Generationentransfer: Weitergabe von Dingen und Informationen in Natur und Kultur
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Buchvorschau
Generationentransfer - Books on Demand
Schriftenreihe der
Otto-Koenig-Gesellschaft, Wien
44. matreier Gespräche zur Kulturethologie
2018
Inhalt
Vorwort
Gustav Reingrabner
Die Spannung zwischen Traditionen und Aktualität in der (christlichen) Religion
Helga Bleckwenn
Die literarische Form der Weitergabe von Wissen und Erkenntnis. Die Großmuttergestalt bei Božena Němcová und Johanna Spyri
Hans Jürgen Böhmer
Wissenschaft im Zeitalter der Selfies. Zum mangelnden Generationentransfer in der Ökologie und anderswo
Wolfgang Bibel
Forschungspotenziale der Künstlichen Intelligenz
Helmwart Hierdeis
Jugend als Hoffnungsträger. Über ‚Reden an die Jugend‘
Thomas Simon
Generationenvertrag – ein Fragezeichen der Gesellschaft?
Katharina Koller
Entfremdung von Alt und Jung – Leben wir in Generationenblasen?
Max Liedtke
Über die Dummheit und die Intelligenz kultureller Traditionen. Beispiel: Wie ist die Chemie in die Schulen gekommen?
Uwe Krebs
Der perfekte Generationentransfer als Pyrrhussieg
Philipp Lehar
Kriegsgräber und Gedenken – Ein Auftrag an die nächste Generation?
Daniel Zerbin
Vererbung und Kriminalität: Wie viel Böses steckt in uns drin?
Oliver Bender & Andreas Haller
Der Generationentransfer landwirtschaftlichen Besitzes – Entwicklung und Auswirkungen am Beispiel des Alpenraums mit seinen Vorländern
Roland Girtler
Die Tradition der Heilkräuter – Montana Haustropfen. Die Weitergabe von Hausmitteln in der bäuerlichen Kultur
Martin R. Kiesewetter
Tradition – Kritischer Katalysator im Militärsystem?
Dagmar Schmauks
Ausgerottete Dodos und verheimlichte Halbgeschwister. Wie man die Weitergabe von Informationen beenden kann.
Verzeichnis der Autoren und Herausgeber
Vorwort
πάντα ῥεῖ – Alles fließt und alles verändert sich. Das gilt für die Natur und Kultur gleichermaßen. Veränderungen und Entwicklungen waren immer schon ein zentrales Thema der Matreier Gespräche. Das Wesentliche beim Generationentransfer ist allerdings, dass es sich um eine Weitergabe handelt, die formalisiert, informell oder gar unbewusst ablaufen kann.
Die Geber und Empfänger dieses Transfers können dabei sehr unterschiedlich sein: Eltern–Kinder, andere Personen innerhalb einer Familie oder einer beliebigen anderen Organisation, Lehrer–Schüler oder auch soziale Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Bedeutsam ist lediglich, dass Geber und Empfänger in einer Beziehung als Vorgänger–Nachfolger zueinanderstehen.
Der Begriff ‚Generation‘ wird in der Genealogie, der Biologie und der Soziologie verwendet und unterschiedlich definiert. Andere Verwendungen des Begriffes, wie in der Technik oder der Werbung, beziehen sich auf diese Definitionen. In der Genealogie bezeichnet man die Personen, die in einer Abstammungslinie auf der gleichen Stufe stehen, als Generation. In der Biologie bezieht sich der Begriff auf eine Abstammungsgruppe oder Population, die gemeinsame Vorfahren haben. In der Soziologie werden Alterskohorten, die typische soziokulturelle Merkmale haben, zu Generationen zusammengefasst.
Das Transferobjekt kann materiell oder immateriell sein. In Betracht kommen beispielsweise Gene, Verhaltensweisen, Erfahrungen, Wissen, Gefühle, Traditionen, Kultur, Sprache, Güter, Vermögen und vieles mehr, aber auch, im Sinne des Umweltschutzes die ganze Welt, die ‚von den Kindern nur geliehen ist‘.
Das Thema der 44. Matreier Gespräche erlaubte eine große inhaltliche Vielfalt an Ausarbeitungen und führte zu anregenden Referaten und Diskussionen über die Inhalte, Mechanismen, Bedeutungen und Folgen von Generationentransfers.
Zum Schluss bleibt wieder herzlich zu danken: der Gemeinde Matrei in Osttirol und der Familie Hradecky im Gasthof Hinteregger für die Gastfreundschaft, der Otto-Koenig-Gesellschaft und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern für die Ausrichtung der Tagung, dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Lektorat des Bandes und vor allem den bei der Tagung referierenden Kolleginnen und Kollegen, die wiederum pünktlich ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.
Innsbruck, im Oktober 2019
Für das Herausgeberteam
Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Bernhart Ruso
Gustav Reingrabner
Die Spannung zwischen Traditionen und Aktualität in der (christlichen) Religion
Zusammenfassung
Das was von Jesus, der am Anfang der Kirche steht, bekannt war, musste nach ihm weitergegeben werden. Das sollte bewahrt, aber auch im Verständnis vertieft werden. Wenn die Weitergabe auch durch einige Zeit in mündlicher Form erfolgte, so kam es dann doch dazu, dass das tradierte Gut schriftlich festgehalten wurde. Diese Traditionen wurden freilich weiter bearbeitet und veränderten dabei ihren Charakter, nicht zuletzt deshalb, weil die Tradenten versuchten, sie nach Notwendigkeiten und Vorstellungen zu aktualisieren. Ein Teil des Tradierten wurde auch ausgeschieden oder blieb in der Überlieferung von verschiedenen Teilen in der Kirche bewahrt. Das grundlegende Traditionsgut wurde durch eine deutliche Abgrenzung zu sichern gesucht, was freilich dazu führte, dass ergänzende Interpretationen erfolgten. Das ständige Erfordernis zur Aktualisierung und Harmonisierung mit allgemeinen Entwicklungen hatte freilich die Folge, dass es immer schwieriger wurde, die Aufgabe der Aktualisierung der Traditionen wahrzunehmen.
1
„Jesus schrieb mit dem Finger auf die Erde" (Johannes 8, 6) – das ist im Neuen Testament zu lesen. Freilich löschte er dann seine Eintragung wieder, und das, was er da festgehalten hat, ging verloren. Auch sonst ist nicht bekannt, dass Jesus von Nazareth etwas in schriftlicher Form hinterlassen hat. Alles, was von ihm und was über ihn bekannt ist, ist also auf andere Weise bewahrt worden. Seine Worte wurden von anderen weiter gegeben, zuerst mündlich tradiert, dann aber – in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts – auch schriftlich festgehalten. Freilich haben sie auch dann vermutlich nicht sogleich ihre letztgültige Form erhalten.
2
Die Ursache für diese Weiterentwicklung liegt darin, dass es auf der einen Seite darum gegangen ist, das was von dem Stifter der Religion an Nachrichten vorhanden war, zu bewahren, dass es aber andererseits notwendig war, die Bedeutung dieses Wissens zu erhalten, also dem – zeitlich und lokal – jeweils als aktuell Empfundenen gemäß zu verstehen. Diese Spannung zwischen Tradierung (Weitergabe der Tradition) und Anpassung an aktuelle Verständnisse (Notwendigkeiten) kennzeichnet – wie das auch in anderen Religionen ist – die Entwicklung des Christentums in allen seinen Konfessionen.
3
Die Tradierung erfolgte zunächst über die Generationen hinweg, wobei dafür vor allem die nachfolgenden Faktoren bedeutsam und geschichtswirksam waren: (a) es war die Überzeugung der Glaubenden innerhalb der religiösen Gemeinschaft, (b) es waren innerhalb derselben einzelne Gruppen, dann auch konkrete Institutionen, die um ihre Identität bemüht waren, (c) es waren jene Personen, die versuchten, die vorhandene Tradition inhaltlich immer tiefer zu erschließen, also philosophisch, ethisch und theologisch zu systematisieren.
4
In inhaltlicher Hinsicht erwiesen sich für die Tradition und ihre Ausformung von besonderer Bedeutung: (a) Aussagen über das, was als gemeinsame religiöse Überzeugung geglaubt werden sollte (fides quae creditur), (b) Einstellungen zum Leben und zur Moral (fides qua creditur), (c) Bestimmungen für den rechten Kultus (Formen der Gottesverehrung und der gemeinschaftlichen Feiern), (d) memoriae, also biographische Elemente, so wie sie als exemplarisch angesehen beziehungsweise in dieser Weise benützt werden sollten (konnten).
5
Die unmittelbare Erinnerung an den (anderswo: die) Stifter der Religion wurde durch die Weitergabe in formaler Hinsicht, aber auch in inhaltlicher Weise und in ihrem Charakter verändert. Aus Erlebtem wurde Tradiertes, aus persönlich Erfahrenem wurde Erzähltes, das man von anderen übernommen hat. Das führte zu einer gewissen Objektivierung, für die freilich die Notwendigkeit der glaubhaften Bezeugung immer größere Bedeutung erlangte.
6
Ohne Beteiligung der Tradierenden an der Tradition blieb es freilich nicht, sei es, dass sie eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Übernommenen verbunden, also in dieses eingetragen oder auch ergänzt haben, sei es auch, dass man einzelne Elemente anders beurteilte (in ihrer Bedeutung anders bewertete) und dementsprechend gewisse Akzente verschob.
7
Schon diese Vorgänge zeigen, dass es immer wieder zu Aktualisierungen der Traditionen gekommen ist, und zwar nicht erst in einer zweiten oder dritten Generation der Tradenten, sondern schon unmittelbar bei jenen, mit denen die Tradierung einsetzte. Diese Aktualisierungen wurden fortgesetzt, weil (a) sich die Lebenssituationen veränderten, etwa indem Jünger Jesu nicht mehr in Galiläa oder in Jerusalem lebten, (b) sich die politische Wirklichkeit verschob (etwa durch den Jüdischen Aufstand der Jahre 66– 70 und seine Folgen), (c) sich andere Lebensformen ergeben haben, wie etwa bei den Christen in den griechischen Hafenstädten, (d) die vertieften geistigen beziehungsweise erweiterten kulturellen Verbindungen Auswirkungen zeitigten. Für das letzte enthält das Neue Testament selbst ein sehr hübsches (wenn auch wohl nicht unmittelbar authentisches) Beispiel, nämlich die Rede, die Paulus von Tarsos angeblich auf dem Areopag von Athen gehalten hat (Apostelgeschichte 17, 22–31).
8
Diesen Einsichten oder Notwendigkeiten wurden die Inhalte der Tradition zugeordnet und angepasst. Das konnte zu verschiedenen Zeiten an unterschiedlichen Orten durchaus in verschiedener Weise geschehen, wie es schon die im Neuen Testament enthaltenen ‚Evangelien‘ zeigen. Schließlich ist ja auch nicht zu übersehen, dass die Tradierenden selbst ihre Persönlichkeiten sowie ihre biographischen und anderen (sozialen) Besonderheiten in die Weitergabe der Tradition eingebracht haben. Das ergab sich ja aus der ständig gegebenen Notwendigkeit, die tradierte Botschaft so weiter zu geben, dass ihrem Ziel entsprochen wurde. Und das ist im Neuen Testament so angegeben: „Dies ist geschrieben, dass ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes" (Johannes 20, 31).
9
Nun stand aber Jesus selbst eindeutig in einer religiösen Tradition, die man auf Moses zurückführte. Und er pflegte diese auch – so ist es zumindest überliefert. Er diskutiert und setzt sich mit den ‚Schriftgelehrten und Pharisäern‘ auseinander, also jenen Gruppen, die in seiner Zeit in einem hohem Maße die jüdische Frömmigkeit prägten. Das bedeutete, dass sich die Tradierung von Reden und Taten Jesu von Anfang an mit den Traditionen seiner eigenen Religion verbunden hat. Dabei ist zu beachten, dass das Judentum damals auch in großem Umfang geistige Strömungen aus der umgebenden Welt, wie sie sich seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert (vor allem im Hellenismus) zeigten, geprägt war. Die schriftliche Fixierung der Berichte von Jesus erfolgte sichtlich in jener Sprache, in die auch das heilige Buch der Juden (das ‚Alte Testament‘) übersetzt worden war, nämlich im Griechischen.
10
Mit diesen Motiven lassen sich Quellen, aus denen die Tradierung im Christentum gespeist worden ist, nur für den Anfang beschreiben. Denn schon bald sind andere Motive und Überlegungen, die sich auf die Weitergabe verschiedener Glaubensinhalte und Frömmigkeitsformen auswirkten, geschichtsmächtig geworden. Es handelte sich dann – spätestens ab dem 3. Jahrhundert – um die klassische griechische Philosophie, aber auch – etwa von der gleichen Zeit an – um das römische Denken, das sich durch einen Zug zur Legalität auszeichnete, und schließlich – ab dem 5. Jahrhundert – um germanische Überzeugungen und religiöse Vorstellungen.
11
Dabei war es durch Jahrhunderte so, dass die christliche Religion imstande war, andere (fremde) religiöse Vorstellungen aufzunehmen und – soweit man es für möglich beziehungsweise für sinnvoll erachtete – der eigenen Tradition einzugliedern. Man kann das an vielen Vorgängen zeigen. Es sei in diesem Zusammenhang aber lediglich auf die Entwicklung der Position der Mutter Jesu hingewiesen, die seit dem 4. Jahrhundert nicht nur zur ‚Mutter Gottes‘ (Gottesgebärerin) wurde, sondern auch mit zahlreichen Epitheta Ornantia versehen wurde, die weitgehend aus anderen Religionen übernommen wurden (Stella Maris und andere).
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Die Tradierung von Frömmigkeitsformen und Glaubensinhalten hatte stets eine doppelte Aufgabe: (a) die gewonnene Identität zu bewahren und (b) die Akzeptanz der aktuellen Verkündigung zu sichern. Das erforderte ständig neue Überlegungen und Strukturen, die eben von der Struktur der Institutionen bis zur religiösen Praxis reichten. Dabei ergab es sich von selbst, dass sich eine gewisse Wechselwirkung mit den jeweils vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen herausgebildet hat. Und seit der Aufhebung staatlicher Verfolgungen im Römischen Reich weitete sich die Affinität zu den politischen, sozialen und auch wirtschaftlichen Strukturen des Reiches und der Nachfolgestaaten aus.
13
Von Anfang an wurden recht unterschiedliche Inhalte weiter gegeben. Nicht alles davon stimmte mit anderen Teilen der kirchlichen Tradition überein. Neben recht deutlichen Unterschieden in der Qualität bestanden zudem auch solche in den Inhalten, nicht zuletzt aber in der Emotionalität. Und nicht alles, das übernommen und eine Zeitlang weiter gegeben wurde, erwies sich tatsächlich als der als genuin angesehenen Position der eigenen Religion wirklich entsprechend. Die Üppigkeit der entstehenden und weiter gegebenen Tradierungen wurde in mehrfacher Hinsicht zum Problem. Zum einen drangen synkretistische Vorstellungen aus anderen religiösen Überzeugungen ein und drohten die Identität des Christentums zu untergraben oder zu verwässern. Zum anderen sprengte die Phantasie mancher Interpretationen alle sinnvollen Grenzen von Glauben und Vernunft. Das führte schon sehr früh dazu, dass aus den Traditionen ausgewählt wurde, wobei die tatsächlichen Zuständigkeiten dafür und die bei dieser Auswahl wirksam gewordenen Mechanismen durchaus im Dunkeln liegen. Die Vorgänge dieser sogenannten ‚Kanonbildung‘ sind weitestgehend nicht bekannt.
14
Dieser Prozess lässt sich im Christentum erstmals (gegen das Jahr 140) in einer sehr massiven Weise anhand der Trennung von den Ansichten des Marcion erkennen, der antijüdische und dualistische Vorstellungen durchsetzen wollte, die schon vor der Mitte des 2. Jahrhunderts erfolgte. Er war gewissermaßen der erste, keineswegs aber der einzige, dessen philosophische oder theologische Position ‚von der Kirche‘ als inakzeptabel angesehen und verworfen wurde. Die dann folgende Geschichte der Kirche ist nicht zuletzt eine Kette derartiger Verwerfungen und Verurteilungen – das qualifizierte schon Johann Wolfgang von Goethe so¹.
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Das, was ausgeschieden wurde, verschwand aber nur zu einem geringen Teil. Es wurde manchmal zur Sammelquelle einer Haltung und Überzeugung, die gegen die ‚Großkirche‘ stand, also von dieser sachlich als häretisch und ideologisch als ‚teuflisch‘ verurteilt und verfolgt wurde. Manches war aber so geartet, dass man es zwar nicht als Position der ganzen Kirche vertreten wollte, aber doch nicht als so schädigend beurteilte, dass es nicht noch als Ausdruck des Verhaltens oder einer Lebensführung der einen oder anderen (kleinen) Gruppe innerhalb der Kirche selbst verbleiben konnte. Als Beispiel für eine solche Tolerierung kann die Stellung zur Armut dienen. War man zunächst der Überzeugung, dass die baldige Wiederkunft Christi zum Letzten Gericht den Verzicht auf alle irdischen Güter nahelegte, so wurde das dann zum Ideal von kleinen Gemeinschaften innerhalb der Kirche, die auch andere asketische Vorstellungen pflegten, ohne dass alle Christen dazu verpflichtet wurden. In ähnlicher Weise wurde die Frage der sexuellen Enthaltsamkeit behandelt.
16
Die Vorgänge, in denen bestimmte Formen und Inhalte der Tradition ausgegrenzt wurden, hatten nicht unerhebliche Auswirkungen: (a) Damit wurde eine formale, gegebenenfalls auch eine inhaltliche Abgrenzung der religiösen Position erreicht, was aber bedeutete, dass bestimmte Erscheinungen außerhalb derselben zu stehen kamen. Diese Positionen wurden abgelehnt und – meist – als feindlich beurteilt. (b) Gleichzeitig wuchs damit das Bewusstsein, dass die ganze Kirche eine (mehr oder weniger sichtbare) Einheit (Gemeinschaft) darstellt. Dieses Bewusstsein, das man heute wohl als Identität bezeichnen könnte, sollte sich denn auch in verschiedener Hinsicht zeigen, also einerseits an der Verpflichtung zur Teilnahme an den etablierten Formen des religiösen Lebens (Kult), andererseits aber durch die mehr oder weniger deutliche und umfassende Identifikation mit den Glaubensinhalten und Moralvorstellungen der Gemeinschaft. (c) Damit wuchs auch die Notwendigkeit, die nunmehr eigenommene und abgegrenzte Position zu begründen und zu verteidigen. Der damit gegebene Motivationszwang wurde zu einem bestimmenden Element der Tradierung.
17
Dadurch kam es immer wieder dazu, dass die jetzt bezogenen theologischen oder moralischen Positionen in Texten festgehalten wurden, denen man den Charakter von grundlegenden Verpflichtungen beimaß, was keineswegs nur in der römisch-katholischen Kirche erfolgte. Das bedeutete, dass die Tradierung vorrangig an fixierte Formeln (Texte) gebunden worden ist, die man freilich in mannigfacher Weise umsetzen konnte (auch in Formen der bildenden Kunst oder der Musik). Die direkte Weitergabe von Inhalten an die jeweils nachfolgende Generation trat demgegenüber in den Hintergrund und hielt sich vor allem in Sondergemeinschaften wie Orden oder lokalen Vereinigungen wie Bruderschaften, die freilich unter einer Gehorsamsverpflichtung gegenüber den ‚amtlichen‘ Vertretern der Kirche (Bischöfen) standen. Die fortschreitende Verdichtung der schriftlich fixierten Traditionen und Lehren ließ zwar bestimmte Freiräume für solche eher private Weitergaben, doch musste man immer wieder damit rechnen, dass eine Zurechtweisung erfolgte. Das Verbot von geistlichen Spielen in den Kirchen am Ende des 18. Jahrhunderts durch den Erzbischof von Salzburg war eine solche Unterdrückung bisher tradierten volkstümlich-religiösen Gutes. Er hat damit der reichen – und langen – Tradition von geistlichen Aufführungen in den Kirchengebäuden, die bisher weitgehend geduldet war, die innerkirchliche Existenz genommen.
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Dass es zu immer neuen Abgrenzungen in Strukturen und Inhalten gekommen ist, hatte seine Ursachen. Dabei sah man die damit gegebenen Probleme primär in ideologischer Sicht. Und man suchte den tiefsten Grund in einem fundamentalen weltanschaulichen Streit, der hinter den sichtbaren Dingen gegeben ist und ausgetragen wird. In Wirklichkeit waren es meist jedoch – neben verschiedenen persönlichen Gründen, die in den Persönlichkeitsstrukturen führender Personen gegeben sein konnten – recht deutlich sichtbare handfeste Gründe, die zur Ausbildung derartiger Fundamentaldifferenzen führten. Das konnte die – gegenteilige – Stellung zu geistesgeschichtlichen oder philosophischen Erkenntnissen sein, die aufgebrochen waren; das wurden im Verlauf der Jahrhunderte dann aber zunehmend Probleme, die sich aus neuen Ergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung ergaben. Das konnten aber auch Umbrüche in den Moralvorstellungen sein. Und nicht zuletzt führten Eingriffe von außen, meist also seitens der jeweiligen Machthaber, zu solchen Problemen und Gegensätzen.
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Tatsache ist, dass sich die Weitergabe der Traditionen in neuerer Zeit schwieriger gestaltete. Die Emanzipation vieler Lebensformen von der Verbundenheit mit den grundlegenden religiösen Lehrmeinungen und Einflussmöglichkeiten war ein nur partiell umkehrbarer Prozess, was dazu führte, dass sich die Religion nicht zuletzt aus den gestaltenden Bereichen des Lebens zurückziehen musste, dass religiöse Wertvorstellungen an effektiver Bedeutung und Geltung verloren, dass das wissenschaftliche Ansehen der religiösen Systeme fraglich wurde und dass weite Bereiche der religiösen Traditionen in einen privaten Bereich wanderten, also mehr und mehr individualisiert wurden (Durchsetzung der Parole ‚Religion ist Privatsache‘).
20
Äußerliche Umstände unterstützten diese Bewegungen, die mit der Erweiterung des Weltbildes durch die Kolonisation der frühen Neuzeit und durch die Konfessionsbildung in Mittel- und Westeuropa begann, nicht zuletzt aber durch die Enthierarchisierung der Lebensformen Verbreitung fand. In den Religionen wurde die Spannung zwischen Tradition und Aktualisierung deutlicher, ja zerbrach an gar manchen Stellen. Dazu trug nicht zuletzt das Abreißen häuslicher Formen der Religiosität in weiten Teilen Europas bei. Das setzte in Westeuropa im 17. Jahrhundert ein und betraf zunächst die Bewohner der Städte, in denen es zunächst noch durch eine gesteigerte organisierte Frömmigkeit ersetzt wurde, erreichte aber spätestens im 20. Jahrhundert auch weite Teile des ländlichen Raumes in Mitteleuropa. Die Weitergabe der religiösen Traditionen über die Generationen hinweg, die durch Jahrhunderte von besonderer Wichtigkeit war, funktioniert – wenigstens im ‚christlichen‘ Europa – nur mehr in wenigen Familien und Häusern, zumal es ja keine ‚Häuser‘ als Lebensform mehr gibt (Überwiegen der Einpersonenhaushalte!).
21
In den Religionen erfolgten durchaus unterschiedliche Reaktionen auf die damit gegebenen Veränderungen. Entscheidend wurde dabei die Frage der Einstellung zu der allgemeinen geistigen Situation, gelegentlich überlagert von der Frage der Beziehung zu den politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten (Mächten). Dabei war es so, dass sich einerseits interne Rückzugszonen ausbildeten, also Gruppen in der religiösen Gemeinschaft (die durchaus bis an deren strukturelle Spitzen reichen konnten), die für eine möglichste Abschottung von ‚der Welt‘ eintraten und meinten, mit einer derartigen Distanzierung die Zukunft der eigenen religiösen Haltung (und ihrer Institutionen) sichern zu können. Andererseits gab es Bemühungen, einen Ausgleich zwischen der kirchlichen Position und der Haltung der nichtreligiösen Gesellschaft zu finden. Allein die Tatsache, dass diese Haltungen auch innerhalb ein und derselben Konfession bestehen konnten, zeigt die Unsicherheit, mit der man auf die jeweils zeitgleichen allgemeinen Entwicklungen und die Veränderungen in Bezug auf die Stellung von Religion und Kirche reagierte – es gibt also anscheinend keine wirklich zureichende Antwort auf die Entwicklung, dass die religiösen Traditionen (a) nicht mehr in zureichender Weise weiter gegeben werden, und/oder (b) sich weithin als unzureichend zur ‚Meisterung des Lebens‘ erweisen.
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Die Konsequenzen der einen Haltung führen die Religion in eine abgegrenzte ‚Provinz‘, bedeuten also letztendlich eine Ghettoisierung der Religion, damit aber auch eine Marginalisierung ihrer Bedeutung. Lediglich dann, wenn es gelingt, eine große Zahl von Anhängern für diese Haltung zu gewinnen, kann das gesellschaftsbestimmend und geschichtsmächtig sein. Beispiele dafür finden sich derzeit in der islamischen Welt – freilich können diese Länder vor allem aufgrund der aktuell gegebenen materiellen Gegebenheiten (Energiegewinnung) auf diese Weise bestehen. Wie lange das der Fall sein wird, bleibt abzuwarten.
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Die Konsequenzen der anderen Einstellung führen letztlich zu einer Einebnung der