachei, die soziale Bedeutung des Griechischen offenbart. Griechischsprachigkeit und Bildung wurden gleichgesetzt und stellten somit die Grundlage für sozialen Aufstieg dar. Auch die herausragende Stellung und Machtentfaltung der Phanarioten basierte schließlich auf deren Fremdsprachenkenntnissen und Bildung. Auch im Rahmen der neugriechischen Aufklärung, die unter anderem [<<37||38>>] in den von den Phanarioten regierten Fürstentümern Moldau und Walachei blühte, fungierte das Griechische als sprachliches Vehikel des Aufklärungsgeistes, der sich an alle Orthodoxen (und nicht nur diese) richtete.⁶⁷ Schließlich besaß das Neugriechische selbst in der osmanischen Welt einen halboffiziellen Status, zumal insbesondere nach den Tanzimat-Reformen (1839 – 1876), nicht nur verschiedene Provinzzeitungen, sondern auch die offizielle „Reichschronik" zweisprachig erschienen, d. h. auf Türkisch und auf Griechisch.⁶⁸

    Das Gefühl der politischen sowie kulturellen Rückständigkeit, die man im Balkan gegenüber Westeuropa empfand, war im Fall des Griechischen zum Teil neutralisiert, und zwar nicht im Rahmen einer romantisch-nationalistischen Selbstüberschätzung, die vor allem im griechischen Nationalstaat zunehmend typisch wurde, sondern zum einen aufgrund des wirtschaftlichen und soziopolitischen Status quo der griechischsprachigen Eliten (z. B. im Patriarchat bzw. in der Führungsriege im orthodoxen Millet, in der höheren osmanischen Administration, im Regierungsumfeld der Fürstentümer Moldau und Walachei, in einer neubegründeten bürgerlichen Oberschicht, in Kreisen der großen Handelsflotte, in den autonomen Wirtschaftsgemeinden im nachmaligen Zentralgriechenland, in der Wirtschaftskraft) und zum anderen aufgrund des soziolinguistischen Status des Griechischen, sowohl des Alt- als auch des Neugriechischen.

    Im Kontext dieser Sonderstellung wäre auch die Rezeption der Renaissance- sowie der Aufklärungsbewegung zu berücksichtigen, zumal beides sowohl den sozialen als auch den linguistischen Status des Griechischen und insbesondere der volkssprachlichen Varietät entscheidend beeinflusste. Obwohl in der Zeit der Renaissance das nachmalige Griechenland kein soziopolitisch einheitliches Staatsgebilde mehr darstellte und die osmanische Herrschaft vorerst, vor allem in den ersten zwei Jahrhunderten, einen kulturellen (Zusammen)Bruch bewirkte, sorgten einerseits die sog. kretische Renaissance für eine beachtenswerte literarische Produktion in der regionalen volkssprachlichen Varietät, andererseits die Tätigkeit der byzantinischen Gelehrten in Westeuropa⁶⁹ für die Förderung, Verbreitung und Rezeption des griechischen Erbes der Antike. In diesem Sinne war der sprachliche und soziale Bezug zur Renaissance-Bewegung zwar [<<38||39>>] begrenzt, aber dennoch vorhanden.⁷⁰ Die neugriechische Aufklärung, die zwischen 1774 und 1821 ihren Höhenpunkt erreichte, war zwar nicht „national gebunden in dem Sinne, dass sie sich lediglich an „Griechen richtete, verwendete aber das Griechische als Vehikel zur Verbreitung des aufklärerischen Geistes. Eine beträchtliche Zahl von Übersetzungen und Originalschriften,⁷¹ vor allem ab dem letzten Viertel des 18. Jh., bereicherte und standardisierte nicht nur de facto das Griechische,⁷² sondern führte früher als sonst in Südosteuropa zum direkten Vergleich mit den westeuropäischen Sprachen und initiierte bzw. beschleunigte jenen Prozess, in dessen Rahmen die Sprache als Kulturgut zum Wohle der (bürgerlichen) Gesellschaft und nicht lediglich der literalen oder (religiösen und weltlichen) Machteliten angesehen wurde.

    Von daher ist es also kein Zufall, dass die (Blüte)Zeit der neugriechischen Aufklärung mit einem ausgeprägten Sprach- und Kulturbewusstsein einherging, welches nun in die Diskussion über die nationale Identität mündete. Auf sprachtheoretischer Ebene ermöglichte erst die neugriechische Aufklärung die eigentliche Auseinandersetzung über die Geschichte, das Wesen und die soziolinguistische Funktion der neugriechischen Volks- bzw. Schriftsprache, so wie Sophianos diese etwa 250 Jahre zuvor initiiert hatte. All jene sprachideologischen Aktivitäten und Ziele, die im westeuropäischen Raum zwischen dem 16. und 18. Jh. unternommen bzw. angestrebt worden waren, begegnen uns im griechischsprachigen Raum in der Zeit etwa zwischen 1760 und 1821. Die Situation ist vor allem mit dem italienischen Sprachraum vergleichbar. Unter anderem ging es um Folgendes: Emanzipation vom Altgriechischen bzw. Lateinischen; Auswahl einer bestimmten Varietät; Diskussion über die Beschaffenheit der Volkssprache als Literatur-, Schrift- und Nationalsprache; Diskussion über die geeignete Benennung der Volkssprache; Gedanken über die starke dialektale Spaltung als Hindernis einer Gemeinsprache usw. Auch die entsprechenden (Re)Aktionen und Ziele sind vergleichbar: große verlegerische Aktivität, umfangreiches Schrifttum, Gedanken über die Gründung einer Akademie zur sprachlichen Normierung,⁷³ intensive Sprachpflege, Hypostasierung und Ausbau der Sprache, rege Übersetzungstätigkeit, Wunsch nach Schaffung einer volkssprachlichen Originalliteratur usw.

    [<<39||40>>] Zu beachten sind vor allem der Kontext eines öffentlichen Diskurses über die Sprache, in dem Aktivitäten aus entsprechenden westeuropäischen Etablierungs- bzw.

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