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Gruppen und Teams professionell beraten und leiten: Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis
Gruppen und Teams professionell beraten und leiten: Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis
Gruppen und Teams professionell beraten und leiten: Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis
eBook519 Seiten5 Stunden

Gruppen und Teams professionell beraten und leiten: Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis

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Über dieses E-Book

Wer in und mit Gruppen arbeitet, erlebt Gruppendynamik – mal erfreulich, mal erschreckend. Welche Kräfte wirken in Gruppen und Teams? Und wie können sie konstruktiv gesteuert werden?


Rosa Budziat und Hubert Kuhn unterstützen mit ihrem Wissen aus der gruppendynamischen Forschung und Praxis diejenigen, die mit Gruppen arbeiten – seien es Coaches, Berater/ -innen, Gruppenleiter/ -innen von Ausbildungsgruppen oder Mitglieder beziehungsweise Führungskräfte eines Teams.


Sie erläutern, wie man Dynamiken in einer Gruppe leichter erkennen und besser verstehen kann – getreu einem Leitsatz von Kurt Lewin, dass nichts praktischer als eine gute Theorie ist. Und sie zeigen, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, in und mit Gruppen und Teams effektiv und rundum zufriedenstellend zusammenzuarbeiten.


Rosa Budziat und Hubert Kuhn gewähren einen Blick in ihren umfangreichen Methodenkoffer, außerdem verdeutlichen viele Fallbeispiele, wie die gruppendynamische Sicht auf Gruppen und Teams in der systemischen Praxis angewandt werden kann.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2022
ISBN9783647993560
Gruppen und Teams professionell beraten und leiten: Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis
Autor

Rosa Budziat

Rosa Budziat ist Diplom-Sozialpädagogin, Gruppendynamische Trainerin (DGGO), Psychodramaleiterin (DFP) und systemische Supervisorin und Coach (DGSv). Als Moderatorin und Beraterin verfügt sie über langjährige Führungserfahrung in der Jugend- und Erwachsenenbildung, leitet Fort- und Weiterbildungen an verschiedenen Weiterbildungsakademien und arbeitet beratend in vielfältigen Anwendungs- und Praxisfeldern. Sie ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Supervision, der Deutschen Gesellschaft für Gruppen- und Organisationsdynamik, im Deutschen Fachverband für Psychodrama. und Weiterbildungsleiterin am Moreno Institut Stuttgart.

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    Buchvorschau

    Gruppen und Teams professionell beraten und leiten - Rosa Budziat

    1Einführung: Keine Angst vor Gruppendynamik!

    Viele Menschen, die mit Gruppen arbeiten, kennen Gruppendynamik nur als etwas, das sich zeigt, wenn es in Gruppen anstrengend wird. Wenn die Arbeit an der Sache stockt, Konflikte auftauchen, die einzelnen Gruppenmitglieder sich in die Haare kriegen und vermeintlich nichts mehr geht, heißt es oft: »Da war aber mal ordentlich Gruppendynamik!«

    Gruppendynamik ist jedoch viel mehr als Stress und Konflikte in Gruppen und Teams. Sie ist immer da, sobald drei oder mehr Menschen über eine längere Zeit und mit einem gemeinsamen Ziel zusammen sind. Gruppendynamik sind all die Beziehungen zwischen den Menschen, ihre Kommunikation, die (unausgesprochenen) Regeln und Rituale und die Art und Weise, wie die Menschen in der Gruppe miteinander umgehen. In der heutigen Arbeitswelt gewinnt gruppendynamische Kompetenz nach Amy Edmondson an Bedeutung: »Die Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen verbringen heute 50 % mehr Zeit damit, mit anderen zusammenzuarbeiten als noch vor 20 Jahren« (2020, S. XIV). Daher braucht es die professionelle Kompetenz, Gruppen und Teams zu beraten oder zu leiten.

    Gruppendynamik ist auch eine Forschungsrichtung der Sozialpsychologie, der sich seit Anfang des letzten Jahrhunderts viele Praktiker und Wissenschaftlerinnen¹ angenommen haben. Als Pioniere und Pionierin der Gruppendynamik und Gruppentherapie gelten Kurt Lewin, Jacob Levy Moreno und Ruth Cohn. Kurt Lewin kann auch als früher Systemiker gesehen werden (vgl. Kriz, 2015).

    Die systemische Therapie hat sich seit den 1950er Jahren einen ernstzunehmenden Platz in der Psychotherapielandschaft erobert – mit einer wissenschaftlich nachweisbaren Wirkung und der formalen Anerkennung als Psychotherapieverfahren. In der klassischen Familientherapie standen anfangs, wie der Name bereits verrät, Familien im Zentrum. Daraus entwickelte sich die systemische Familientherapie mit einem deutlich weiteren Fokus. Mit ihrem Instrumentarium will die systemische Familientherapie auch für andere soziale Systeme hilfreich sein, in denen Menschen intensivere Beziehungen entwickelt haben (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2019, S. 21).

    Der systemische Ansatz hat entscheidend dazu beigetragen, soziale Systeme besser zu verstehen, und viele nützliche ressourcen- und lösungsorientierte Methoden hervorgebracht. Gleichzeitig wird der Gruppe als eigenständiges soziales System aus unserer Sicht im systemischen Denken zu wenig Beachtung geschenkt. Ähnliches erlebten wir in unseren eigenen Ausbildungen in systemischer Therapie und Beratung und bis heute wird dieses Thema in entsprechenden Weiterbildungen eher am Rande behandelt. Systemische Beratung und Gruppendynamik haben sich – leider – auseinanderentwickelt.

    1.1 Warum dieses Buch?

    Dieses Buch will diese Lücke schließen und plädiert für eine Annäherung der beiden Arbeitsfelder. Sowohl die Gruppendynamik kann von einer systemischen Sichtweise und Haltung profitieren als auch die systemische Beratung von der Gruppendynamik. Gruppendynamik sehen wir als »angewandte systemische Praxis« in Gruppen und Teams (vgl. Schattenhofer, 1992). Wenn Sie also Lust haben, Ihre Kompetenzen in diesem Bereich auszubauen, liegen Sie mit diesem Lehr- und Praxishandbuch genau richtig.

    Als Lehrbuch stellt es wichtige Modelle, Konzepte und Erkenntnisse gruppendynamischer Forschung vor. Als theoretisch interessierte, praxisorientierte Fachmenschen bieten wir ein Modell an, wie Gruppen und Teams systemisch verstanden werden können, ohne den Anspruch zu erheben, eine ausgearbeitete systemische Theorie der Gruppendynamik vorzulegen. Vielmehr wollen wir mit dem Wissen aus der gruppendynamischen Forschung und Praxis diejenigen unterstützen, die mit Gruppen arbeiten – seien es Coaches, Berater, (Ausbildungs-)Leiterinnen von Gruppen oder Mitglieder beziehungsweise Führungskräfte von Teams. Wir stellen vor, wie man die Kräfte in einer Gruppe leichter erkennen und besser verstehen kann, getreu einem Leitsatz Kurt Lewins: »Nichts ist praktischer als eine gute Theorie!« (vgl. Marrow, 2002, S. 145). Und wir erläutern, wie es gelingt, Gruppen und Teams in eine konstruktive Richtung zu steuern.

    Als Praxishandbuch illustriert unser Buch anhand zahlreicher Fallbeispiele, wie eine gruppendynamische Sicht auf Gruppen und Teams angewendet werden kann. Es bietet außerdem einen Blick in unseren Methodenkoffer. Wir beraten, trainieren und leiten seit über dreißig Jahren professionell Gruppen und Teams in unterschiedlichen Organisationen. Mit unseren – meist – erfreulichen Erfahrungen wollen wir nicht nur die Theoriemodelle veranschaulichen, sondern auch zeigen, wie wir mit Fragen wie folgenden umgehen:

    •Wie kann ich in einem Teamcoaching, einer Teamsupervision die Dynamik in der Gruppe konstruktiv thematisieren, ohne dass das Team auseinanderfliegt?

    •Wie kann ich Konflikte im Team als Chance für Kontakt und Klärung verstehen und nutzen?

    •Wie kann ich jenseits strukturierter Methoden das Hier und Jetzt in der Zusammenarbeit ansprechen und die Gruppe befähigen, sich selbst zu steuern und den eigenen Gruppenprozess mitzugestalten?

    •Was erleichtert Spontaneität und macht Lust, sich in Gruppen miteinander auseinanderzusetzen und auch heikle Themen anzugehen?

    •Wie kann ich meine Gefühle und Ambivalenzen gegenüber einer Gruppe auch für die Arbeit mit dieser Gruppe diagnostisch nutzen?

    Um herausfordernde Situationen in Gruppen mit weniger Angst aushalten und gestalten zu können, ist ein gutes Auge für und Wissen um Gruppenprozesse aus unserer Sicht eine wesentliche Kompetenz für Menschen, die mit Gruppen und Teams arbeiten.

    Für uns war es neben unseren mehrjährigen systemischen Ausbildungen ein großer Gewinn, uns intensiv und professionell zum Trainer bzw. Trainerin für Gruppendynamik nach den Standards der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik weiterzubilden.

    Gruppendynamik ist das Interessanteste, das wir erleben, wenn wir in Gemeinschaft oder Gruppen leben und/oder arbeiten. Ohne die dynamischen, sich ständig verändernden Prozesse zwischen mehreren Menschen wäre nichts lebendig.

    Gern machen wir allen, die professionell mit Gruppen arbeiten, Mut, sich mehr als bisher der Gruppendynamik zu widmen und das Potenzial der Gruppe zu erkennen und auszuschöpfen.

    1.2 Ein Überblick über das Buch

    Unser Buch entfaltet sich in neun Kapiteln. In Kapitel 2 Die Sicht auf Gruppen, erläutern wir unterschiedliche Sichtweisen auf Gruppen. Dazu wenden wir uns zunächst dem systemischen Verständnis von Gruppen zu. Wir untersuchen vier einflussreiche Richtungen der Systemtheorie und der darauf aufbauenden systemischen Beratung. Je nachdem, ob Systeme aus handelnden Personen, Kommunikationen, Geschichten oder als Selbstorganisationsprozesse verstanden werden, wird eine Gruppe oder ein Team unterschiedlich definiert.

    Nach der systemischen Perspektive beleuchten wir, wie Gruppendynamik im Alltag, in Literatur und Film, in der Wissenschaft und in der Erwachsenenbildung verstanden wird. In einem kleinen historischen Exkurs stellen wir wichtige Persönlichkeiten humanistischer Gruppenverfahren vor und skizzieren, wie sich das Verständnis von Gruppendynamik in Deutschland entwickelt hat. Nach unserer Sicht auf Gruppen und Teams als Grundlage für die weiteren Ausführungen beschreiben wir die Gemeinsamkeiten in der systemischen und gruppendynamischen Denkweise.

    Unser Modell systemischer Gruppendynamik stellen wir in Kapitel 3 vor. Aufbauend auf deutsch- und aktueller englischsprachiger Forschung zeigen wir, wie die Komplexität einer Gruppe konzeptionell schlüssig erfasst werden kann. Wir verbinden darin die Tiefendimension, das, was unter der Oberfläche des Sachthemas in Gruppen und Team geschieht, mit der horizontalen Dimension, wie sich Gruppen und Teams entwickeln. Zusätzlich wollen wir die Einflüsse des Kontexts erfassen, da es zu kurz greift, nur auf das Beziehungsgeschehen, auf die Gefühle Einzelner oder eine Entwicklungsphase zu rekurrieren.

    Kapitel 4 Gruppendynamische Prozesse erkennen und verstehen, wendet sich den wichtigsten gruppendynamischen Konzepten und Modellen zu. Wir zeigen, welche sozialpsychologischen Erkenntnisse für das Verständnis unserer systemischen Gruppendynamik hilfreich sind. Um den Blick dafür zu schärfen, welche Prozesse in Gruppen und Teams unterhalb der Sachebene ablaufen können, beschreiben wir den soziodynamischen Eisberg, den gruppendynamischen Raum sowie Strukturen in Gruppen und Teams. Bezüglich der Phänomene auf der unbewussten Ebene wird es um Alpha- und Omega-Positionen, Grundannahmen für Gruppen und eine alle verbindende Gruppenmatrix gehen, die das sichtbare Geschehen beeinflusst.

    Die Frage, wie sich Gruppen und Teams entwickeln, wird in der sozialpsychologischen Forschung unterschiedlich beantwortet. Am bekanntesten ist das Gruppenmodell von Bruce Tuckman mit den Phasen forming, storming, norming und performing. Diese Entwicklungsphasen von Gruppen können jedoch nicht einfach auf Teams übertragen werden. Hier zeigen neuere Forschungen, wie Teamprozesse besser zu erkennen und zu verstehen sind.

    Neben der vertikalen und horizontalen Betrachtung spielen schließlich auch die Wirkungen des Kontexts eine Rolle, sowohl für Gruppen als auch insbesondere für Teams. Es gilt, die Einflüsse der Organisationsdynamik, von Aufgabe, Kontext und (agilen) Arbeitsweisen angemessen zu berücksichtigen.

    Nachdem wir eine fundierte theoretische Basis gelegt haben, wenden wir uns der Praxis gruppendynamischen Arbeitens zu. In Kapitel 5 Gruppendynamische Diagnosekompetenz: Worauf achten wir?, zeigen wir, mit welchen Brillen wir auf Gruppen und Teams blicken. Dabei verstehen wir Diagnose nicht medizinisch, im Sinne der Feststellung einer Krankheit, sondern im ursprünglichen Wortsinn, das Wesentliche zu erkennen und zu beurteilen. Gemäß Daniel Kahnemans Ansatz des schnellen und langsamen Denkens bieten wir durch die Forschung bestätigte Verständnishilfen und Heuristiken an, um irreführende Kurzschlüsse in der Diagnose zu verhindern (2012).

    Nach dem Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln (CAJ, 2018) untersucht das Kapitel 6 Gruppendynamische Prozesse steuern: Die Rolle der Leitung in der Gruppendynamik, woran sich gruppendynamische Leitung in ihrem Handeln orientiert. Unser Ziel ist es, Leitplanken für gruppendynamische Interventionen zu geben, um die Dynamik in einer Gruppe oder einem Team hin zu mehr Selbststeuerung lenken zu können. In der Intervention sehen wir die wesentlichen Unterschiede zwischen systemischer und gruppendynamischer Kompetenz. Wer lernen will, anspruchsvolle gruppendynamische Prozesse zu steuern, findet hierzu Hinweise.

    Einen Blick in unsere gruppendynamisch orientierte Beratungs- und Trainingspraxis gewährt Kapitel 7 Gruppendynamisch mit Prozessen und mit gruppendynamischen Prozessen arbeiten. Nach einem Blick auf die Auftragsklärung als wichtige Basis der weiteren Arbeit beleuchten wir das Vorgehen in verschiedenen Feldern: Es wird um die Beratung von Einzelnen, Gruppen oder Teams, Erwachsenenbildung und Personalentwicklung, Moderationen, Projekt- und Changemanagement gehen. Wie gruppendynamisches Wissen für ein Teammitglied oder eine Führungskraft hilfreich sein kann, wird ebenfalls skizziert.

    Auch wenn schon das eine oder andere Buch zu Gruppenmethoden auf dem Markt ist, wollen wir in Kapitel 8 Methoden für die systemische Arbeit mit Gruppen, unsere persönlich erprobten Lieblingsmethoden vorstellen. Sie zeigen, wie wir Anfang, Diagnose, Prozessreflexion, Feedback und Abschluss handwerklich gestalten, und sollen damit auch zur eigenen Kreativität anregen.

    Mit dem Schlusswort in Kapitel 9 sowie einem Glossar der wichtigsten Begriffe, weiteren Literaturhinweisen, Stichwort- und Literaturverzeichnis runden wir das Buch ab.

    1Anmerkung zur gendergerechten Sprache: Wir nutzen in diesem Band die weibliche und männliche Form im Wechsel. Wir wollen einer sinnvollen Gendersensitivität Respekt erweisen und gleichzeitig die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen. Unsere Leserinnen und Leser sind eingeladen, diesen beständigen Perspektivwechsel zwischen weiblichen und männlichen Akteuren mitzuvollziehen.

    2Die Sicht auf Gruppen

    2.1 Systemisches Verständnis der Gruppe

    Ein System mit der griechischen Wurzel »sýstēma (σύστημα)« wird vom Deutschen Wörterbuch als ein in sich geschlossenes, geordnetes und gegliedertes Ganzes definiert, als ein Gefüge von Teilen, die voneinander abhängig sind, ineinandergreifen oder zusammenwirken (vgl. Wahrig, 1986).

    Wie geht nun die Theorie systemischer Therapie oder Beratung mit Gruppe um? Aus der anfänglichen Konzentration der Familientherapie auf Familien entwickelte sich der Anspruch, auch für weitreichendere soziale Systeme wie Gruppen und Organisationen hilfreich zu sein.

    Im Folgenden werden vier bedeutende systemische Theorierichtungen² skizziert:

    •die personorientierte Systemtheorie,

    •die kommunikationsorientierte Systemtheorie,

    •die narrative Systemtheorie und

    •die synergetische Systemtheorie.

    Und diese Fragen werden wir dabei genauer betrachten:

    •Was sind die Grundaussagen dieser systemischen Denkrichtung?

    •Wie wird aus dieser Sicht ein soziales System definiert?

    •Wie ist damit eine Gruppe zu verstehen?

    2.1.1 Personorientierte Systemtheorie: Systeme handelnder Personen

    Ausgehend von der »Allgemeinen Systemtheorie«, die der Biologe Ludwig von Bertalanffy als universale Erkenntnistheorie entwickelte (1972), wollte der Anthropologe Gregory Bateson den universalen Systembegriff auf soziale Systeme übertragen. Zusammen mit dem Psychiater Don D. Jackson formulierte er die erste systemtheoretische Darstellung von Kommunikation (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1996; Bateson, 1994).

    In der Familientherapie wurde die Theorie Batesons ausführlich rezipiert und darauf aufbauend unterschiedliche therapeutische Richtungen entwickelt:

    strategische Familienther apie nach Jay Haley,

    entwicklungsorientierte Familientherapie nach Virginia Satir,

    Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer.

    Einen geringeren Einfluss hatte Bateson unter anderem auf die Mailänder Schule (Selvini Palazzoli, 1996; Tomm, 1994), die strukturelle Familientherapie (Minuchin, 1977) und die stärker psychoanalytisch ausgerichtete Heidelberger Schule (Simon u. Stierlin, 1995).

    Neben der expliziten systemischen Familientherapie beeinflusste Bateson Kommunikationsmodelle, wie zum Beispiel das vielleicht bekannteste von Friedemann Schulz von Thun (1981) und auch viele Coachingkonzepte. Nach der »personzentrierten Systemtheorie« von Jürgen Kriz sind »Regelmäßigkeiten und Muster in sozialen Systemen stets auch persönlicher Ausdruck der beteiligten Individuen« (Kriz, 2016, zit. n. König u. Volmer, 2016, S. 250). Auf dieser Basis entstand die »Systemtheorie für Coaches und Führungskräfte« (Kriz, 2016; 2020).

    König und Volmer stützen sich in der systemischen Organisationsberatung explizit auf den Systembegriff in der Tradition von Bateson (vgl. König u. Volmer, 1996, S. 35; 2016, S. 251).

    Bateson definiert soziale Systeme mit den Standardbegriffen der allgemeinen Systemtheorie und Kybernetik: Element, Regelkreis und Rückkoppelung. Das System Familie war für ihn das Standardbeispiel für soziale Systeme, die er als »kybernetische Systeme« bezeichnete (vgl. Bolbrügge, 1997, S. 70).

    In der neueren Literatur der personorientierten Systemtheorie wird ein soziales System wie die Gruppe so beschrieben:

    •Die relevanten Personen bestimmen das Verhalten in einem sozialen System.

    •Sie handeln auf der Basis ihrer subjektiven Deutungen, Gedanken und Empfindungen hinsichtlich ihrer Wirklichkeit.

    •Offene oder verdeckte soziale Regeln begrenzen das Verhalten in einem sozialen System.

    •Aus subjektiven Deutungen und sozialen Regeln entwickeln sich wiederkehrende Verhaltensmuster (Regelkreise).

    •Die materielle und soziale System-Umwelt beeinflusst das soziale System.

    •Wie sich das System entwickelt, hat eine Bedeutung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Simon, 2014, S. 113; König u. Volmer, 2016, S. 14 ff., 220 ff.).

    Personorientierte Systemtheorie und Gruppe: Aus der personorientierten Systemtheorie nach Bateson entsteht eine Gruppe aus wiederkehrenden Interaktionen der Gruppenmitglieder. Diese Interaktionen richten sich nach offenen oder verdeckten sozialen Regeln und sind Ergebnisse der jeweils subjektiven Wirklichkeitsbilder und Deutungen. Die Gruppe lässt sich von ihrer Umwelt abgrenzen, beeinflusst diese, wird von dieser beeinflusst und entwickelt sich.

    2.1.2 Kommunikationsorientierte Systemtheorie: System aus Kommunikationen

    Der zweite Ansatz von wesentlicher Bedeutung für die Systemtheorie, insbesondere im deutschsprachigen Raum, ist die Theorie des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998).

    Luhmann will das systemische Denken nicht auf biologische Systeme, sondern auch auf psychische und soziale Systeme anwenden. Die drei Systembereiche Leben, Bewusstsein und Kommunikation versteht er als eigenständige, sich selbst organisierende Systeme, die jeweils füreinander bedeutsam sind (vgl. Luhmann, 2002; Schlippe u. Schweitzer, 2019, S. 28 ff.; Simon, 2014, S. 40 f.).

    Durch folgende Merkmale werden soziale Systeme definiert:

    •Systeme entstehen durch die »Differenz von System und Umwelt« (Luhmann 1987, S. 35). Die Figur (System) wird erst auf dem Hintergrund (Umwelt) unterscheidbar. Diese Unterscheidung trifft eine Beobachterin nach subjektiven Kriterien. Zentraler Fokus hier ist die Abgrenzungsleistung von System und Umwelt (vgl. Barthelmeß, 1999, S. 17).

    •Kommunikationen sind die kleinsten Einheiten in einem sozialen System. Ein Team, eine Familie konstituiert sich aus sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikationsereignissen von kurzer Dauer, die von anderen Kommunikationen abgelöst werden (vgl. Luhmann 1987, S. 240; Kneer u. Nassehi, 1997, S. 91 ff.).

    •Soziale Systeme sind selbstreferenziell. Das heißt, die Elemente des Systems werden durch das System selbst erzeugt (vgl. Luhmann, 1987, S. 57 ff.).

    •Luhmann setzt diese Selbstreferenzialität gleich mit Autopoiese, was auch mit der Fähigkeit zur Selbsterzeugung und Selbsterhaltung übersetzt werden kann (vgl. Barthelmeß, 1999, S. 25 ff.).

    •Jedes soziale System reduziert Komplexität, um sich selbst zu erhalten.

    •Aus der Vielzahl möglicher Kommunikationen werden in einem System nur bestimmte Kombinationen zugelassen (vgl. Luhmann, 1987, S. 45 ff.; Kneer u. Nassehi, 1997, S. 40 ff.).

    Sowohl für die interne Auswahl relevanter Kommunikationen als auch für die Grenzziehung zur Systemumwelt orientieren sich soziale Systeme an Sinn (vgl. Luhmann, 1987, S. 94 f.). Ein Wirtschaftsunternehmen orientiert sich zum Beispiel an der Sinnstruktur Maximierung des Gewinns. Die Bearbeitung kann innerhalb der Organisation an unterschiedliche Subsysteme delegiert und unterschiedlich gehandhabt werden, wie zum Beispiel die Kosten zu minimieren oder die Einnahmen zu maximieren sind.

    Wie Sinn im System bearbeitet wird, orientiert sich an drei Dimensionen:

    •der Sachdimension: relevant – irrelevant,

    •der Zeitdimension: vorher – nachher und

    •der sozialen Dimension: Konsens – Dissens.

    Sie können zwar getrennt analysiert, jedoch nicht voneinander isoliert werden. Das soziale System knüpft an die jeweiligen Ergebnisse in diesen Dimensionen selbstreferenziell an, das heißt selbsterzeugend und selbsterhaltend (vgl. Luhmann, 1987, S. 114 ff.).

    Luhmann unterscheidet weiterhin drei Typen von Sozialsystemen:

    •Interaktion unter Anwesenden,

    •Organisation als Kommunikation unter Mitgliedern und

    •Gesellschaft als Kommunikation unter Abwesenden (vgl. Baecker, 2012, S. 387 ff.).

    Die Interaktion unter Anwesenden entspricht dem Sozialsystem Gruppe, wobei der Gruppenbegriff bei Luhmann stets unscharf blieb (vgl. Wimmer, 2012, S. 146).

    Die Theorie Luhmanns wurde neben der Soziologie auch in der Pädagogik und Betriebswirtschaftslehre ausführlich diskutiert. Ihre Stärke liegt darin, den Fokus auf Kommunikationsprozesse und Interaktionsstrukturen zu legen. Damit erschwert es dieses Modell, Probleme zu individualisieren und zu psychologisieren, wie es beispielsweise in der Aussage »Herr Müller ist schuld, wenn er nur nicht so schwierig wäre, hätten wir kein Problem!« zum Ausdruck kommt.

    Vor allem systemische Praktikerinnen kritisieren an Luhmanns kommunikationsorientierter Systemtheorie, dass die handelnden Subjekte fehlen, es sozusagen eine »abstrakte Theorie ohne Menschen« ist (vgl. Harramach, Köttritsch u. Velickovic, 2019, S. 8). Dies trifft jedoch nur teilweise zu.

    Personen sind für Luhmann »psychische Systeme« (vgl. Luhmann, 1987, S. 155), die eine relevante Umwelt des sozialen Systems bilden. Treffend wird dies hier formuliert: »Wir sprechen nicht von ›Psychisierung‹, sondern von ›Personalisierung‹ sozialer Systeme, wenn es darum geht, die Abhängigkeit der Reproduktion des kommunikativen Sozialsystems von den personalen Attributionen der Beteiligten zum Ausdruck zu bringen« (Luhmann, 1987, S. 155). Etwas einfacher ausgedrückt heißt dies, dass die Personen die Kommunikationen im Sozialsystem aufrechterhalten oder auch ändern.

    Die Psyche eines Menschen und die Kommunikationsmuster in seiner Familie oder seinem Team stehen in einer mehr oder weniger freud- oder leidvollen Beziehung zueinander, sie haben Einfluss aufeinander und sind doch getrennt. Dies meint der Begriff der strukturellen Kopplung: Das psychische und das soziale System stellen beide eigenständige, autopoietische Systeme dar, die sich wechselseitig beeinflussen und irritieren können (vgl. Simon, 2014, S. 41 f.).

    Kommunikationsorientierte Systemtheorie und Gruppe: Nach der Sichtweise der kommunikationsorientierten Systemtheorie entsteht eine Gruppe aus den wiederkehrenden Kommunikationen der Mitglieder der Gruppe. Über die Dauerhaftigkeit und einen kommunikativ erzeugten gemeinsamen Existenzgrund, der weiteres Zusammenwirken erforderlich macht, werden feste Zugehörigkeitsgrenzen ausgeprägt, die das »Emergenzniveau Gruppe« entstehen lassen (vgl. Wimmer, 2012, S. 146). Das heißt, die Gruppe besteht nicht aus den Mitgliedern an sich, sondern entsteht emergent aus den sich wiederholenden Kommunikationen unter diesen Mitgliedern.

    Interessant sind aktuelle Forschungen, die den Versuch unternehmen, Gruppe als soziales System soziologisch zu definieren und dafür auch bisher unveröffentlichtes Material Luhmanns³ zu verwenden (vgl. Kühl, 2020). Das Ziel ist, die Renaissance der Gruppe in der systemtheoretisch orientierten Soziologie theoretisch und konzeptionell zu begründen.

    Gruppe wurde in der Soziologie bisher eher weit und unscharf als Oberbegriff für soziale Beziehungen gefasst. Unterschieden wird nach der Größe, Dauer und Struktur von Gruppen. In der engsten Fassung wird Gruppe als ein System gesehen, dessen Mitglieder eine persönliche Beziehung zueinander haben (vgl. Kühl, 2020, S. 2). George C. Homans formuliert es so: »Unter einer Gruppe verstehen wir eine Reihe von Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne häufig miteinander Umgang haben und deren Anzahl so gering ist, dass jede Person mit allen anderen in Verbindung treten kann, und zwar nicht nur mittelbar über andere Menschen, sondern von Angesicht zu Angesicht« (1968, S. 29). Aus dieser Notwendigkeit von Face-to-face-Interaktionen kann auch ein Rückschluss auf die maximale Zahl von Gruppenmitgliedern gezogen werden.

    Nach Luhmann ist das Grundmerkmal der Kommunikation in einer Gruppe die »personale Orientierung«. Im Unterschied zu flüchtigen sozialen Begegnungen etablieren Gruppen dauerhafte Kommunikationen, um die Bedürfnisse der Gruppenmitglieder zu erfüllen.

    Die persönlichen Bedürfnisse bezeichnet Luhmann als »Selbstdarstellung«: als Person wahrgenommen zu werden und nicht nur als Funktionseinheit, zum Beispiel in einer Organisation (vgl. 2008). Ein konstitutives Merkmal von Gruppe ist die sich wiederholende Interaktion, Kommunikation ihrer Mitglieder: »Eine Gruppe ist also definiert durch die Interaktion der Teilnehmer« (Homans, 1968, S. 102).

    In dieser Kommunikation bilden sich für diese Gruppe spezifische Normen und Muster aus (→ 4.1.2 Normen, Rollen und Status), das »normative Erwartungssystem« (vgl. Neidhardt, 1983). Diese Normen ermöglichen und begrenzen gleichzeitig die individuelle Selbstdarstellung der Mitglieder. Bestimmte Themen können, ja sollen innerhalb der Gruppe thematisiert werden, andere Themen gehören wiederum nicht zu den besprechbaren Themen der Gruppe. Arbeitsbezogene Teams können von Gruppen abgegrenzt werden, da in einem Team formale Themen und in einer Gruppe persönliche Themen dominieren. Eine ähnlich persönliche Orientierung wie Gruppen haben Familien, allerdings ist hier der Rekrutierungsmechanismus deutlich anders.

    Aufgrund ihrer personalen Orientierung sind Gruppen durch den Wechsel eines Mitglieds stärker betroffen oder auch bedroht als ein auf funktionale Erfordernisse bezogenes Team. Gerade bei dieser Gegenüberstellung der persönlichen Gruppe und des funktionalen Teams lässt sich fragen, ob ein Team nicht gerade dann besonders arbeitsfähig und erfolgreich wird, wenn eben interpersonales Vertrauen entsteht, sozusagen das Team zur Gruppe wird.

    2.1.3 Narrative Systemtheorie: System aus Geschichten

    Anders als die naturwissenschaftlich-biologischen oder soziologischen Wurzeln der bisher genannten systemischen Theorien knüpft die narrativ orientierte systemische Theorie und Therapie an die Wurzeln der Psychotherapie an: den Geschichten der Patienten.

    Schon Sigmund Freud ließ sich in seiner »Redekur«, wie die Psychoanalyse in den Anfängen auch genannt wurde, ausführlich die Geschichten seiner Patientinnen erzählen. Wie schildert der Patient seine Biografie, welchen Ereignissen wird welche Bedeutung beigemessen, welchen Sinn ergibt die Geschichte für die Patientin? Die sogenannte »narrative Psychologie« entwickelte sich in den 1980er Jahren aus dem Blick auf die psychoanalytischen Anfänge und die geisteswissenschaftlichen Bezüge der Psychotherapie. Hinzu kamen die Arbeiten von Kenneth Gergen zum sozialen Konstruktivismus (vgl. 2002).

    In einer narrativen Paartherapie steht zum Beispiel im Zentrum, jeweils die Geschichten des Partners oder der Partnerin in der Tiefe zu verstehen und eine gemeinsame Paargeschichte zu entwickeln.

    Folgende Therapeutinnen und Therapeuten prägten diese systemischen Therapierichtung: Michael White, australischer Sozialarbeiter und Psychotherapeut (1948–2008) galt als einer der Wegbereiter des narrativen Ansatzes in der systemischen Therapie. In den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte er die »Problem-Geschichte« und die darin enthaltene Perspektive auf die Identität des Klienten. Zusammen mit David Epston entwarf er unterschiedliche Methoden und »Sprachspiel-Angebote«, um die bisherige problemerhaltende Struktur der Identitätserzählung hinsichtlich des Problems zu verändern (vgl. White, 2007; Epston u. White, 1990). Viele dieser Methoden wie die, »das Problem zu externalisieren«, oder Ausnahmen von der dominanten Problemgeschichte zu finden, sind fest im heutigen systemischen Methodenrepertoire verankert.

    Einen vielleicht noch größeren methodischen Stellenwert errang die lösungsfokussierte Therapie von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg. In sehr radikaler Weise betonten sie »Lösungsgeschichten statt Problemgeschichten« und entwickelten daraus ihren Ansatz der Kurzzeittherapie (vgl. De Shazer, 1985, Berg u. Szabo, 2005). Die bekanntesten Methoden der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, wie die Wunderfrage oder Skalierungen, haben große Verbreitung gefunden und werden in unterschiedlichen Beratungsformen verwendet (vgl. Bannik, 2010).

    Narrative Systemtheorie und Gruppe: Direkt wird das Thema Gruppe in Beratung oder Therapie nicht angesprochen, daher stellt sich die Frage, was lässt sich von diesem Ansatz übertragen?

    Familien werden durch Familienmythen (vgl. Simon u. Stierlin, 1995, S. 98 f.) beeinflusst, sie übernehmen Abwehr- und Schutzfunktionen und konstruieren gemeinsam eine eigene Familienidentität. Ähnlich können auch in bestehenden Teams gemeinsam geteilte Geschichten die Teamidentität beeinflussen. Im Sinne Luhmanns organisieren Teammythen nicht nur den Inhalt der Geschichten, welche Kommunikationen das soziale System immer wieder erzeugt, sondern auch die Struktur der Geschichten.

    Wie diese Geschichten erzählt werden, zum Beispiel als Opfer-, Heldinnen- oder Entwicklungsgeschichten, zeigt die gefühlte Sicht der Dinge, wie die Realität emotional (immer wieder) erlebt wird. Diese sogenannten Tiefengeschichten können auch interessante Erklärungsmuster für politische Phänomene bieten. So zeigen die Tiefengeschichten von Donald Trump und seiner Wählerschaft bei aller Differenz der jeweiligen sozioökonomischen Position eine erstaunliche Übereinstimmung, wie Hochschild (2017) darlegt. Interessant sind hier auch Erkenntnisse der sozialpsychologischen Forschungen zu Radikalisierung. Einerseits liefert die gemeinsam geteilte Gruppengeschichte den Gruppenmitgliedern Interpretationen der Situation ihrer Gruppe im Sinne von Ungerechtigkeit. Anderseits vermittelt das Gruppennarrativ auch Informationen über gemeinsame Feinde, die für die Ungerechtigkeit, das Leid verantwortlich sind. Ein dritter Aspekt liegt in der handlungsleitenden Funktion dieser Geschichten. Sie zeigen eine bestimmte Lösung für das Problem der Eigengruppe auf und legitimieren bestimmtes, ansonsten eventuell unmoralisches Verhalten, zum Beispiel Gewalt (vgl. Stürmer u. Siem, 2020, S. 98 ff.).

    Bemerkenswert ist, dass in der systemischen Familientherapie die Beratung durch ein Therapeutinnenteam sehr empfohlen wird. Damit können die vielfältigen Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse besser wahrgenommen und genutzt werden, wie Simon und Stierlin (1995) betonen.

    Das vom norwegischen Psychiater Tom Andersen erfundene Beratungsformat »reflecting team« lässt den in der systemischen Familientherapie lange üblichen Einwegspiegel weg. Die beiden Therapeuten besprechen ihre Gefühle, Einschätzungen und Ideen direkt vor der Familie (vgl. Caby, 2014, S. 250 ff.). Dies hat eine frappierende Ähnlichkeit mit der Geburtsstunde der Gruppendynamik (→ Kapitel 2.3 Wie ist die Gruppendynamik als Verfahren entstanden?).

    Eine Gruppe oder ein Team kann in dieser systemischen Richtung verstanden werden als

    •mehrere Personen, die sich eine bestimmte Auswahl an Geschichten über die eigene Gruppe erzählen.

    •Diese Geschichten vermitteln, transportieren und erhalten eine Identität oder ein Bild dieser Gruppe, dieses Teams.

    •Diese Identität stabilisiert, ermöglicht die Abgrenzung zur Umwelt und hat handlungsrelevante Auswirkungen.

    2.1.4 Synergetische Systemtheorie: System als Selbstorganisation

    Die Synergetik versteht sich als Theorie und Wissenschaft der Selbstorganisation und sieht sich als die am weitesten ausgearbeitete Theorie sich selbst organisierender Prozesse (vgl. Schiepek, 1999; 2014, S. 82). Der Begriff Synergetik leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet sinngemäß Lehre vom Zusammenwirken.

    Die Wurzeln der Synergetik liegen in der Physik. Der Physiker Hermann Haken untersuchte in den 1960er Jahren die selbstorganisierte Synchronisation von Lichtwellen (vgl. 1990). Unter bestimmten Anregungsbedingungen und mit vielen lichtaktiven Atomen entsteht in einem selbstorganisierenden Prozess ein hochkohärenter Strahl – der Laser.

    Diese Anregungsbedingungen können auch als Ordner oder Attraktoren bezeichnet werden. Haken formulierte nun eine formalwissenschaftliche, mathematische Metatheorie, die Selbstorganisationsprozesse in ganz unterschiedlichen Disziplinen wie Chemie, Physik, Computerwissenschaft, Psychologie und Neurologie erklären will. Wenn eine nichtlineare Wechselwirkung mehrerer Elemente und eine energetische oder thermodynamische Offenheit vorliegen, »kann von der Möglichkeit spontaner Ordnungsbildung ausgegangen werden« (Schiepek et al., 2000, S. 169).

    Besonders in der Psychotherapieforschung wurde die Hypothese der (synergetischen) Selbstorganisation mit empirischen Befunden belegt. Ebenso konnte die Wirksamkeit systemischer Psychotherapie wissenschaftlich nachgewiesen werden (vgl. Schiepek, 2014, S. 83). Psychotherapie wird als kooperative Zusammenarbeit zwischen Therapeutin und Klient verstanden. Hier ist die zentrale Frage, wie sich in verschiedenen Lebenswelten Ordnungsmuster, Attraktoren entwickeln, die eine stabile, dynamische Ordnung bewirken (vgl. Kriz, 2014, S. 88).

    Synergetische Systemtheorie und Gruppe: Die Synergetik wendet sich entschieden gegen eine Auffassung, selbstorganisierende Systeme wie Menschen oder Gruppen seien direkt oder linear zu beeinflussen.

    Gruppendynamik und sozialpsychologische Phänomene, zum Beispiel werden die Entstehung und Verbreitung von Einstellungen in Kollektiven auch als selbstorganisierende Prozesse verstanden, die mit dem Instrumentarium der Synergetik untersucht werden können (vgl. Schiepek, 2014, S. 85).

    Eine Gruppe oder ein Team kann vor diesem Hintergrund analysiert werden:

    •Es handelt sich um eine wiederkehrende Zusammenkunft von Personen, bei der sich Ordnungsmuster, Attraktoren, bilden, um die Komplexität zu reduzieren. Ein einfaches Beispiel ist die Sitzordnung, die sich in Seminaren meist recht schnell bildet und die oft auch bei mehrjährigen Weiterbildungen erstaunlich stabil ist.

    •Die Selbstorganisation dieser spezifischen Ordnungsmuster beeinflusst auch, welche Themen im formellen System besprochen werden , wenn alle, auch die Leitung, anwesend sind und welche Themen nur im informellen System relevant sind.

    •Die Attraktoren, die sich in dieser Gruppe, diesem Team selbstorganisierend entwickeln, bewirken eine stabile, dynamische Ordnung.

    Zusammenfassung: Die systemische Sicht auf Gruppen

    Hinsichtlich ihres Verständnisses von Gruppe ist diesen skizzierten systemischen Theorien gemeinsam:

    •Eine Gruppe grenzt sich von ihrer Umwelt ab.

    •Es entsteht eine gemeinsame, spezifische Kommunikation in der Gruppe, die sich an Mustern oder Regeln orientiert und über gemeinsame Geschichten eine Identität entwickelt.

    •Die Gruppe entwickelt eine gemeinsame Geschichte, die auf die Gegenwart wirkt.

    •Die Gruppe wird von niemandem gemacht, sie ist ein sich selbst organisierendes Gebilde.

    2.2 Gruppendynamik im Alltag, in der Wissenschaft und Erwachsenenbildung

    Wenn wir das Wort Gruppendynamik auf seine inhärente Bedeutung hin untersuchen, dann lohnt sich ein Blick auf die sprachliche Entstehung seiner Bestandteile. Das Wort Gruppe lässt sich zurückführen auf das italienische »gruppo«, das eine Ansammlung mehrerer Individuen oder Gegenstände bezeichnet, die durch gleich geartete Interessen oder Zwecke und durch gemeinsame Merkmale oder Ähnliches miteinander verbunden sind. Das ebenfalls erstmals im 18. Jahrhundert verwendete Wort »Dynamik« meint die »Lehre von der Bewegung beziehungsweise Kraft«. Zugrunde liegt das griechische »δυναμικός«, das mit »mächtig, kräftig, stark, wirksam« übersetzt werden kann.

    In dieser Herkunft des Wortes Gruppendynamik zeigen sich drei unterschiedliche Formen, wie Gruppendynamik verstanden wird (vgl. König u. Schattenhofer, 2020, S. 12 f.):

    •Gruppendynamik geschieht alltäglich in Gruppen:

    Das Kräftespiel in einer Gruppe wird alltagssprachlich vor allem dann benannt, wenn es in Gruppen schwierig wird. Deshalb wird es oft als Bedrohung wahrgenommen.

    •Gruppendynamik ist eine wissenschaftliche Disziplin:

    Im wissenschaftlichen Kontext steht hier die Lehre von der Bewegung oder Kraft in einer Ansammlung mehrerer Individuen im Vordergrund, die zu zahlreichen Erkenntnissen vor allem der sozialpsychologischen (Kleingruppen-)Forschung führte.

    •Gruppendynamik als angewandte Gruppendynamik ist eine besondere Form des Lernens in der Erwachsenenbildung: Dies ist die dritte Form, bei der es um eine Möglichkeit des sozialen Lernens für Erwachsene geht, die deren emotionale und soziale Kompetenz in Gruppen erweitern soll.

    Im Alltag wird meist dann von Gruppendynamik gesprochen, wenn es in Gruppen hoch hergeht. Treffend formuliert dies Klaus Antons, der sich intensiv mit der »dunklen Seite von Gruppen« befasst hat: »Viele Menschen verstehen unter Gruppendynamik ausschließlich das, was abgeht, wenn es Zoff gibt oder, nach dem Muster Big Brother, eine Ausschlussdynamik läuft« (Antons, 2020, S. 13). Gruppen können eine erheblich destruktive Kraft entfalten, wie viele aus eigenen biografischen Erfahrungen mit hohem Konformitätsdruck, Außenseiterbis hin zu Sündenbock- und Mobbingphänomenen in Schulklassen, Freundschafts-, Ausbildungs- oder Arbeitsgruppen erzählen können.

    Phantasiereise

    In der ersten Sitzung einer Gruppen-Lehrsupervision wird eine Phantasiereise (→ Kapitel 8.2.7 Die Gruppen meines Lebens) durchgeführt. In einem entspannten Zustand erinnern sich die vier Teilnehmenden, welche Gruppen ihnen aus ihrer Kindheit, Jugend- und Erwachsenenzeit einfallen. Ebenso wird gefragt, wie es ihnen in diesen Gruppen ging und welche Rollen sie damals innehatten. In der anschließenden Auswertung ist auffällig, dass alle eher am Rande der Gruppen standen, es oft in einer Außenseiterrolle schwer hatten. Interessant ist in der Reflexion, wie sich diese unbewusste Gemeinsamkeit auswirkte, als sich diese Lehrsupervisionsgruppe gebildet hatte.

    Auch literarisch und künstlerisch wurden Phänomene destruktiver Gruppendynamik vielfach bearbeitet. Als Beispiele seien hier nur der Roman von William Golding »Herr der Fliegen« (1954/1983), dessen Verfilmung (»Lord of the Flies«, 1963, Peter Brook) und das instruktive Filmdrama »Die Welle« (2008, Peter Gansel) genannt. Golding beschreibt in seinem Roman eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Kindern, die aufgrund eines Flugzeugabsturzes auf einer Südseeinsel stranden. Die unterschiedlichen Vorstellungen, wie sie auf der Insel überleben können, führen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Jägern und Nichtjägern, die schließlich zu extremer Gewalt und Todesfällen führen. Das Buch wird als literarisches Beispiel dafür gesehen, wie schnell aus Angst und Hilflosigkeit eine äußerst aggressive Gruppendynamik entstehen kann (vgl. Meitcke, 1995).

    Der Film »Die Welle« zeigt, wie ein Lehrer an einem gutsituierten deutschen Gymnasium innerhalb einer Projektwoche eine autoritäre Bewegung gründet, die einen hohen Gruppenzwang und eine hohe Gewaltbereitschaft gegen Außenstehende hervorbringt. Vorlage für diesen Stoff war ein ähnliches Experiment, »The Third Wave«, das Ron Jones 1967 an einer kalifornischen Schule durchführte (vgl. Hanetseder, 2008). Dieses Experiment diente auch als Vorlage für den Film »Das Experiment« von Oliver Hirschbiegel (2001).

    Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gruppendynamik, der Lehre von der Bewegung oder Kraft in einer Ansammlung mehrerer Individuen wird heute in unterschiedlichen Teildisziplinen der Soziologie, Betriebswirtschaftslehre, Pädagogik und Psychologie geführt. Hinsichtlich der Leistung von Gruppen in Unternehmen waren die sogenannten Hawthorne-Experimente von Elton Mayo (1933) und Fritz J. Roethlisberger und William J. Dickson (1939) in den

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