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Schattenherz: Erlöst
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eBook465 Seiten6 Stunden

Schattenherz: Erlöst

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Über dieses E-Book

Zitternd schließt sie die Augen und hofft, dass der Schlaf sie einholt. Wie einst die Königin, deren Palast unter Schnee begraben ist. Die Krallen des Fluches schlagen sich in ihre Seele, ziehen sie tief hinab in die Dunkelheit.

 

Bedroht von einer uralten mächtigen Fee, lebt Ileana von ihrer geliebten Tochter Cassandra getrennt.

Das behütete Leben mit ihrem Neffen Nick gerät aus den Fugen, als ein verloren geglaubter Freund aus der Schattenwelt zurückkehrt und Marys Aufmerksamkeit auf sich zieht: Adrian, dessen Rolle ein schockierendes Geheimnis birgt.

Um Mary aufzuhalten muss Ileana ihre Zweifel aus dem Weg räumen und sich ausgerechnet mit ihrer undurchschaubaren Halbschwester Evelyn verbünden. Gemeinsam mit Adrian tritt sie eine Reise in die Vergangenheit an, die eine unerwartete Wahrheit ans Licht bringt: Marys Feldzug begann vor langer Zeit in einem anderen Leben. Ein Leben, wofür Phil und Vincent bereits mit dem Tod bezahlen mussten.

 

Im Finale der „Schatten-Chroniken“ vereint sich Vergangenes mit der Gegenwart. Es gibt kein Entkommen vor dem erbarmungslosen Schicksal, das über Ileanas Gefühle und über ihr Herz zu regieren versucht. Wird sie ihm entfliehen und die Schattenwelt retten können?

 

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum31. März 2021
ISBN9783748777236
Schattenherz: Erlöst

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    Buchvorschau

    Schattenherz - Hanna Marten

    Prolog

    Von Vampiren wurde sie die schlafende Königin genannt.

    Die Werwölfe nannten sie Schattenkönigin.

    Ihre Fähigkeiten umfassten Kontrolle über die Elemente: Feuer, Wasser, Erde und Luft. Sie hatte die Macht über die Zeit und konnte in den Verstand ihres Gegenübers blicken. Ihr blieb keine Wahrheit oder Lüge verborgen.

    Um ihre Fähigkeiten vor neugierigen Menschenaugen zu schützen, schuf sie sich vor vielen Jahrtausenden ein Reich in den Karpaten, den Kristallwald. Sie wusste, dass sie nur jenen vertrauen konnte, die so wie sie anders waren: den Schattenwesen.

    Wer sich in den Kristallwald begab, dem ließ die Königin die Wahl: Entweder man blieb für immer und lebte als Untertan in dem Dorf vor den Toren ihres Palastes, oder verließ ihn, ohne sich jemals daran erinnern zu können.

    Die Königin stellte sich ihr Volk aus Schattenwesen zusammen, die sie respektierten und achteten.

    Dennoch spürte sie mit der Zeit eine wachsende Leere in sich. Etwas fehlte und sie konnte nicht sagen, was es war. An was mangelte es ihr, wenn sie Kreaturen um sich hatte, die sie sorgen konnte?

    Nach ihrer Begegnung mit den drei Wanderern, die sich ihr Vertrauen erschlichen hatten, war sicher, dass sie nie wieder so leichtfertig handeln würde.

    Durch den Angriff wurde das Dorf zerstört, die Bewohner mit dem Fluch der Wanderer infiziert und wandelten nun als Untote durch den Kristallwald. Die Königin begriff, dass sie Hilfe brauchte, um die Situation vollständig zu begreifen: Die Natur von Vampiren war ihr noch gänzlich unbekannt und sie brauchte einen unabhängigen Verbündeten an ihrer Seite, der ihr nicht gefährlich werden würde. Die Dämonen, die keinerlei Emotionen ihr Eigen nannten, schickten einen von ihresgleichen, um der Königin zu helfen.

    Die Alphawölfin, die Anführerin der Werwölfe, band sich mit einem Versprechen an die Königin, ihr Reich vor jedem Angriff zu beschützen, dem sie ausgeliefert sein würde. Das Territorium der Alphawölfin Sheila grenzte an den Kristallwald und war ebenfalls von den Wanderern zerstört worden.

    Einige Monate nach dem Angriff stellte die Königin fest, dass sie schwanger war.

    Und so wurden die ersten Feen geboren: Die Erste, als die Sonne den Horizont erreicht hatte. Ihre jüngere Schwester, als die Sonne unterging. Evelyn und Mary.

    Die Jahre vergingen und die Königin stellte fest, dass ihre Töchter magische Fähigkeiten entwickelten: Ihre Erstgeborene Evelyn konnte Pflanzen und Tieren neues Leben einhauchen. Mary hingegen konnte den Verstand anderer manipulieren und sie Dinge in ihrem Sinne tun lassen.

    Die Schwestern hatten ein inniges Verhältnis und wurden unter den Bewohnern des Kristallwaldes geschätzt, auch wenn ihre Anwesenheit schmerzvolle Erinnerungen barg.

    Eines Tages geschah das Unvorstellbare, das das Reich jahrhundertelang zerstören sollte: Mary tötete mit unvorstellbarer Grausamkeit vier ihrer und Evelyns Freunde, während eines Festes im Palast, und richtete ein Massaker an, indem sie die Anwesenden dazu brachte, sich gegenseitig umzubringen.

    Die Tat ihrer Tochter zerriss die Königin vor Schmerz. Ihr Volk forderte Vergeltung für Marys Tat und in ihrer Verzweiflung ersann die Königin einen Weg, der Mary vor dem Zorn ihrer Untertanen retten sollte: Ein Spiegelportal brachte sie an einen geheimen Ort, den sie nicht verlassen konnte. Unfähig, Mary allein einzusperren, trennte sich die Königin dafür auch von Evelyn.

    Die Bewohner verziehen ihr nicht, dass sie Mary vor einer Strafe beschützt hatte und verließen ihr Reich, das sie einst so liebevoll errichtet hatte.

    Es gab drei Dinge, die die sterbende Königin mit ihrer schwindenden Macht noch bewirken konnte. Einen Fluch, der die Alphawölfin mit ihrem Rudel an den Kristallwald fesselte. Ihre Untätigkeit, als die Dorfbewohner Hilfe bei ihr gesucht hatten, zahlten die Werwölfe mit immerwährender Gefangenschaft zurück.

    Die Königin rief den Dämon zu sich, der ihr zur Seite gestellt worden war, nachdem er die vier Freunde der Schwestern bestattet hatte. Sie holte mit einem Zauber die verlorenen Seelen zurück und warf sie in die sprudelnde Quelle der Zeit, die durch ihr Schloss führte.

    Diese Seelen sollten einander wiederfinden, sollte es Mary gelingen, aus ihrem Gefängnis auszubrechen und Schaden über die Schattenwelt zu bringen.

    Dieses Wissen vertraute sie dem Dämon an, der bis zur Stunde ihres letzten, bewussten Atemzugs bei ihr blieb, ehe ewiger Schlaf die Königin umfing.

    Sie würde nie erfahren, was aus den vier Seelen werden und ob ihre Töchter jemals einen Weg finden würden, um aus dem Gefängnis zu fliehen.

    Alles, was sie mit ihrer letzten Tat erreichen wollte, war, dass ihr Reich eines Tages wieder von einer Königin regiert werden konnte, die nicht dieselben Fehler wie sie beging.

    Kapitel 1

    London einige Jahrhunderte später

    Ileana

    Hupende Autos, vorbeihastende Passanten und das Lichtermeer aus Ampeln und Werbeanzeigen. Ileana van Sciver lehnte am Fenster ihrer Limousine und betrachtete Piccadilly Circus von der Rückbank aus.

    Henry, ihr Chauffeur, räusperte sich vernehmlich und lenkte Ileanas Aufmerksamkeit auf sich.

    „Nicolas rief während Ihres Meetings ein paar Mal an, Madam."

    Ileana lächelte und sagte: „Natürlich hat er das. Er hatte heute einen Test in Geschichte."

    Henrys Blick und ihrer trafen sich im Rückspiegel und sie konnte sein Lächeln sehen.

    „Er klang wütend und meinte, sein Nachhilfelehrer würde es nicht bringen."

    Ileana verdrehte die Augen. „Wie lange will er mir das noch erklären? Das ist bereits der fünfte Lehrer, den ich ins Haus geholt habe. Was kann so schwer daran sein, ein paar Daten auswendig zu lernen? Sie richtete ihre Worte eher an die Fensterscheibe als an Henry. Ihr neunjähriger Neffe bereitete ihr nicht viele Sorgen – abgesehen von seiner offenkundigen Abneigung gegen das Vergangene. „Hat er sonst noch etwas gesagt?, fragte sie.

    Henry nickte. „Sie sollen nicht sauer sein."

    Ileana schnaubte. „Wenn das seine Worte gewesen sind, Henry, weiß er genau, was das bedeutet. Konsequenzen, die er nicht cool finden wird." Im Klartext hieß das, eine weitere Suche nach einem Nachhilfelehrer.

    Die Limousine hielt vor ihrem Reihenhaus im Stadtteil Belgravia und Henry öffnete ihr die Wagentür. Hier bewohnte sie seit sieben Jahren mit Nicolas und ihrer Mutter Lara eines der Häuser, die sich im Besitz des Vampir-Clans van Sciver befanden.

    Sie wollte dem Jungen einen Teil jener Kindheit schenken, die auch sie mit ihrem Bruder Vincent in dieser Stadt gehabt hatte. Bei dem Gedanken an ihren Zwillingsbruder verkrampfte sich Ileanas Hand auf dem Türknauf, ehe sie in die Diele des Hauses trat, deren Boden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster ausgelegt war. Das Klappern einer Tastatur war aus dem Wohnzimmer zu hören.

    Als sie den Raum betrat, blickte Lara van Sciver auf. Die Vampirin war bereits über ein Jahrhundert alt, doch wirkte nur wenige Jahre älter als Ileana. Sie trug ihr schwarzes Haar kurz und hatte sich während Ileanas Abwesenheit blonde Strähnen färben lassen.

    „Du bist spät dran. Man sagte mir, du seist bereits vor drei Stunden in Heathrow gelandet. Was hat dich aufgehalten?"

    Ileana ließ sich ihr gegenüber auf einem Stuhl nieder und seufzte. „Dir bleibt auch gar nichts verborgen, Mum. Was kümmert es dich überhaupt? Du weißt, dass ich als Clanoberhaupt viel zu tun habe und meine Freiräume brauche."

    Lara lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Freiräume, die dir helfen, abzuschalten. Keine, die dich an vergangene Zeiten erinnern, die dich immer noch verletzen."

    Ileana runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?"

    Lara drehte ihren Laptop um und schob ihn über den Tisch. Ileana las die Überschrift eines Artikels der lokalen Zeitung:

    Polizeilicher Einsatz in beliebtem Restaurant

    Am späten Abend stürmte eine Sondereinheit der Drogenfahndung das beliebte Restaurant „Jane’s View". Polizeisprecher beriefen sich auf eine anonyme Quelle, die den Verkauf von Suchtmitteln zur Anzeige gebracht hatte. In den Räumen wurde jedoch nichts gefunden. Auch die Durchsuchung der Gäste und des Personals förderte keine Mittel dieser Art zutage. Dennoch hieß es, die Ermittlungen würden in alle Richtungen weiterlaufen.

    Ileana betrachtete das Foto über dem Artikel: Es zeigte die Front ihres Lieblingsrestaurants hinter gelbem Absperrband. „Was hat das mit unserem Geheimnis zu tun, Mum?"

    Lara klappte den Laptop zu und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Ist das nicht euer Lieblingsrestaurant? Das, in dem …"

    Ileana spannte sich an und unterbrach sie: „Worauf willst du hinaus? Ich besuche das Restaurant, weil es die Erinnerung an mein altes Leben in London in mir wachhält!"

    Lara schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf. „Ich mache mir Sorgen. Du hättest dort sein können und wenn sie dir Blut entnommen hätten, wäre das eine Angelegenheit des Netzwerks geworden."

    Ileana zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon? Dafür ist das Netzwerk da: Um unsere Identität bei den Behörden zu verschleiern und uns aus solchen Situationen herauszuhelfen."

    Lara seufzte. „Deine Schwägerin hat das Netzwerk als letzten Ausweg gegründet, wenn alle anderen Optionen scheitern."

    Siennas Namen nicht auszusprechen, war in Ileanas Augen schlimmer, als es zu tun. „Das heißt noch lange nicht, dass dieser Aufstand, den du hier anzettelst, gerechtfertigt ist. Du würdest mir hier nicht auflauern, wenn es nur um die Drogenrazzia geht. Was willst du mir sagen, Mum?"

    „Ich habe eine Quelle des Netzwerks in besagter Behörde, Ileana. Sie sagte mir, dass an jenem Abend das Personal vollzählig anwesend war. Sie holte ein Foto aus ihrer Handtasche: Das Bild musste am selben Abend entstanden sein und zeigte eine Personengruppe, deren Gesichter im Blaulicht teilweise dunkel oder blau beschienen wurden. Als das Papier unter ihren zitternden Fingern einknickte, ließ sie es los. „Eine bestimmte Blutanalyse von einem alten Bekannten dürfte ein interessantes Ergebnis liefern, bemerkte Lara ruhig.

    „Ich kann mich nicht erinnern, dass unser Netzwerk für ein Schattenwesen außerhalb der Clans zuständig ist, außer ein Oberhaupt erteilt eine direkte Anweisung."

    „Lass ihn in Ruhe. Er soll da nicht reingezogen werden!"

    Lara lachte leise auf. „Oh, ich bin die Letzte, die das möchte, mein Kind. Ich wahre nur deine Interessen. Und womöglich deine Sehnsüchte."

    Ileana biss die Zähne zusammen und verließ fluchtartig den Raum, stürmte die Treppe hinauf und hielt im Flur inne, die Hände zu Fäusten geballt. Wie konnte es ihre Mutter wagen, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen?

    Das Janes View war für Ileana eine emotionale Zuflucht gewesen, nachdem sie mit Nicolas und Lara hierhergezogen war: Eine Erinnerung an Sienna, Phil und Vincent. Dieser Ort war ihr Beginn.

    Bis sie dort Adrian begegnet war und sich das geändert hatte. Vor vier Wochen hatte sie jene Person getroffen, die von ihm übriggeblieben war, nachdem sie ihm im Palast der Königin mit der Flügelklinge die Brust durchbohrt hatte …

    „Tante Ileana?"

    Nick stand in einem grauen Pyjama in der Tür seines Zimmers, die grünen Augen müde auf sie gerichtet.

    „Hey Nicki. Habe ich dich mit meinem Getrampel geweckt?"

    Er schüttelte den Kopf und erwiderte ihre Umarmung. „Ich habe deine Stimme gehört und wollte dir Hallo sagen, bevor ich ins Bett gehe. Nick ließ sie los und sah sie neugierig an. „Ist etwas passiert?

    Ileana überlegte, wie sie ihm ihr aufgebrachtes Verhalten erklären konnte. „Sobald das Schuljahr zu Ende ist, verlassen wir London für ein paar Wochen und nutzen die Zeit für andere Dinge. Zusammen. In Paris."

    „Ist es das, was Mum und Dad gewollt haben? Können wir das in Paris tun?", fragte er zögernd.

    Ileana spürte einen Kloß im Hals: Nick wusste nichts Konkretes über den Plan, dafür war er noch zu jung. Aber ihr war es wichtig gewesen, ihm von Beginn an von Sienna und Vincent zu erzählen. Sie wollte, dass Nick so aufwuchs, wie ihr Bruder und ihre Schwägerin es als richtig empfunden hätten. Ileana lächelte und strich Nick mit der Hand flüchtig durch das haselnussbraune Haar. „Alles, was ich für dich tue, geschieht auch für deine Mum und deinen Dad. Und für dich, so lange, bis du deinen eigenen Weg gehen wirst. Sie schob ihn in sein Zimmer. „Und jetzt ab ins Bett.

    Nick drehte sich zu ihr um. „Gute Nacht, Tante Lea. Er zögerte einen Moment, dann fügte er an: „Ich habe den Test heute vermasselt. Er machte die Tür zu.

    Ileana verkniff sich ein Schmunzeln.

    Nachdem sie sich mit Blut aus dem Kühlschrank gestärkt hatte, verließ sie das Haus unbemerkt durch den Hintereingang. Ileana wusste, dass ihre Mutter nur das Beste für das einzige Kind wollte, das ihr geblieben war. Ihre Methoden waren in den meisten Fällen, wie bei diesem, zu forsch. Dennoch war Ileana ihr insgeheim dankbar, dass Lara sie auf den Fall aufmerksam gemacht hatte.

    Durch das nächtliche London zu Fuß unterwegs zu sein, war eine willkommene Abwechslung zu ihren Pflichten als Clanoberhaupt. Der Umzug nach Paris war notwendig, um einen weiteren Teil des Plans auszuführen: Sowohl Nick als auch ihre Tochter Cassandra waren in einem Alter, in dem sie sich bald von den Erwachsenen in ihrer Umgebung lösen wollten und erste eigene Wege und Entscheidungen treffen würden.

    Ileana versetzte der Gedanke an ihre Tochter einen Stich. Sie war der Grund für ihren Plan und die Trennung, die zwei Familien gesprengt hatte.

    Cassandra war mit einer zersplitterten Seele geboren, vergiftet durch den Geist der Königin. Cassandra lebte in unmittelbarer Nähe zu der Königin. Ileana dagegen in Ungewissheit, wie es ihr ging. Sicher wusste sie nur, dass ihr kleines Mädchen am Leben war. Würde der Plan aufgehen, würde sie ihre Tochter bald wiedersehen und Nick mit Sienna vereint werden, unter deren Schutz Cassandra stand.

    Vor dem Janes View blieb Ileana stehen. Das Restaurant war geschlossen, die Fassade in Dunkelheit gehüllt. Gelbe Siegel signalisierten, dass das Betreten streng verboten war. Einige Passanten hielten kurz vor den dunklen Schaufenstern inne. Warum war sie hier? Es wäre unvorsichtig, einzubrechen und ein sinnloses Eingreifen des Netzwerks heraufzubeschwören.

    Du bist seinetwegen hier, erklang eine Stimme in ihrem Kopf. Testen sie sein Blut, werden die Behörden feststellen, dass es keine menschlichen Merkmale aufweist …

    Ileana wünschte, sie hätte ihn hier nicht vor zehn Jahren wiedergetroffen und dieses Restaurant in unbeschwerter Erinnerung behalten können. Adrians Auftauchen hatte sie für mehrere Wochen aus der Bahn geworfen. Sie hatte recherchiert, um eine Erklärung dafür zu finden, dass er sich nicht an die Ereignisse von damals erinnern konnte, geschweige denn an sich selbst und … an sie.

    Was sie hatte herausfinden können, war, dass er sich mit Aushilfsjobs als Pianist über Wasser hielt und keinen festen Wohnsitz hatte. Das war jedoch ihr Stand von vor zehn Jahren und seither hatte sie das Lokal immer seltener besucht, da sie zu dem Schluss gekommen war, es wäre unfair ihm gegenüber, sich in sein Leben einzumischen, das er im Griff hatte.

    Bis auf dieses eine Mal …

    Sie wählte die Nummer ihres Sicherheitschefs Cesare.

    „Miss van Sciver?", meldete er sich.

    „Guten Abend, Cesare. Wie schnell ist es möglich, eine Blutprobe aus dem Labor der Drogenfahndung auszutauschen? Es geht um die Ermittlung im Restaurant Janes View in London."

    Einen Moment lang war nur das Klappern der Tastatur zu hören, ehe sich Cesare wieder meldete: „Ich habe alles Nötige veranlasst. Machen Sie sich keine Sorgen."

    Ileana bedankte sich und legte auf.

    Ein starker Wind setzte ein. Ileana zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf.

    „Traurig, nicht wahr? Ein Anruf und eines der schönsten Restaurants dieser Gegend ist ruiniert."

    Ileana ignorierte die Bemerkung des Mannes und wandte sich zum Gehen, doch der Unbekannte sagte: „Sie sollten aufpassen, Ileana van Sciver."

    Sie blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Vor ihr stand ein junger Mann mit kurzen dunkelblonden Haaren und Augen, so dunkel wie die Nacht. Er trug einen schwarzen Anzug und wirkte, als wäre er aus dem vorletzten Jahrhundert entsprungen. Doch Ileana erkannte die Tiefe in seinen Augen wieder und wusste, wen oder was sie vor sich hatte. „Sie sind ein Dämon."

    Der Unbekannte lächelte. „So ist es. Mein Name ist Gabriel. Ich suche nach einem meiner Zirkelmitglieder, ebenso wie Sie."

    Ileana verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie irren sich, Gabriel. Ich suche nicht nach ihm."

    Gabriel sah zu dem Restaurant. „Dennoch beschützen Sie ihn. Und dass, obwohl Sie ihn mit seiner eigenen Klinge durchbohrt haben."

    Ileana zuckte zusammen, ihr Körper fühlte sich auf einmal taub an: Für sie war es unerträglich gewesen, sich vorzustellen, sie hätte Adrian wirklich getötet. Bis sie ihn lebend gesehen hatte.

    „Oh, Verzeihung, fügte der Dämon an. „Nicht in dem Ausmaß, dass Sie ihm das Leben genommen haben.

    Er hatte ihre Gedanken gehört. Das war eine Fähigkeit der Dämonen, genauso wie die eigenen Gedanken telepathisch zu übermitteln. Ileana sah ihn verwirrt an, denn sie verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte. „Aber er lebt ohne Erinnerung und Identität", sagte sie zögernd.

    Gabriel bedachte sie mit einem Blick, der ihr wie Mitleid vorkam. „Deshalb bin ich hier. Ich möchte ihn wieder zu dem machen, was er war."

    Ileana zuckte mit den Schultern. „Was habe ich damit zu tun?"

    Gabriel schloss die Augen und sprach in Ileanas Kopf weiter: „Er hätte durch die Klinge in die Zwischenwelt befördert werden müssen. Aber das Höllenfeuer hat ihn nicht zu uns zurückgebracht. Ich habe mich gefragt, warum?"

    Ileana zuckte reflexartig mit den Schultern. „Weshalb kommen Sie damit ausgerechnet auf mich zu?"

    Gabriel lächelte. „Weil Sie ihn gut gekannt haben. Ich dachte, Sie könnten mir helfen, ihn zu finden."

    Ileana hob beide Augenbrauen. „Er spielt in diesem Restaurant jeden Donnerstag und Samstag am Klavier. Mehr weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen."

    Gabriel folgte ihr, als sie dem Janes View den Rücken zuwandte und den Rückweg antrat. „Wenn das so ist, frage ich mich, warum Sie ihn beschützen wollen. Ich frage mich, ob er Ihnen mehr bedeutet, als Sie mir gesagt haben. Und jetzt sehe ich die Antwort darauf."

    Sein Blick glitt über ihr Gesicht und sein Lächeln wirkte traurig. Ileana schwieg. Es war nicht notwendig, ihm zu antworten. Er konnte ihren Schmerz sehen.

    Gabriel nickte. „Deshalb war es clever von Ihnen, die Probe verschwinden zu lassen. Werden Sie mir helfen, ihn wieder zu dem zu machen, der er war?"

    Ileana sah dem Dämon in die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich wüsste nicht, wie."

    „Ich brauche die Flügelklinge, antwortete Gabriel. „Wo befindet sie sich?

    „Ich kann sie Ihnen zukommen lassen. Das dauert allerdings ein paar Tage", antwortete sie.

    Gabriel streckte die Hand aus. „Dann haben wir eine Abmachung?"

    Ileana zögerte. „Ich gebe Ihnen die Klinge unter einer Bedingung, Gabriel."

    Der Dämon verengte die Augen und zog seine Hand zurück. „Welche?"

    Ileana biss sich auf die Unterlippe. „Halten Sie ihn fern von mir. Ich will ihn nie wiedersehen."

    Gabriel schien darüber nachzudenken, doch als Ileana ihre Hand nach seiner ausstreckte, sagte er: „Ich werde es tun."

    So schlossen die Vampirin und der Dämon in jener Nacht einen Pakt auf Kosten eines anderen.

    Nachdem Ileana und Gabriel auseinandergegangen waren, ging die Vampirin zurück zu ihrem Haus. Erschöpft fiel sie in ihr Bett. Schlaf war etwas, das Vampire nicht benötigten. Das war eines der Dinge, die sie daran hasste, eine Vampirin zu sein, weil es ihr die Möglichkeit nahm, Ereignisse, die sie schmerzten, zu verarbeiten.

    Sie wählte die Nummer des Instituts in Prag. „Bringt die Federklinge nach Paris. Keiner darf etwas davon erfahren." Sie weihte andere nie in ihre Pläne ein, ehe es nicht notwendig war. Gabriel hatte behauptet, er wolle Adrian in sein altes Leben zurückholen. Doch Ileana blieb misstrauisch und hatte nicht vor, dem Dämon ohne gründliche Recherchen das Schwert zu überlassen.

    Seit Jahren hatten Experten in den Kreisen der Vampire versucht, mehr über die Eigenschaften der Klinge herauszufinden. Sie entstammte Adrians Flügeln. Im Kristallwald hatte Ileana ihn auf seinen Wunsch damit durchbohrt. In der Gewissheit, Adrian wäre in die Zwischenwelt befördert worden, war Ileanas Leben weitergegangen. Sie hatte gewusst, dass sie ein Leben ohne den Dämon führen musste, um den Verlust ihres Vaters und Bruders, des Clans und ihrer Familie zuliebe in ihr Innerstes zu verbannen. Adrian hätte … Was?

    Ileana öffnete die Augen. Adrian hatte ihr damals versichert, dass die Flügelklinge weder sie noch Cassandra jemals verletzen würde.

    Doch galt das auch heute noch? Ileana setzte sich auf. Schwaches Tageslicht drang durch die Vorhänge in ihr Schlafzimmer. Als sie Nicks Tür aufgehen hörte und kurz darauf seine Schritte auf der Treppe, folgte sie ihm. „Guten Morgen, Nicolas."

    Ihr Neffe schüttete sich Müsli in eine Schale und griff nach der Milch. „Morgen, Tante Ileana. Wo geht es heute hin?"

    An den Wochenenden waren sie beide in der Regel allein, da Lara nach Bath fuhr, um die Großstadt hinter sich zu lassen. Ileana setzte einen Topf mit Milch auf den Herd und drehte sich zu Nick um. „Wir fahren nach Paris und sehen uns die Wohnung an, in der wir deine Ferien verbringen werden. Was hältst du davon?"

    Nick sah sie mit großen Augen an. „Ich darf mitkommen?" Seine Stimme war vor Aufregung ein paar Tonlagen hochgerutscht.

    Ileana nickte. „Wieso nicht? Es handelt sich nicht um ein Meeting oder um Clan-Geschäfte."

    Nicks grüne Augen leuchteten vor Aufregung, während er sein Müsli löffelte, und Ileana beobachtete ihn amüsiert.

    In den fast zehn Jahren, die sie miteinander lebten, war Nick ihr stets eine Erinnerung an Sienna und Vincent gewesen. Sein Aussehen glich dem seines Vaters, bis auf die grünen Augen, die Nick von seinem Großvater William Aragon geerbt hatte. Sienna hingegen war in ihrem Sohn nur dann zu erkennen, wenn man ihn lange genug kannte. Seinen starken Willen und sein Tatendrang hatte er zweifellos von ihr. Ileana lächelte in sich hinein und ergänzte: „Was wünschst du dir zu deinem Geburtstag nächste Woche?"

    Nick sah sie an und legte seinen Löffel in die inzwischen leere Schüssel. „Das weißt du doch, Tante Ileana. Ich will nach Siena und Trinity Hall besuchen."

    Ileana senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Wir haben eine Abmachung, Nicki. Nicht, bevor du fünfzehn bist und alt genug, um …"

    Nick stand auf und sah sie mit finsterem Gesichtsausdruck an. „Ich bin alt genug, um mit dir den Ort zu besuchen, an dem mein Dad gestorben ist!"

    Sein Ausbruch überraschte sie und sie wandte sich von ihrem Neffen ab, um ihre zitternden Hände zu verbergen. „Nein. Es ist zu gefährlich. Selbst mit mir und zehn unserer Wächter, Nicolas. Du bist zu jung, um in den Umkreis der tödlichen Rosen und der Macht der Königin zu kommen. Ileana sprach ruhig und drehte sich zu dem Jungen um, der sie mit starrem Blick musterte. „Diese Entscheidung treffe ich. Nicht du. Noch nicht. Du bist das Wichtigste, das mir geblieben ist, Nick.

    Ihr Neffe verschränkte die Arme. „Das stimmt nicht. Da ist Cassandra. Du redest nie über sie und ich möchte mehr wissen. Warum erzählst du mir nie von ihr?"

    Weil sie eine Sklavin der Königin ist, seit sie Teil meines Körpers war … Ileana schloss für einen Moment die Augen. „Ich kann dir nicht viel sagen. Alles, worauf ich hoffen kann, ist, dass deine Mutter sie so gut beschützt wie ich dich."

    Nicolas kam auf sie zu. „Warum tust du so, als wäre sie tot? Warum wollten meine Eltern, dass wir getrennt aufwachsen?"

    Ileana sah ihn an. „Nicht heute. Das ist mein letztes Wort. Sie verließ die Küche. Auf der Treppe stand Lara und hatte augenscheinlich mitgehört. „Tu mir einen Gefallen und halte dich an unsere Abmachung, bemerkte sie an ihre Mutter gewandt und verließ das Haus. Henry, der bereits am Auto lehnte, machte Anstalten, ihr die Tür zu öffnen, doch Ileana winkte ab. „Ich gehe zu Fuß, danke Henry."

    Sie hatte noch eine Sache zu erledigen, ehe sie mit Nicolas nach Paris abreiste.

    Sienna

    Regen prasselte auf das Dach der Hütte. Einzelne Tropfen fielen auf meinen Kopf. Das Dach aus Blättern hatte ein paar neue Löcher. Zwischen den Holzlatten sah ich den Lichtschimmer des anbrechenden Tages. Ein weiterer Tag im Kristallwald.

    Nach ein paar Jahren hatte ich aufgehört, sie zu zählen, und mich voll und ganz darauf konzentriert, unseren Plan umzusetzen. Jenen Plan, den Ileana, Vincent und ich im August vor vielen Jahren geschmiedet hatten und der uns eines Tages aus unserer Lage befreien sollte.

    Cassandra war inzwischen zu einem Mädchen herangewachsen, das sich regelmäßig die Geschichte darüber anhören sollte, wie wir hierhergekommen waren.

    Das war alles, was ich ihr in dieser Welt, fernab der unseren, geben konnte. Das und meine Liebe zu der Nichte, die sie hätte werden können, wären wir zu Hause. Aber das waren wir nicht und sie stand unter dem Einfluss der schlafenden Königin, in deren Palast sie ein und aus ging.

    Auf der Ruine mitten im Wald lagen Zauber, die verhinderten, dass ich Cassandra folgen oder auch nur in Erfahrung bringen konnte, was sie dort tat. Ihre Besuche bei mir waren daher umso kostbarer. An diesem Morgen war ich überrascht, sie am See vorzufinden. Dieser Ort zog sich entlang eines von Laub bedeckten Ufers bis hin zu den eingestürzten Steinmauern, die den alten Palast umgaben. Die Arme um die Knie geschlungen, saß sie dort und blickte nachdenklich über die Oberfläche des dunklen Gewässers. Ihr langes honigfarbenes Haar fiel ihr bis über die Schultern.

    Ich trat neben sie. „Du besuchst mich sonst nie so früh", bemerkte ich und sah auf sie hinunter.

    Das Mädchen sah mich kurz an und zuckte mit den Schultern. „Ich habe nachgedacht. Über deine Geschichte."

    Ich runzelte die Stirn. „Es ist nicht nur meine Geschichte. Es ist auch deine, Cass."

    Cassandra sah mich lange an. „Nein. Es ist ein Spiel, Tante Sienna. Das hast du mir all die Jahre nie erzählt, aber für die Königin ist es eins."

    Perplex starrte ich sie an. Ich war stets der Meinung gewesen, der Einfluss der Königin auf meine Nichte wäre so stark, dass sie ihr meine Version der Ereignisse unglaubhaft machen würde. Andererseits war es das erste Mal, dass Cass über die Königin sprach, und ich hielt das für eine gute Gelegenheit, sie weiter darüber sprechen zu lassen. „Es gibt Dinge, die ich dir noch nicht erzählen konnte. Du bist noch ein Kind, Cass."

    Sie sah mich lange an, ehe sie antwortete: „Ich habe Dinge getan, die dich ängstigen. Warum sagst du mir nicht, weshalb wir hier sind?"

    Ich verengte die Augen. „Oh, ich glaube, das weißt du längst. Oder Cassandra? Sie hat es dir gesagt."

    Meine Nichte lächelte geheimnisvoll und ihre grünen Augen blickten wieder in weite Ferne. „Ich fürchte, sie ist nicht die Böse, für die ihr sie gehalten habt, Tante Sienna. Was auch immer dich dazu bewogen hat, mit mir hierherzukommen, wird Mum und Nicolas nicht retten."

    Den Namen meines Sohnes zu hören veranlasste mich, einen Moment die Beherrschung zu wahren, ehe ich weitersprach:

    „Was soll das heißen?"

    Cassandra legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. „Es heißt, ihr habt Mist gebaut."

    Ich biss die Zähne zusammen. „Wie ist das möglich? Alles, was die Königin uns angetan hat, die Prophezeiung und Vincents Tod …, meine Stimme erstarb. „Warum?

    Sie deutete auf den See und machte eine Bewegung hinüber zum Wald. „Sie kann es dir nicht selbst sagen, aber du kannst es herausfinden, sagt sie. Die Zeit ist gekommen."

    Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Hatte ich die Jahre hier mit Cassandra verschwendet? Hätte Vincent nicht sterben müssen?

    Cassandra schlang ihre Arme um mich. Trotz allem war sie meine Familie, war gesund, trotz des zweifelhaften Einflusses der Königin, von der ich noch nicht wusste, was sie für ein Spiel trieb. Ich legte meine Hände auf Cassandras Schultern und drückte sie sanft. „Lass uns gehen, sagte ich entschlossen und lächelte meine Nichte an. „Ich möchte wissen, was sie meint. Du nicht?

    Cassandra lächelte und es erschien mir als das kindliche Lächeln, das ihres war. „Auf gehts."

    Am Ufer des Sees lagen stets Herbstblätter, so als wäre diese Jahreszeit hier eingefroren worden. Vor uns erstreckten sich Überreste von Bäumen, deren Stämme nur noch aus verbranntem Holz bestanden.

    „Dieser Teil des Reiches wurde von den Wanderern verwüstet", sagte ich. Asche und Staub wirbelten bei jedem unserer Schritte auf und brannten mir in den Augen.

    Cassandra hielt inne. „Ja, das war vor eurer Zeit."

    Ich runzelte die Stirn. „Was hat sie dir erzählt? Ich wusste schon immer, dass sie dir Dinge sagt, weil sie einen direkten … Zugang zu deiner Seele hat."

    Cassandra erwiderte: „Wenn ich es dir sagen würde, würdest du es nicht glauben, Tante Si. Ihr habt der Königin von Anfang an nicht getraut, weil ihr nur die Version von Opa Simon habt. Was nach dem Angriff der Wanderer wirklich passiert ist, weiß nur die Königin. Das ist der Grund, weshalb wir hier sind."

    Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte, und schwieg. Als mein Blick über den See wanderte, blieb ich verdutzt stehen. Ein Schwan gründelte in Ufernähe. Für einen Moment war ich überzeugt, einer optischen Täuschung zu unterliegen, doch dann streckte Cassandra eine Hand nach dem Tier aus, das daraufhin den Kopf aus dem Wasser streckte und langsam näher schwamm.

    „Ist der wirklich?", fragte ich perplex.

    Cassandra wartete, bis der Schwan nur noch wenige Zentimeter von ihren Fingern entfernt war. „Nein, aber er ist trotzdem da, oder?", sagte sie.

    Als der Schwan den Kopf nach vorn neigte, um Cassandras Finger zu berühren, fasste sie ins Leere. Ich trat näher und erkannte, dass der Schwan durchscheinend war.

    Cassandra ließ die Hand sinken. „Eine verlorene Seele aus diesem Reich, die nach wie vor hier gefangen ist. Beinahe so wie wir."

    Ich beobachtete, wie sich das Tier von uns entfernte. „Die Bewohner dieses Reiches. Es waren also Menschen."

    Cassandra stand auf und nahm meine Hand. „Nicht nur."

    Ich seufzte. „Wie oft habe ich dir unsere Geschichte erzählt? Einige hundert Mal, nicht wahr?"

    Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich kenne sie auswendig."

    „Wie kommst du darauf, dass die Version der Königin richtig ist?, fragte ich weiter. „Sie kann dich genauso gut belogen haben.

    Cassandra sah mich an und ihr Händedruck wurde fester. „Sie hat keinen Grund dazu. Außerdem können wir uns seitdem wir hier sind, frei bewegen. Das Einzige, was wir nicht können, ist, dieses Reich zu verlassen. Vielleicht möchte sie, dass wir es kennenlernen. Du solltest ihr eine Chance geben, Tante Sienna."

    Blieb mir etwas anderes übrig?

    Cassandra führte mich zu dem Dorf vor den Palastmauern. Ich vermied sonst, es zu betreten. Efeu rankte eingestürzte Mauern empor, als wollte es sie erdrosseln. Hecken zwängten sich ins Innere der Häuser wie ungebetene Besucher. Anders als im Wald war hier etwas gänzlich anderes am Werk: Evelyn, die über die Natur gebot.

    „Das hier geschah also nach dem Angriff der Wanderer", murmelte ich und versuchte, das Stöhnen des Windes in den Gassen zu ignorieren.

    „Weshalb hat sie ihr Reich zerstört?", fragte Cassandra, doch darauf wusste ich keine Antwort. Sie hatte vermutlich recht, dass wir nicht die ganze Geschichte kannten. Wenn wir darüber schon so wenig wussten …

    Je länger wir die Häuserzeilen passierten, desto deprimierter wurde ich. Die Gewissheit, dass einzig Evelyn dieses Dorf zerstören konnte und kein Leben darin zurückgelassen hatte. Das machte sie ebenso gefährlich wie ihre Mutter.

    Die Straße führte uns endlich aus dem Dorf heraus zurück an den See.

    „Tante Sienna, sieh dir das an. Cassandra ließ meine Hand los und ging einen Hügel hinauf. „Das könnten Gräber sein, oder?

    Beunruhigt folgte ich ihr. Obwohl kein Grabstein die vier Erhebungen schmückte, waren sie doch unschwer als Gräber zu erkennen. Drei davon waren mit einer dichten Laubschicht bedeckt. Das vierte, eines der mittleren, lag kahl im Sonnenlicht. Nicht eine Pflanze hatte versucht, auf der brösligen gräulichen Erde Fuß zu fassen.

    Ich kniete mich davor und legte meine Hand darauf. „In diesem Dorf starben Hunderte Menschen. Wieso gibt es nur diese vier Gräber?", fragte ich geistesabwesend, denn ich hatte einen Gegenstand entdeckt, der in der Erde glitzerte. Ich schob die Erde beiseite. Eine schwarze Feder von der Größe meines Unterarms kam zum Vorschein.

    „Was ist das?", fragte Cassandra, als ich die Feder vorsichtig in die Hand nahm und die scharfe Kante betrachtete. Ich neigte meinen Kopf und atmete den Duft ein, der an ihr haftete. Die Feder glitt mir aus den Fingern, als ich den Duft erkannte.

    „Tante Sienna?" Cassandra packte mich am Oberarm.

    Für einen Moment lehnte ich mich an sie, bis das Zittern abklang. „Er war hier. Er kannte die ganze Geschichte und hat uns belogen."

    Cassandra sah auf die Feder. „Wer?"

    Ich stand auf und straffte die Schultern. „Adrian."

    Kapitel 2

    Ileana

    Lieber Vincent, liebe Sienna,

    Nicolas hat heute sein erstes Wort gesprochen. Na gut, es war undeutlich, aber ich denke, es klang nach „Hund".

    Darüber solltet ihr wissen, dass unsere Nachbarin gleich sechs davon hat und Nick praktisch jeden Tag nach ihnen Ausschau hält, wenn wir rausgehen. Seit er laufen kann, klettert er überall herum und über ein Gitter brauche ich erst gar nicht nachzudenken, er würde es vermutlich schneller überwinden, als ich es abbauen kann.

    Ihr seid seit einem Jahr nicht mehr Teil unseres Lebens und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an euch beide und meine Cass denke.

    Mum und Thomas helfen mir mit Nick und ich bin ihnen dafür unendlich dankbar, besonders, wenn ich mich mehrere Tage bei Angehörigen des Clans aufhalte. Zu meinen Aufgaben gehört momentan vornehmlich, Versprechungen zu erfüllen und einzufordern. Loyalität ist, besonders nach unseren Erlebnissen im Kristallwald, nicht leicht zu bekommen, immerhin sind zwei Oberhäupter und ihr beide von uns gegangen.

    Mir bleibt nur zu hoffen, dass unser Plan gelingen wird, und Nick wohlbehalten aufwachsen kann. Und dass du, Sienna, gut auf meinen Schatz aufpasst.

    Auch wenn ihr diese Zeilen nie lesen werdet, habe ich das Gefühl, sie erreichen euch. Egal, wo ihr seid.

    In Liebe

    Ileana

    Während der letzten zehn Jahre

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