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Die Gruppe und das Unbewusste
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eBook616 Seiten6 Stunden

Die Gruppe und das Unbewusste

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Über dieses E-Book

​Das Werk basiert auf 40 Jahren wissenschaftlicher und praktischer Auseinandersetzung mit der Gruppenanalyse. Neben der Theoriebildung in der Gruppenanalyse aus psychoanalytischer und sozialpsychologischer Sicht findet der Leser hier wertvolle Inhalte zur qualitativen Erforschung des Gruppenprozesses in analytischen Gruppen. Auch beinhaltet dieses Werk Essays über die Klassiker der Gruppenanlyse wie T. Burrow, A. Wolf, S. H. Foulkes, W. R. Bion sowie W. Schindler nebst biographischen Skizzen und einer kritischen Einschätzung dieser Autoren. Vor allem werden hier die grundlegenden behandlungstechnischen Fragen dargestellt - insbesondere im Hinblick auf die therapeutische Effizienz und das emanzipatorische Potential der Gruppenanalyse. Auch die Gruppenanalyse in Familien, die Schulung psychosozialer Kompetenz in Gruppen, die Psychodynamik in Arbeitsgruppen sowie Gruppentherapie mit psychiatrischen Patienten durch niedergelassene Psychotherapeuten werden thematisiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer VS
Erscheinungsdatum9. Mai 2013
ISBN9783642348198
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    Buchvorschau

    Die Gruppe und das Unbewusste - Dieter Sandner

    Teil 1

    Theorie der Gruppenanalyse

    Dieter SandnerDie Gruppe und das Unbewusste201310.1007/978-3-642-34819-8_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    1. Was ist Gruppenanalyse?

    Dieter Sandner¹  

    (1)

    Abt. f. Klinische Psychologie, Alpen Adria Universität Klagenfurt, Universitätsstraße 65-67, 9020 Klagenfurt, Österreich

    Dieter Sandner

    Email: Dieter.Sandner@uni-klu.ac.at

    Zusammenfassung

    Bei der Gruppenanalyse nach S.H. Foulkes sowie nach W.R. Bion geht es um die Analyse des Geschehens in der Gesamtgruppe, auf dessen Hintergrund die individuellen Bewegungen der Teilnehmer ihre Bedeutung gewinnen. Das Augenmerk des Gruppenanalytikers richtet sich fast ausschließlich auf „Gruppenphänomene, d. h. auf Szenen, welche die Teilnehmer miteinander spielen. Diese Szenen deutet der Gruppenleiter und macht sie so einer gemeinsamen Klärung für alle Gruppenmitglieder zugänglich. Eine andere Theorietradition wurde von Trigant Burrow, dem Begründer der Gruppenanalyse, sowie in seiner Nachfolge von Alexander Wolf und Walter Schindler begründet: Diesen Gruppenanalytikern geht es um die besondere Berücksichtigung und Erleichterung der „Bewegungen der einzelnen Gruppenmitglieder unter Herausarbeitung des jeweils typischen Verhaltens einzelner. Es werden die behandlungstechnischen Vor- und Nachteile beider Grundansätze in der Gruppenanalyse herausgearbeitet sowie die Bedeutsamkeit eines integrativen Behandlungskonzepts mit dem Schwerpunkt auf der gruppenanalytischen Aussteuerung des in diesen Gruppen jeweils erzeugten Angstniveaus.

    Die in der Überschrift gestellte Frage „Was ist Gruppenanalyse?" mag diejenigen, die sich mit Gruppenanalyse näher beschäftigt haben, als überflüssig oder wenigstens überraschend erscheinen. Gemeinhin oder – besser – mittlerweile wird im deutschen Sprachraum unter Gruppenanalyse der Ansatz von Foulkes (1974) verstanden. Wer diesen Ansatz kennt oder mit ihm arbeitet, wird bei der gestellten Themafrage den Kopf schütteln oder eben eine Darlegung des Foulkes'schen Ansatzes erwarten (Haubl & Lamott 1994; Hayne & Kunzke 2004; Schultz-Venrath 2012).

    Aber es gibt vielleicht einige, die immer wieder von Gruppenanalyse gehört oder gelesen haben und dabei eher etwas verwirrt oder wenigstens unsicher geworden sind: Sie konnten sich oft keinen Reim darauf machen, was unter Gruppenanalyse zu verstehen ist, da dieser Terminus für eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Behandlungstechniken verwendet wird. In dieser Situation lohnt es sich, die Frage, was Gruppenanalyse ist, überhaupt oder erneut zu stellen, und zwar nicht, um eine bestimmte Schulrichtung innerhalb des weiten Feldes der Gruppenanalyse gegen eine andere ab- und auszugrenzen, sondern um die Bedeutsamkeit unterschiedlicher Ansätze herauszuarbeiten mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen sowie vielleicht auch der Möglichkeit, zu einer schulübergreifenden gruppenanalytischen Theorie und Behandlungstechnik zu gelangen. Ich meine, dass es sich immer lohnt, nach einiger Zeit des fröhlichen Pragmatismus bzw. der eigenen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schulmeinung über den Zaun zum Nachbarn zu schauen, der sich mit ähnlichen Problemen herumschlägt und in ähnlicher Weise davon überzeugt ist, dass analytische Arbeit in und mit Gruppen eine lohnende Beschäftigung darstellt.

    Das vorliegende Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte:

    In Abschn. 1.1 lege ich dar, was bei uns gemeinhin unter Gruppenanalyse verstanden wird. Es handelt sich dabei insbesondere um die sehr um Gruppenphänomene zentrierten Ansätze von S.H. Foulkes und W.R. Bion.

    Hierzu kontrastierend mache ich in Abschn. 1.2 mit einer anderen Theorietradition der Gruppenanalyse vertraut, die bei uns wenig bekannt ist, in der sich aber, wenn nicht alles trügt, von der praktischen Vorgehensweise her, viele, wenn nicht die meisten analytischen Gruppentherapeuten bewegen: einem Ansatz, der bei uns mehr als „Psychoanalyse in Gruppen" tradiert wird und mit den Namen Alexander Wolf sowie Emmanuel K. Schwartz verknüpft ist (Schwartz & Wolf 1960; Wolf 1971). Dieser Ansatz wurde und wird bei uns von den Vertretern einer stark gruppenzentrierten analytischen Arbeitsweise vielfach als „lediglich Arbeit mit Einzelnen in Gruppen" charakterisiert (Heigl-Evers 1972). Wie ich zeigen werde, stellt der Ansatz von Wolf und Schwartz aber überraschenderweise die Weiterentwicklung des ursprünglichen Konzepts der Gruppenanalyse dar, wie sie vom Begründer der Gruppenanalyse, Trigant Burrow, in den 1920er Jahren entwickelt wurde – eines Konzepts übrigens, von dem Foulkes die wesentlichen Anregungen für seine Ende der 1940er Jahre entwickelte Version der Gruppenanalyse gewonnen hat (Foulkes 1974, S. 13 ff.).

    In Abschn. 1.3 versuche ich, die in den beiden ersten Teilen geschilderten unterschiedlichen Theorietraditionen aufeinander zu beziehen, und meine Vorstellung einer integrierten gruppenanalytischen Theorie und Behandlungstechnik ansatzweise entwickeln.

    1.1 Gruppenanalyse nach Foulkes und Bion

    Die Konzeption, die Foulkes von Gruppenanalyse hat, möchte ich anhand einer zusammenfassenden Skizze veranschaulichen, die ich noch zu Lebzeiten von Foulkes, 1975, erarbeitet habe und der Foulkes selbst damals ausdrücklich zugestimmt hat:

    Foulkes ist der Auffassung, dass sich die psychische Struktur eines jeden Menschen bildet innerhalb des Interaktionsnetzwerkes der Familie, in der er aufwächst. In diesem Geflecht von Beziehungen sind die Weisen der Bedürfnisartikulation und der Bedürfnisbefriedigung für jedes einzelne Mitglied festgelegt und damit auch die Konflikte gegeben, die sich aus einer unzureichenden Bedürfnisbefriedigung auf die Dauer ergeben. Jedes Mitglied eines solchen primären Interaktionssystems erhält eine bestimmte starke oder schwache, in jedem Fall aber auf die anderen Mitglieder und das gesamte System dieser Primärgruppe angewiesene Position. Jeder lernt in dieser Gruppe seine Rolle spielen und die der anderen antizipieren. Er verinnerlicht sozusagen die Spielregeln dieser Primärgruppe. Deshalb können die Schwierigkeiten, welche die Teilnehmer einer therapeutischen oder gruppendynamischen Gruppe in diese mitbringen, nicht einfach betrachtet werden als intrapsychische Fehlentwicklungen, sondern als individuelle Verhaltensdefizite bzw. Unzulänglichkeiten, die sich in der realen Interaktion mit den anderen Mitgliedern ihrer Primärgruppe oder ihrer Primärgruppen, also im interpersonellen System dieser Gruppe(n) notwendig ergeben haben. Wenn der Einzelne aus seiner Primärgruppe heraustritt und in eine neue Gruppe sich hineinbegibt. so versucht er, seine gelernte Rolle wieder zu spielen und die anderen in die Rollen der früher erlebten Mitspieler hineinzudrängen. Er wiederholt ständig sein gelerntes Verhalten und projiziert die erlebten Reaktionen seiner Primärgruppe in die Mitglieder der neuen Gruppe hinein. Er versucht quasi immer wieder, dasselbe Stück zur Aufführung zu bringen, in Szene zu setzen. So gesehen könnte man sagen, dass jeder dasjenige frühe Beziehungsgeflecht in sich hineingenommen hat und ständig als Programm in sich herumträgt, welches er in seiner Primärgruppe gelernt hat. Dieses Beziehungsgeflecht oder Netzwerk von Beziehungen bezeichnet Foulkes als die Gruppenmatrix in uns. Wie schon angedeutet, versucht jeder Mensch in neuen Gruppen, in die er hineinkommt, die ursprüngliche Matrix wiederherzustellen und zwar völlig unbewusst. Die einzelnen Gruppenmitglieder tasten sich sehr rasch unbewusst ab, und es entsteht eine neue Matrix, ein neues Netzwerk von Beziehungen, das den kleinsten gemeinsamen Nenner aller von jedem Einzelnen ‚mitgebrachten‘, verinnerlichten Interaktionssysteme darstellt. Durch dieses unbewusste und auch bewusste Abtasten, durch ständige Kommunikationen der Mitglieder, entsteht ein neues Netzwerk, auf dessen Hintergrund und innerhalb dessen sich die Einzelaktivitäten der Mitglieder einer Gruppe abspielen. Alle Aktionen und Reaktionen erhalten ihren Stellenwert und Sinn erst, wenn sie mit dieser Matrix in Verbindung gebracht werden, sie sind Ausdruck der jeweiligen Konstellation innerhalb dieser Matrix, dieses Netzwerkes von Beziehungen. (Sandner 1976, S. 205 f.)

    Alle behandlungstechnischen Vorschläge in der Tradition der Foulkes'schen Gruppenanalyse und alle theoretischen Weiterentwicklungen, die sich an dieser orientieren, gehen von der gerade geschilderten Annahme einer gemeinsamen Gruppenmatrix in Gruppen aus. Anders ausgedrückt: Von der Vorstellung, dass sich in Gruppen stets spontan ein gemeinsames emotionales Beziehungsgefüge mit dazugehörigen gruppenweit gehegten Phantasien entwickelt, an denen alle Gruppenteilnehmer in spezifischer Weise teilhaben. Deshalb gilt es in dieser gruppenanalytischen Denktradition, stets und zuallererst die hypothetisch angenommene jeweilige Gruppenkonstellation bzw. Gruppenmatrix zu erfassen und im Blick zu behalten (Hayne & Kunzke 2004). Alle behandlungstechnischen und theoretischen Überlegungen sind um diese Fragestellung zentriert, etwa indem die Bewegungen einzelner Teilnehmer immer vor dem Hintergrund einer angenommenen Gesamtkonstellation in der Gruppe, sozusagen einer „Gruppengestalt", verstanden oder aber die emotionalen Bewegungen Einzelner als Ausdruck einer Gesamtkonstellation, d. h. der jeweiligen Gruppenmatrix, interpretiert werden. Gruppenanalyse bedeutet auf einen knappen Nenner gebracht in der Konzeption von Foulkes die Analyse der gemeinsamen Gruppenmatrix, der Beiträge, welche die einzelnen Gruppenteilnehmer dazu leisten, und der Möglichkeiten und Grenzen, welche die Gruppenmatrix ihnen eröffnet (Foulkes 1974, S. 34–113; Sandner 1976). In Gruppen gibt es natürlich eine unübersehbare Vielzahl möglicher Gruppenkonstellationen – so viele, dass Foulkes selbst nie versucht hat, sie zu ordnen. Was Foulkes aber unter Gruppenmatrix bzw. spezifischen Konstellationen in Gruppen versteht, als allen gemeinsames Beziehungsgefüge bzw. von allen mehr oder weniger unbewusst geteilte Gruppenphantasie, wird vielleicht am besten deutlich, wenn wir uns eine weitere gruppenanalytische Konzeption, die von W.R. Bion, ansehen. Dieser Autor hat aufgrund seiner Erfahrungen in und mit Gruppen vier spezifische Gruppenkonstellationen herausgearbeitet, die er in seinen Gruppen immer wieder zu entdecken glaubte (Sandner 1975; 1996, S. 3 f.).

    Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen von Bion (1971) war seine Erfahrung, dass sich in Kleingruppen ohne bewusste Absprachen der Teilnehmer rasch unbewusste „Übereinkünfte einstellen, was in einer Gruppe erlaubt oder gefragt bzw. nicht erlaubt und nicht gefragt sei. Einzelne Teilnehmer oder auch der Gruppenleiter mögen noch so differenziert bestimmte Fragen oder Themen anschneiden, sie werden nicht aufgegriffen oder weiterverfolgt oder gar aggressiv abgewehrt, sofern sie nicht in die spontan sich konstellierenden, unbewussten Übereinkünfte der Gruppenteilnehmer passen. Bion meint, es handle sich bei diesen gruppenweit gehegten „Übereinkünften um unbewusste kollektive Maßnahmen, um zu bestimmen, was für die Teilnehmer gut und gedeihlich oder aber schlecht und gefährlich sei, und er bezeichnet sie als unbewusste Grundannahmen in Gruppen. Er unterscheidet drei Grundannahmen:

    1.

    Abhängigkeit,

    2.

    Kampf/Flucht,

    3.

    Paarbildung.

    Wenn die Grundannahme „Abhängigkeit sich einstelle, scheinen alle Teilnehmer der Gruppe der Überzeugung zu sein, keiner von ihnen könne etwas für die vorgesehene Arbeit in der Gruppe leisten, auch nicht einige Teilnehmer zusammen durch gemeinsame Anstrengungen, sondern lediglich der Gruppenleiter. Von ihm allein hänge Wohl und Wehe der Gruppe ab. Bei der Grundannahme „Kampf bestehe die gruppenweite Annahme, einer oder etwas in oder außerhalb der Gruppe müsse bekämpft werden; erst wenn dieser Störenfried oder diese Bedrohung ausgeschaltet sei, gehe es allen gut. „Flucht als Grundannahme in Gruppen beinhaltet nach Bion die von allen Teilnehmern gehegte (unbewusste) Vorstellung, es sei alles (oder etwas) sehr bedrohlich, das „Beste sei, sich nicht zu rühren und (innerlich) zu fliehen oder sich (kollektiv) tot zu stellen. Der Gruppenleiter, der sich einer solchen Konstellation gegenüber sieht, fühlt sich meist völlig hilflos, da er sie durch deutende Interventionen nicht verändern kann. Bei der Grundannahme „Paarbildung schließlich kristallisiere sich in Gruppen ein Paar heraus, ein Mann und eine Frau, die ein „hehres Paar bildeten. Es entstehe die gruppenweite Vorstellung, „alles werde gut ausgehen". Durch diese Konstellation werden nach Bion zwischengeschlechtliche bzw. sexuelle Ängste abgewehrt (Bion 1971; Sandner 1975).

    Therapeutisches und behandlungstechnisches Ziel der Gruppenanalyse von Bion wie auch von Foulkes sind die Identifizierung, Klärung, Deutung und Durcharbeitung der jeweils von den Gruppenteilnehmern spontan und unbewusst eingegangenen „Beziehungsarrangements", der jeweiligen Gruppenmatrix, wie Foulkes sagt (Schultz-Venrath 2012). Letztendliches behandlungstechnisches Ziel bei beiden Autoren ist es, über die Gruppenanalyse dieser Konstellationen die Gruppenteilnehmer zu befähigen, ihre jeweiligen Anliegen und die dagegen entwickelten Abwehrmaßnahmen bewusst miteinander zu verhandeln und einer – besseren – Lösung näher zu bringen, nicht spontan und unbewusst an solchen Konstellationen festzuhalten und die individuellen Anliegen bzw. Bedürfnisse versteckt in diesen gemeinsamen Gruppenabwehrkonstellationen „zu befriedigen", eigentlich nicht zu befriedigen.

    1.2 Begründung der Gruppenanalyse durch T. Burrow und Weiterentwicklung durch A. Wolf und W. Schindler

    Genau dieses Ziel, den individuellen Anliegen der Teilnehmer einer Gruppe Gehör und Raum zu verschaffen im Medium einer Gruppe und nicht wie sonst üblich in der Zweiersituation einer analytischen Einzeltherapie, war der Ausgangspunkt für die zweite Theorietradition der Gruppenanalyse.

    Zunächst einige Bemerkungen über den Begründer dieser Tradition, Trigant Burrow: Er wurde 1875 im selben Jahr wie C.G. Jung in Norfolk (Virginia) geboren und hatte, bevor er sich bereits 1909 der Psychoanalyse zuwandte, sowohl Medizin als auch Psychologie studiert. Von 1911 bis 1921 praktizierte er nach damals bereits absolvierten zwei Lehranalysen in Baltimore als Psychoanalytiker. Von Anfang an hat er sich für die Frage der wissenschaftlichen Fundierung der Psychoanalyse interessiert sowie für die Problematik der Verzerrungen in der psychoanalytischen Arbeit aufgrund blinder Flecke des jeweiligen Analytikers und für die unausweichliche „Verstricktheit" jedes Analytikers in gesellschaftsweit vorhandene soziale Ausblendungen und Tabus. Diesen kollektiv vorhandenen Abwehrmaßnahmen unterliegen alle Mitglieder einer Gesellschaft mehr oder weniger. Konkret und emotional sehr bewegend haben sich diese Fragen dann für Burrow zugespitzt, als einer seiner Lehranalysanden ihm den Vorschlag machte, die analytische Beziehung bzw. die damit verknüpfte Über- und Unterordnung umzukehren, um zu überprüfen, ob der Analytiker nicht spezifische blinde Flecke hatte, die die Analyse behinderten. Burrow stimmte diesem ungewöhnlichen Vorschlag zu, und im Verlauf der Analyse Burrows durch seinen ehemaligen Analysanden wurde bald für beide deutlich, dass beide blinde Flecken hatten und beide an bestimmte jeweils individuell-spezifische Probleme nicht rühren wollten. Diese Erfahrung führte Burrow ab 1921 zu der Idee bzw. Überzeugung, dass die individuellen Verzerrungen und Widerstände, die mit dem einzelanalytischen Setting unweigerlich verbunden sind, wissenschaftlich und therapeutisch-praktisch überwunden, abgemildert und einer psychoanalytischen Klärung zugeführt werden könnten, wenn die analytische Zweierbeziehung ausgeweitet, d. h. Psychoanalyse in einem Gruppensetting durchgeführt wird. Und zwar in der Weise, dass alle Mitglieder einer solchen analytischen Gruppe einschließlich des Gruppenleiters wechselseitig psychoanalytisch untersuchen und klären, welchen Sinn die individuellen emotionalen Bewegungen der Teilnehmer haben. Dieser Sinn sei, so Burrow, nur durch wechselseitige Analyse und – wie wir heute sagen würden – konsensuelle Validierung der Wahrnehmungen und Einschätzungen aller Gruppenteilnehmer herauszufinden bzw. zu identifizieren. Dieses nur in einer Gruppe mögliche analytische Vorgehen nannte Burrow ab 1922 Gruppenanalyse.

    Von 1925 bis 1928 hat er drei grundlegende Arbeiten zu seiner Methode veröffentlicht, (Sandner 1998): 1926 erschien auf Deutsch der Beitrag „Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse (Burrow 1926, S. 211–222), 1928 der Artikel „Die Laboratoriumsmethode in der Psychoanalyse, ihr Anfang und ihre Entwicklung (Burrow 1928, S. 375–386) sowie 1928 der Aufsatz „The Basis of Group-Analysis or the Reactions of Normal and Neurotic Individuals (Burrow 1928a, S. 198–206), der jetzt in meiner Übersetzung ebenfalls auf Deutsch vorliegt (Burrow 1998).

    Zur Veranschaulichung der Methode der Gruppenanalyse von Trigant Burrow möchte ich einen Abschnitt aus seinem dritten Aufsatz zitieren in dem er sein konkretes gruppenanalytisches Vorgehen schildert:

    Nehmen wir eine Situation in der ein Patient oder Student Klagen vorbringt, eine Meinung äußert oder eine Frage stellt, Beispiele, die typisch sind für den manifesten sozialen Inhalt von Äußerungen. Die Meinung, die Klage oder Frage wird nun nicht von ihrer offensichtlichen direkten Bedeutung her betrachtet, ebenso wenig wie ein Symptom oder der Traum eines Patienten, und erhält deshalb auch keine direkte Antwort. Stattdessen untersuchen wir gemeinsam den latenten Inhalt, wir interessieren uns für die Elemente, die möglicherweise z. B. die Frage ausgelöst, erzeugt haben. Wir sehen uns an, was an ihr wichtig und unwichtig ist. Wer ist die Person, die die Frage stellt? Was ist ihr Hintergrund? Warum hat sie gerade diese Frage gestellt? Was wird sie mit der Antwort anfangen? Warum richtet sie diese an diese oder jene Person? Welche spezifische Beziehung hat diese Person zu ihm oder welche Beziehung hätte der Fragesteller gerne zu dieser Person? Ich meine nicht, dass das Gruppenmitglied in jeder so gearteten Situation auch wirklich mit diesen Fragen konfrontiert werden muss, vielmehr sollte mit diesen Beispielen deutlich werden, auf welchem generellen Hintergrund wir herauszufinden versuchen, was wir als jeweils zutreffend annehmen möchten. Vielleicht wird die Frage von einer bestimmten Geste begleitet, z. B. dem Ausdruck einer gewissen Starrheit, oder einer deutlichen Unsicherheit, die in der Frage selbst nicht enthalten ist, einer Angst vielleicht, einem Argwohn; oder es hat den Anschein, als ob es um eine Versöhnung ginge, einem indirekt ausgedrückten Wunsch nach Sympathie oder Abhängigkeit. Vielleicht drückt die Frage auch Rivalität oder Kritik oder eine Irritation aus. Alle diese und andere physiologischen Begleiterscheinungen und latenten Andeutungen sind Material für die Analyse. Denn die wiederholte Beobachtung der auf andere bezogenen Aktionen und Reaktionen (interreactions) von Individuen in Gruppen zeigt, dass solche begleitenden Gesten immer vorhanden sind und dass diese Gesten immer auf Konflikte, Widersprüche, Phantasien (images) hinweisen, die mit dem manifesten Inhalt des gesprochenen Wortes kontrastieren. (Burrow 1998, S. 107 f.)

    Hier wird das Spezifische des gruppenanalytischen Ansatzes von Burrow im Vergleich zu den Ansätzen von Bion oder Foulkes deutlich: Es geht um die Analyse, d. h. die psychoanalytische Klärung des Sinnes individueller Bewegungen der Teilnehmer einer Gruppe in der Gruppensituation, einer Klärungsarbeit, die unabdingbar verknüpft ist mit der analytischen Arbeit aller Gruppenmitglieder. Der Sinn der individuellen Bewegungen wird erst durch die vielfältigen Perspektiven der Gruppenmitglieder deutlich, die so nur in einer Gruppe ausgesprochen, ausgetauscht und einer konsensuellen Überprüfung unterzogen werden können. Dies ist das Grundverständnis Burrows von Gruppenanalyse. Im Verlauf dieser Gruppenanalysen stellte sich für ihn und die Mitglieder seiner Gruppen zudem heraus, dass die individuellen Bewegungen und Widerstände nicht nur individuell waren, vielmehr bei allen Teilnehmern typische Weisen der Wahrnehmung, Beurteilung und des Umgangs miteinander immer wieder deutlich hervortraten: etwa die rasche Klassifizierung des Verhaltens als „gut oder schlecht, „gut oder böse; häufiges Rivalisieren untereinander oder um die Gunst des Gruppenleiters; hartnäckige Weigerung, die eigenen Eindrücke und Gefühle anderen mitzuteilen; Weigerung, die analytische Klärungsarbeit als gemeinsame Arbeit zu verstehen; sexuell-erotische Wünsche, aber auch Wünsche nach Nähe; Weigerung, völlig unterschiedliche Einschätzungen ein- und desselben Verhaltens zuzulassen und zu tolerieren; Neid und Eifersucht usw. Diese von allen oder vielen geteilten Abwehrmaßnahmen waren vordem in Einzelanalysen weit weniger oder gar nicht hervorgetreten. sie wurden speziell in der Gruppensituation deutlich, in der ja unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Verhaltensweisen und Einschätzungen zusammen sind. Die gemeinsame Analyse dieser – wie Burrow meinte – gesellschaftlich bedingten Abwehrvorgänge sowie deren Veränderung in Gruppen wurden später der Hauptgegenstand des Engagements von Burrow, wobei er seine Methode dann „Phyloanalyse" nannte.

    In unserem Zusammenhang erscheint mir wichtig, dass Burrows Ansatz einen völlig anderen Zugang zu den psychodynamischen Vorgängen in Gruppen darstellt, was die Analyse individueller Bewegungen, aber auch die Analyse kollektiver Abwehrvorgänge anbelangt, als dies in den gruppenanalytischen Konzepten von Bion oder Foulkes der Fall ist: Es ging ihm nicht um die Herstellung und Analyse von Gruppenphänomenen, die dann von einem Gruppenanalytiker identifiziert, gedeutet und geklärt werden sollten. Der Ausgangspunkt war vielmehr stets die Analyse individuellen Verhaltens durch alle Mitglieder einer Gruppe einschließlich des Gruppenleiters. Auch die Identifizierung und Klärung von typischen Verhaltensweisen, die den Gruppenmitgliedern gemeinsam waren bzw. „gruppenweit" im Verhalten einzelner deutlich wurden, d. h. die Untersuchung kollektiv vorhandener Abwehrmaßnahmen, erfolgte aufgrund der im Konsens der Gruppenmitglieder festgestellten Ähnlichkeit individueller Verhaltensweisen.

    Es ist deshalb vielleicht nicht so überraschend, dass der Klassiker der analytischen Gruppentherapie, der üblicherweise charakterisiert wird als jemand, der „Psychoanalyse in der Gruppe betreibt, nämlich Alexander Wolf, die gruppenanalytische Tradition von Burrow fortführt: In seiner Konzeption von analytischer Gruppenarbeit haben durchgängige Priorität die Erleichterung und Klärung der individuellen Bewegungen, d. h. die Analyse individueller, wechselseitiger Übertragungsbeziehungen sowie die besondere Bedeutung der wechselseitigen Analyse dieser Beziehungen durch alle Gruppenmitglieder. Er meint, wie Burrow, dass das Medium der Gruppe, in der mehrere Menschen mit unterschiedlichen emotionalen Möglichkeiten und Abwehrmaßnahmen zusammen an der Klärung und Veränderung schwieriger zwischenmenschlicher Beziehungen arbeiten, unabdingbar sei für eine gute analytische Arbeit. Die so verstandene gruppenanalytische Arbeit stelle ein besonders günstiges psychoanalytisch-therapeutisches Setting dar. Im Unterschied zu Burrow weist Wolf besonders eindrücklich darauf hin, dass dem Gruppenleiter in einer analytischen Gruppe immer eine besondere Rolle auch in einer Gruppe zukomme, welche die wechselseitige gemeinsame analytische Klärungsarbeit zum Ziel hat. Dieser Tatsache müsse der Gruppenanalytiker sich bewusst sein und versuchen, Bedingungen zu schaffen, die eine Analyse und Veränderung der „übergeordneten Position des Gruppenleiters in den Übertragungen der Gruppenteilnehmer erleichtere.

    Unter anderem erfand und praktizierte Wolf deshalb die sog. alternative Sitzung, d. h. Sitzungen der analytischen Gruppe ohne den Gruppenleiter, die im regelmäßigen Wechsel auf Sitzungen mit dem Gruppenleiter stattfinden, wobei die Teilnahme an beiden Sitzungen für alle Teilnehmer verpflichtend ist (Wolf 1971, S. 172 f.). Auf diese Weise versucht Wolf, die typischerweise sich einstellende starke Übertragungsfixierung auf den Gruppenleiter durch ein alternatives Setting der psychoanalytischen Gruppenarbeit zu ergänzen bzw. auszugleichen, in dem die Teilnehmer regelmäßig nur unter sich sind.

    In diese gruppenanalytische Tradition von Burrow und Wolf lässt sich auch Walter Schindler (1980) einordnen, ein weiterer wichtiger Klassiker der Gruppenanalyse. Er ist ebenfalls der Auffassung, dass es in der Gruppenanalyse um die Analyse des individuellen (Übertragungs-)Verhaltens und der spezifischen Beziehungen einzelner zu den anderen Gruppenteilnehmern gehe. Schindler sieht wie Wolf den Gruppenleiter in einer besonders hervorgehobenen Übertragungsposition, die er als väterliche Rolle bzw. als regelmäßig sich einstellende Vaterübertragung charakterisiert, die der Gruppenleiter immer in Rechnung stellen sollte, mit Hilfe derer er aber auch in besonderer Weise aktiv helfend eingreifen könne und solle. Darüber hinaus entwickelte Schindler aber auch die Hypothese, dass die Gruppe insgesamt Mutterübertragungen nahelege, die bei der analytischen Arbeit berücksichtigt werden sollten, ebenso die Hypothese, dass die Gruppenteilnehmer untereinander Geschwisterübertragungen reaktivieren. Ähnlich wie Wolf stand Schindler der therapeutischen Evozierung von „Gruppenphänomenen" und deren Analyse skeptisch gegenüber: Solche Massenreaktionen, wie Schindler sie in Anlehnung an einen altehrwürdigen Begriff der analytischen Gruppenpsychologie nannte (Freud 1921), sollten therapeutisch vermieden werden, weil sie in der Regel kollektive Abwehrmaßnahmen der Gruppenteilnehmer darstellten, die schwer bzw. gar nicht analysiert werden können.

    1.3 Integriertes gruppenanalytisches Behandlungskonzept nach Sandner

    Soweit die Ausführungen über die beiden Traditionslinien der Gruppenanalyse. Sie führen zurück zur Ausgangsfrage: Was ist Gruppenanalyse?

    Wie dargelegt, beinhalten die geschilderten Theorietraditionen recht unterschiedliche, teilweise einander sehr widersprechende Vorstellungen, was Gruppenanalyse und was in der gruppenanalytischen Arbeit günstig sei, und dies wird jeweils mit guten Gründen belegt. Die Linie von Burrow über Wolf zu Schindler ist einer gruppenzentrierten Betrachtung und Arbeitsweise gegenüber skeptisch, während Vertreter in der Tradition von Foulkes z. B. die besondere therapeutische Bedeutung von Gruppenphänomenen betonen.

    Nachdem ich viele Jahre ein engagierter Anhänger der Tradition von Bion und Foulkes war und mich nun schon seit etlichen Jahren mehr der Tradition von Burrow verbunden fühle, komme ich zunehmend zu der Überzeugung, dass die Befunde und Erfahrungen sowie die unterschiedliche Perspektivität beider Richtungen wertvoll und es an der Zeit ist, beide für eine komplexere gruppenanalytische Theorie und Behandlungstechnik zu nutzen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass es günstig ist, durchwegs die individuellen Bewegungen der Teilnehmer einer Gruppe zu erleichtern und zu würdigen sowie alle Teilnehmer aktiv zum wechselseitigen Austausch und zur gemeinsamen Klärungsarbeit zu ermuntern (Sandner 1995a; Leszcz & Malat 2010).

    Ich finde es wichtig, mit den Teilnehmern zusammen eine möglichst gleichberechtigte Kultur des Austausches anzustreben, wobei ich sie ausdrücklich ermuntere, ihre jeweilige Sicht der Vorgänge, d. h. auch ihre Interpretationen und Einschätzungen mitzuteilen. Mein Grundanliegen, was die Behandlungstechnik angeht, besteht darin, einen therapeutischen Raum bereitzustellen, in dem möglichst alle, zunächst „innerlich-verborgenen" Bewegungen der Teilnehmer, in die Öffentlichkeit der Gruppe kommen können (Tschuschke 2010). Deshalb vermeide ich es, die in Gruppensituationen immer rasch einsetzenden Ängste ansteigen und zu Abwehrphänomenen in der gesamten Gruppe werden zu lassen. Ich spreche bewusst von Gruppenabwehrmaßnahmen, nicht von Regressionen der Teilnehmer in ihrer Gesamtheit, weil ich mir nicht sicher bin, ob Teilnehmer in dieser Situation wirklich regredieren, d. h. auf frühkindliche Verhaltensweisen zurückgreifen, sondern vielmehr rasch und spontan unbewusste aktuelle Schutz- und Trutzbündnisse eingehen, um sich vor befürchteten Verletzungen zu schützen. In diesem Sinne befinde ich mich in meiner gruppenanalytischen Arbeit schwerpunktmäßig in der Tradition von Burrow, Wolf und Schindler.

    In der praktischen Arbeit ist es natürlich so, dass sich in Gruppen immer wieder „Gruppenphänomene einstellen, die oft nicht allein durch die Ermunterung der Teilnehmer zu wechselseitigen Äußerungen zu klären und auflösbar sind. Diese Gruppenkonstellationen (z. B. Abhängigkeit, Kampf, Flucht, aber auch depressive Fürsorge für andere unter Ausblendung eigener Anliegen, Identifizierung mit dem Gruppenleiter und das Analysieren anderer unter Ausblendung der eigenen Person) erfordern immer wieder die gemeinsame Arbeit, sie als solche bewusst werden zu lassen, ihren Sinn zu klären und sie gemeinsam zu verändern. Hierbei ist es wichtig, auf die reiche Erfahrung mit diesen Phänomenen, die behandlungstechnischen Vorschläge und die theoretische Durchdringung solcher Konstellationen zurückzugreifen, wie sie in der gruppenanalytischen Tradition von Bion und Foulkes vorliegen. Es wäre ein gruppenanalytischer Kunstfehler, dies nicht zu tun. Aber: So wertvoll der gruppenanalytische Umgang mit Gruppenkonstellationen mit der Methode von Foulkes ist, indem der Gruppenanalytiker seine Wahrnehmungseinstellung auf das allen Teilnehmern Gemeinsame, eine gemeinsame Szene, richtet und sie benennt oder die Gruppenmitglieder ermuntert, selbst auszudrücken, was ihrer Meinung in der Gruppe „los sein könnte, halte ich es therapeutisch und behandlungstechnisch nicht für günstig, Gruppenphänomene gezielt anzustreben bzw. entstehen zu lassen, wie dies Vertreter der Tradition von Bion oder Foulkes implizit oder explizit tun (Sandner 1996). Ich finde vielmehr, dass wir uns mit diesen Konstellationen befassen müssen, wenn sie sich einstellen, besonders wenn die analytische Arbeit an den individuellen Anliegen der Teilnehmer stagniert, weil bestimmte Fragen in der Gruppe nicht verhandelt werden sollen oder dürfen. Natürlich hatten Foulkes und Bion gute Gründe, sich auf die Evozierung und Bearbeitung gemeinsamer Konstellationen und Phantasien in Gruppen zu konzentrieren: In Gruppen werden regelmäßig starke – in der analytischen Zweiersituation nicht so deutlich erkennbare – Wünsche nach mitmenschlichem Austausch, engem, u. U. symbiotischem Kontakt und gemeinsam geteilten Erlebnissen deutlich, ebenso wie die entsprechenden Ängste und Abwehrmaßnahmen diesen Wünschen nach Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit gegenüber. Diese Wünsche und Ängste erzeugen einerseits eine große Faszination, andererseits wurden und werden die hierbei entstehenden gruppendynamischen Prozesse und Konstellationen immer schon als sehr beunruhigend und bedrohlich erlebt, d. h. als psychodynamische Prozesse, die nach gruppenanalytischer Klärung und Bearbeitung verlangen. Deshalb wurden auch die Konzepte von Bion oder Foulkes entwickelt, und deshalb wird heute auch die gruppenanalytische Arbeit in und mit Großgruppen versucht (Shaked 1996).

    Aber, die unmittelbare und ausschließliche Arbeit mit „Gruppenkonstellationen führt eher zu einer Verstärkung immer schon vorhandener, in allen „bereitliegenden, gesellschaftsweit eingespielten Abwehrbewegungen, um befürchtete Verletzungen und Schmerzen zu vermeiden und um sehr aggressive und zerstörerische Tendenzen in der Latenz zu halten, d. h. zu besonders starken Ängsten und besonders ängstigenden Weisen des Umgangs miteinander (König 2010). Eine weniger ängstigende und deshalb auch weniger vorsichtige Weise des gemeinsamen Umgangs mit diesen Befürchtungen bzw. Tendenzen wird erschwert. Wenn der Gruppenleiter mehr auf die typischen individuellen Bewegungen der Teilnehmer eingeht und die Teilnehmer ermuntert, sich selbst zu zeigen, erleichtert er es den Teilnehmern, mit weniger Ängsten aufeinander zu reagieren, sich mit ihrer Persönlichkeit und ihren Anliegen zu zeigen, wechselseitiges Verständnis zu aktivieren und untereinander zu helfen (Mattke 2012). Es entsteht eine interpersonell strukturiertere Situation mit weniger regressiven Tendenzen der Teilnehmer und in der Gesamtgruppe (Tschuschke 2010). Schließlich führt es vielfach zu einem befreiten, lustvollen Miteinander, das Ziel aller gruppenanalytischen Arbeit. Ich meine, auch in der Gruppenanalyse sollte, wie in der Einzeltherapie, alles vermieden werden, was die bisherigen emotionalen „Notarrangements verstärkt und reaktiviert. Vielmehr ist es gut, alles zu erleichtern, was an „spontanen Bewegungen aus diesen „Arrangements" heraus drängt und was zudem die einzelnen Gruppenteilnehmer als wertvollen, ihren wertvollen Beitrag, zu geglückten Beziehungen mit anderen erleben können.

    References

    1.

    Bion, W.R. (1971) Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Klett, Stuttgart.

    2.

    Burrow, T. (1926) Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse. Imago 12, 211–222.

    3.

    Burrow, T. (1928) Die Laboratoriumsmethode in der Psychoanalyse, ihr Anfang und ihre Entwicklung. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse 14, 375–386.

    4.

    Burrow, T. (1928a) The Basis of Group-Analysis or the Reactions of Normal and Neurotic Individuals. Brit. J. Med. Psychol. 8, 198–206.CrossRef

    5.

    Burrow, T. (1950) Emotion and Social Crisis: A Problem in Phylobiology. In: Reymert, M.L. (Hrsg.) Feelings and Emotions. McGraw-Hill, New York. S. 465–486.

    6.

    Burrow, T. (1998) Das Fundament der Gruppenanalyse oder die Analyse der Reaktionen von normalen und neurotischen Menschen. Luzifer-Amor 21, 104–113.

    7.

    Foulkes, S.H. (1974) Gruppenanalytische Psychotherapie. Kindler, München.

    8.

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    Dieter SandnerDie Gruppe und das Unbewusste201310.1007/978-3-642-34819-8_2© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    2. Die Begründung der Gruppenanalyse durch Trigant Burrow – seine Bedeutung für die moderne Gruppenanalyse

    Dieter Sandner¹  

    (1)

    Abt. f. Klinische Psychologie, Alpen Adria Universität Klagenfurt, Universitätsstraße 65-67, 9020 Klagenfurt, Österreich

    Dieter Sandner

    Email: Dieter.Sandner@uni-klu.ac.at

    Zusammenfassung

    Es wird untersucht, welche Fragestellungen bzw. Erfahrungen zur Entdeckung und „Erfindung" der Gruppenanalyse durch Trigant Burrow geführt haben: Es ging ursprünglich für Burrow nicht um eine neue psychotherapeutische Methode oder eine Anwendung der Psychoanalyse auf die therapeutische Situation in einer Gruppe. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse zur Gruppenanalyse entstand vielmehr bei dem Bemühen um eine bessere wissenschaftliche Fundierung der Psychoanalyse als Forschungsmethode zur Erfassung unbewusster Vorgänge. Die zentrale Entdeckung Burrows war, dass Psychoanalytiker ebenso wie ihre Analysanden die Vorgänge in Analysen nur subjektiv, von den jeweiligen subjektiven Wahrnehmungen und Einschätzungen her, betrachten können und dass diese Subjektivität durch die Nutzung der unterschiedlichen Wahrnehmungen aller Gruppenmitglieder und einer dann erfolgenden konsensuellen Validierung dieser Beobachtungen verringert und wissenschaftlich fundiert werden könnte. Die Überlegungen Burrows zur Gruppenanalyse als klinische und wissenschaftliche, psychoanalytische Methode haben die wichtigsten Klassiker der Gruppenanalyse, S.H. Foulkes und A. Wolf, wesentlich beeinflusst.

    Wer sich mit der Geschichte der Gruppenanalyse befasst, wird eine überraschende Entdeckung machen: Trigant Burrow, den wichtige Klassiker der Gruppenanalyse als den Anreger für die eigene gruppenanalytische Arbeit nennen (Foulkes 1974, S. 13 f.; Wolf 1971, S. 145), ist innerhalb der gruppenanalytischen Diskussion und Theorietradition überhaupt nicht präsent. Seine Schriften sind unbekannt. In dem wichtigen Sammelband von Kaplan und Sadock (1971) Comprehensive Group Psychotherapie wird Burrow zwar in dem einführenden Übersichtskapitel zur Geschichte der Gruppentherapie von E.J. Anthony als Begründer der Gruppenanalyse erwähnt, aber mehr als ein Vorläufer der gruppendynamischen Theorietradition betrachtet, und in der zugehörigen Bibliographie sind seltsamerweise die gruppenanalytischen Schriften von Burrow nicht aufgeführt.

    Es besteht die paradoxe Situation, dass von 1925 bis 1928 von Burrow die Grundlagen der Gruppenanalyse in mehreren Aufsätzen auf Englisch in den renommierten psychoanalytischen Zeitschriften dargelegt wurden, dass aber in der englischsprachigen gruppenanalytischen Diskussion Burrow praktisch nicht existent ist. Auf den ersten Blick verwundert es deshalb nicht, wenn dieser Autor auch im deutschen Sprachraum als Gruppenanalytiker unbekannt ist, da die Theorietraditionen, an denen die deutsche gruppenanalytische Diskussion orientiert ist, die englische Tradition ist (Bion, Foulkes, Schindler, Wolf). Es überrascht dann aber schon, wenn bei einer genaueren bibliographischen Recherche zutage kommt, dass zwei der drei wesentlichen Aufsätze Burrows zur Gruppenanalyse fast zur gleichen Zeit auf Deutsch erschienen sind wie auf Englisch: Der erste Aufsatz, in dem der Begriff der Gruppenanalyse eingeführt und begründet wird, mit dem Titel „Die Gruppenmethode in der Psychoanalyse ist 1926 in der Zeitschrift Imago erschienen und der zweite Aufsatz „Die Laboratoriumsmethode in der Psychoanalyse, ihr Anfang und ihre Entwicklung 1928 in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse. Beide Aufsätze sind in der deutschsprachigen gruppenanalytischen Diskussion völlig unbekannt.

    Ich hätte wohl nie etwas von Burrow erfahren, wenn ich nicht 1973 während der gemeinsamen gruppenanalytischen Arbeit mit Dieter Ohlmeier in Ulm von diesem eine Kopie des Imago-Aufsatzes erhalten hätte. Dieter Ohlmeier scheint der Einzige gewesen zu sein, der noch eine Verbindung zu Burrows Denken herstellen konnte.

    Die Frage nach möglichen Ursachen für diese eigentümliche Amnesie des Klassikers der Gruppenanalyse in gruppen- und psychoanalytischen Kreisen soll in dem vorliegenden Kapitel über den Umweg einer Schilderung von Burrows Leben und Werk angegangen werden.

    In Abschn. 2.1 gebe ich einen Überblick über die Intentionen, die Burrow zeit seines Lebens bewegten und zur Entstehung und Begründung der Gruppenanalyse geführt haben.

    In Abschn. 2.2 bis 2.4 lege ich die wesentlichen Überlegungen Burrows zur Grundlegung der Gruppenanalyse dar, wie sie in drei grundlegenden Aufsätzen von 1926 bis 1928 enthalten sind: den beiden oben genannten, auf Deutsch erschienenen Beiträgen sowie dem dritten Beitrag, „The Basis of Group-Analysis or the Reactions of Normal and Neurotic Individuals", der 1928 im British Journal of Medical Psychology veröffentlicht wurde.

    In Abschn. 2.5 schließlich geht es um den Einfluss, den Burrow auf zwei klassische Autoren der Gruppenanalyse, S.H. Foulkes und A. Wolf, ausgeübt hat.

    2.1 Burrows Intentionen zur Begründung der Gruppenanalyse

    Trigant Burrow wurde 1875, im selben Jahr wie C.G. Jung, in Norfolk (Virginia) geboren. Er hatte sowohl Medizin als auch Psychologie – eine damals sehr ungewöhnliche Kombination – studiert. Früh, bereits 1909, hatte er sich der Psychoanalyse zugewandt: Er wurde 1909, als Freud, Jung und Ferenczi zu Gastvorlesungen an die Clark-Universität eingeladen wurden, von A. Brill in New York vorgestellt.¹

    Burrow wollte ursprünglich zu Freud in Analyse gehen, war dann aber auf den Rat von Adolf Meyer 1909/10 hin ein Jahr in Zürich bei Jung in Lehranalyse. Er war Gründungsmitglied der American Psychoanalytic Society, die 1911 gegründet wurde, und publizierte von dieser Zeit an kontinuierlich in psychoanalytischen, psychiatrischen und psychologischen Fachzeitschriften über psychoanalytische Themen². Obwohl Burrow bei Jung in Lehranalyse gewesen war, hatte er nach dem Bruch zwischen Freud und Jung – was die psychoanalytische Theorie anbelangt – die Position Freuds vertreten (Burrow 1917). Von 1911 bis 1921 war Burrow als Psychoanalytiker in Baltimore niedergelassen. Aus seinen damaligen Schriften ist zu entnehmen, dass ihn von Anfang an die wissenschaftstheoretische Frage der Fundierung der Psychoanalyse als Erfahrungswissenschaft sehr interessiert hat³ sowie der Zusammenhang zwischen individueller psychischer Dynamik und den übergreifenden sozialen Strukturierungen, d. h. der die individuelle Psychodynamik bedingende gesamtgesellschaftliche Zusammenhang, sowie die über die vermittelnde Mitgliedschaft in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen entstehende spezifische Strukturierung menschlichen Zusammenlebens⁴. Beide Fragestellungen waren für Burrow nicht akademischer Natur, die durch theoretisch-spekulatives Denken einer Lösung näher gebracht werden sollten, sondern vielmehr Probleme, die ihn innerhalb seiner psychoanalytischen Tätigkeit interessierten und bewegten.

    Dies wird vielleicht am deutlichsten bei der Schilderung der „Umstände, die Burrow dazu gebracht haben, die Psychoanalyse zur Gruppenanalyse weiterzuführen, ihn zur „Erfindung der Gruppenanalyse geradezu gedrängt haben: 1918 hatte Burrow einen – wie er sagt – „sehr begabten" Lehranalysanden, der immer wieder meinte, die Analyse sei einseitig und autoritär,

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