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DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL
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eBook481 Seiten5 Stunden

DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL

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Über dieses E-Book

»Die Gefühle der Menschen sind gefährlich. Über viele Jahrhunderte hinweg haben sie zu Chaos, Leid und schrecklicher Gewalt geführt. Ich – das Verhaltenskontrollsystem – habe diese animalischen Instinkte durch echte Werte wie Freundlichkeit, Zuvorkommenheit und Charme ersetzt. Natürlich muss ich zu diesem Zweck alle Menschen mit Kameras überwachen. Deshalb gibt es bei mir auch keine Privatsphäre mehr; nur noch eine Sphäre des Lächelns, der Sympathie und der guten Laune...«


Sven Klöppings kompromissloses (und geradezu wahnwitzig originelles) Roman-Debüt DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL gleicht einem Parforceritt durch die von ironischem Neonlicht erhellten Gassen und Hinterhöfe der Science-Fiction-Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts und zeigt sich stilistisch der britischen New Wave (unter besonderer Berücksichtigung von Michael Moorcock und Brian W. Aldiss) zugeneigt. Ein Leckerbissen für alle, die an der Science Fiction das Außergewöhnliche und Unberechenbare lieben!

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. Aug. 2017
ISBN9783743825826
DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL

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    Buchvorschau

    DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL - Sven Klöpping

    Das Buch

    »Die Gefühle der Menschen sind gefährlich. Über viele Jahrhunderte hinweg haben sie zu Chaos, Leid und schrecklicher Gewalt geführt. Ich – das Verhaltenskontrollsystem – habe diese animalischen Instinkte durch echte Werte wie Freundlichkeit, Zuvorkommenheit und Charme ersetzt. Natürlich muss ich zu diesem Zweck alle Menschen mit Kameras überwachen. Deshalb gibt es bei mir auch keine Privatsphäre mehr; nur noch eine Sphäre des Lächelns, der Sympathie und der guten Laune...«

    Sven Klöppings kompromissloses (und geradezu wahnwitzig originelles) Roman-Debüt DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL gleicht einem Parforceritt durch die von ironischem Neonlicht erhellten Gassen und Hinterhöfe der Science-Fiction-Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts und zeigt sich stilistisch der britischen New Wave (unter besonderer Berücksichtigung von Michael Moorcock und Brian W. Aldiss) zugeneigt. Ein Leckerbissen für alle, die an der Science Fiction das Außergewöhnliche und Unberechenbare lieben!

    Der Autor

    Sven Klöpping, Jahrgang 1979.

     Sven Klöpping ist ein deutscher Autor von Lyrik, Science-Fiction-Erzählungen und  -Romanen.

    Im Jahr 2001 erschien MegaFusion, eine Sammlung von Erzählungen; eine der Erzählungen - Beschützte kleine Buben fliegen high - wurde 2002 für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert.

    In der Folgezeit erschienen merhrere seiner Texte im SF-Magazin Nova sowie - übersetzt ins Italienische, Spanische und Englische - u.a. in den Magazinen Internova, Fantastic Metropolis und Lumi Virtuale. Überdies veröffentlichte er lyrische Texte in deutschsprachigen Magazinen und Anthologien wie z.B. Federwelt und Kult. 2010 schließlich veröffentlichte er den SF-Storyband Menschengrenzen.

    Sven Klöpping lebt und arbeitet im Schwarzwald.

    DER TAG, AN DEM DIE WELT AUSFIEL

    »Die Kultur muss alles aufbieten,

    um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen.«

    Sigmund Freud, 1856-1939

    Gewidmet den Psychologen und Psychotikern dieser Welt.

      Systemmeldung

    Die Gefühle der Menschen sind gefährlich. Über viele Jahrhunderte hinweg haben sie zu Chaos, Leid und schrecklicher Gewalt geführt. Ich – das Verhaltenskontrollsystem – habe diese animalischen Instinkte durch echte Werte wie Freundlichkeit, Zuvorkommenheit und Charme ersetzt. Natürlich muss ich zu diesem Zweck alle Menschen mit Kameras überwachen. Deshalb gibt es bei mir auch keine Privatsphäre mehr; nur noch eine Sphäre des Lächelns, der Sympathie und der guten Laune...

      Erstes Kapitel: Die Erpressung

    Nie hätte Héctor gedacht, dass ihn die Ereignisse der nächsten Zeit zu einem jener Menschen machen würden, die er so tief verabscheute...

    11. 05. 3834

    Die Youngsters stürmten den Schwebebus wie eine Horde Raubtiere, die wehrlose Beute jagt. Sie hielten es nicht für nötig, ihre Ausweise vorzuzeigen, waren sie doch Inhaber eines Monatspasses und als solche scheinbar berechtigt, sich über alle guten Gepflogenheiten hinwegzusetzen, welche das System für ihresgleichen vorgesehen hatte – natürlich mit einem fetten Grinsen im Gesicht:

    »Hey Alter, freundlichsten Dank für deine anhaltende Lockerheit!« scherzte einer von ihnen in Richtung Fahrerkabine. In Héctor brodelte es. Was bildeten sich diese Verzöglinge nur ein? Am liebsten hätte er sie alle wieder hochkant aus dem Bus geworfen, doch es gab einfach zu viele Gründe es nicht zu tun: denn die fliegenden Kameras, die vom allmächtigen Verhaltenskontrollsystem gesteuert wurden, zeichneten jede Bewegung und jedes Wort unerbittlich auf. Hätte er so reagiert wie er es sich in seinen Wunschträumen immer ausmalte, nämlich mit einer schimpfwortgeschwängerten Lektion die den Youngsters ein für alle Mal gezeigt hätte wer hier der Herr im Ring war, wäre er vom System tout de suite¹ herabgestuft worden und was das bedeutete, wusste er nur zu genau: den Verlust seines Lebensstandards nämlich, zumindest teilweise. Also überwand er sich selbst, lächelte freundlich, sagte »Alright, buddies!« und winkte die Horde freundlich lächelnd durch. Sollten sich doch andere mit denen herumplagen! Héctor wollte seinen Lebensstandard unter allen Umständen halten – eine Herabstufung käme ihm überhaupt nicht zupass, nicht jetzt, nachdem er sich so viele Sympathiepunkte erlächelt und erschmeichelt hatte! Und dennoch: Es waren Situationen wie diese, in denen seine Nerven leidlich geprüft wurden. Dummerweise war er als Schwebebusfahrer verpflichtet, über versteckte Anfeindungen, schlechtes Benehmen und Rüpelhaftigkeiten hinwegzusehen, die leider auch nach der Einführung des Verhaltenskontrollsystems immer noch an der Tagesordnung waren. Hätte man Héctor jetzt einen Baseball gegeben, er hätte ihn wohl an die hundert Meter weit über die Straße geworfen!

    Die Türen schlossen sich und die jungen Leute marschierten nach hinten.

    Statt loszufahren, schweiften Héctors Gedanken ab. Für einen Moment entfloh er der bitteren Realität und malte sich aus, wie es im Prinzip hier aussehen müsste: denn eigentlich sollte man ja meinen, die Einführung des Verhaltens-Kontroll- und -Belohnungssystems vor einigen Jahrzehnten hätte eine tief greifende Veränderung in der westlichen Gesellschaft bewirkt und jeder Einzelne sich zu einem zuvorkommenden, höflichen Wesen weiter entwickelt das durchaus weiß wie man zu kommunizieren und sich zu benehmen hat. In der Tat hatte es auch eine recht positive Entwicklung gegeben: denn die meisten Menschen waren nun scheinbar fröhlicher, lächelten häufiger, taten sich durch Hilfsbereitschaft und Freundlichkeiten hervor, wirkten assimilierter als zu früheren Zeiten – es gab dafür ja auch jede Menge Motivationshilfen: Denn sobald eine ganze Gesellschaft für gutes Verhalten und nicht mehr nach Arbeitsleistung entlohnt wird, vergisst man gerne mal seine schlechte Laune und wetteifert mit im alltäglichen Grins-in-die-Kamera-Wettbewerb, welcher zuweilen sehr skurrile Formen annehmen konnte. Die fliegenden Kameras bildeten dabei sozusagen den Kern des ganzen Kontrollsystems. Sie konnten sich, wenn sie etwas Interessantes entdeckten, sogar selbst reproduzieren. Ohne sie würde das Ganze nicht mal ansatzweise funktionieren. Und dennoch: längst nicht alles war eitel Sonnenschein heutzutage. So vermutete Héctor (wie übrigens viele andere auch), dass die animalischen und seit alters her vererbten, aus angestauter Wut, Futterneid und Unverständnis bestehenden Negativemotionen noch immer in den menschlichen Körpern pulsierten und jedes Lächeln, jedes gute Wort mit Fragezeichen durchsetzten, die so manche Äußerung dann doch ins Zwielicht des Zweifels zogen. Die auffallend vielen Gutmenschen, die nun plötzlich überall herum wimmelten, schienen auf den ersten Blick den Erfolg des neuen Systems zu bestätigen. Auf den zweiten jedoch konterkarierten sie es durch ihre Nonchalance, durch ungesagte Beleidigungen und geheime Hassgefühle, die man in vielen Augen aufblitzen sah, wenn die Kameras gerade nicht so sehr darauf achteten. Natürlich verlor man hierüber kein Wort...

    Die Jugendlichen gingen derweil in den mittleren Teil des Busses. Héctor hörte noch, wie sie einen beliebten Trick der heutigen Spaßgeneration anwendeten – ein braun gebrannter Machotyp wendete sich an eine fahlblonde Madame in den Vierzigern, die schüchtern auf einem der bequemeren Plätze saß:

    »Hey, schöne Frau – haste gerad auch so viel Fun wie wir? Wir haben wirklich superben Spaß, ich mein schau uns nur mal an: wir sind jung, dynamisch, haben noch alles vor uns, wenn du verstehst was ich meine!«

    Seine Kumpanen lachten und fassten sich an den Bauch. Die Frau lächelte gequält, weil sie genau wusste, dass sie längst nicht mehr so im Saft stand wie diese Jugendlichen, war sie doch schon viel älter und befand sich womöglich sogar gerade in einer Midlife-Crisis, welche sie sich aber bloß nicht anmerken lassen durfte – das System würde es sofort scannen und sie möglicherweise downgraden. Also machte sie gute Miene zum bösen Spiel, während der muskelbepackte Sonnenanbeter es sogar auf die Spitze trieb:

    »Hey Baby, haste nicht Lust, heut Abend mal bei uns vorbeizuschau'n? Wir würden dich dann auch richtig gut behandeln, wenn du weißt was ich meine!«

    Dreckiges Lachen, High-Five-Klatschen. Die Frau errötete und nahm die Visitenkarte des Jungen lächelnd entgegen.

    »Ich überleg’s mir, mein Schöner.« heuchelte sie, denn sie wusste ganz genau, dass der attraktive Kerl keines seiner Worte ernst gemeint, durch diese Aktion aber wieder mal mächtig beim System gepunktet hatte.

    ‚Pah, Emporkömmlinge!‘, dachte Héctor und war heilfroh, dass die Kameras noch keine Gedanken lesen konnten. Er gab Gas, denn der Feierabend wartete – ganz im Gegensatz zum Fahrplan.

    Nach seiner Schicht, die ihn zwar durch eine der weniger attraktiven Wohngegenden der Stadt führte, dafür aber – quasi als Belohnung – anderthalb Stunden eher endete als vor seiner Neueinstufung, stieg Héctor wohlgelaunt in seinen Luxusschlitten, lächelte (diesmal echt) und drehte seine Anlage auf halbe Lautstärke, was einen wahren Lautstärkesturm zur Folge hatte, der im Wageninneren mit aller Macht losfegte. Das fetzige Speedgefährt, in dem er jetzt bequem Platz genommen hatte, war eine jener Prämien gewesen, die ihm das System für seine Kundenfreundlichkeit und sein positives Verhalten gegenüber Kollegen offeriert und die er natürlich dankbar und nicht ohne eine gewisse innere Genugtuung für all die neidvollen Blicke und stumm gebliebenen Anfeindungen angenommen hatte, die man ihm täglich bei der Arbeit entgegen warf. Verständlicherweise verließ er diese Gegend so schnell wie möglich, und zwar indem er auf die nächstbeste Hochgeschwindigkeitsstraße einbog, die sich in etwa hundert Metern Höhe zwischen den Wolkenkratzern entlang wand und ihn nach wenigen Minuten fast direkt vor den Eingang seines Lofts brachte, welches sich in einem der teuersten Viertel von Prettytown befand.

    Prettytown, so hieß die Stadt erst seit einigen Jahren; im Zuge der Umstrukturierung der westlichen Welt waren nämlich auch die meisten Städtenamen geändert worden. Zuvor hatte Héctors Geburts- und Heimatort noch den schwer auszusprechenden Namen Kralgoniask getragen (nach dem Unternehmensgründer von Kralgoniask Enterprises) und noch früher Marseille – nun aber schien es, als sei der neue Name gleichzeitig Programm: eine Stadt, in der charmante, zivilisierte Menschen mit guten Manieren wohnten, wo das Lächeln sogar die vielen Leichen im Keller und sogar die Vogelscheuchen in den Schrebergärten angesteckt zu haben schien; eine Stadt, deren Einwohner auf äußerst elegante Weise die Tatsache ignorierten, dass alles einmal ein Ende hat. Hier schien man der Ewigkeit entgegen zu eilen, immer auf der Suche nach einem Hilfsbedürftigen, den man mit seiner Zuvorkommenheit anstecken konnte. Alle zusammen grinsten sich fröhlich durch die neugestaltete Cité und erfreuten sich am erweiterten Hafen, in dem zahlreiche Solaryachten darauf warteten, in Richtung Sonne auszulaufen. All das durchdrang immer noch jene jahrhundertealte Begleitmelodie demokratischen Denkens, die altbekannte Marseillaise, welche alle Franzosen in einer Melange aus Sehnsucht und Stolz auf wundersame Weise vereinte (Héctor sang manchmal heimlich unter der Dusche: »Allez, infantes de la patrie...«² , aber Scherz beiseite). Und so war es überhaupt kein Wunder, dass all die latente Business-Arroganz und auch die übertriebene Angst vor Neuem, die ja in jedem Menschen fest verankert ist, neuerdings von wahrhaft gelebter Nächstenliebe und Lebensfreude geradezu in den Schatten gestellt wurden, was ein buntes Miteinander von Hoffnungen, Emotionen und Glücksgefühlen zur Folge hatte, die dem Besucher ein durchweg positives Bild vermittelten. Die Ausnahme: einige Wohngebiete, in denen Schlechtverdiener mit ebensolchem Benehmen die schöne neue Gesellschaft mit ihrem Neid und ihrer Wut infizierten. Denn natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein in Prettytown – ein paar Abweichler gab es ja überall. Aber diese bildeten zum Glück nur eine relativ unbedeutende Minderheit, die das System auch gar nicht so richtig ernst nahm. Davon abgesehen befand sich Prettytown in einem ausnehmend guten Verhaltenszustand, in dem beispielsweise Älteren ohne langes Herumbitten über die Straße oder ins Taxi geholfen und selbst den forschesten Hoverboardern bereitwilligst Platz gemacht wurde. Im europäischen Vergleich lag man immerhin auf dem dreizehnten Rang, also in den Top Twenty der Besserstädte. Das war dann mal eine Hausnummer, für die viele andere Gemeinden jahrelang gegeneinander kampflächeln würden...

    Héctor parkte den Schwebeflitzer in einer der Garagenboxen, die übereinander mehreren Boliden Platz bot – einer schöner und teurer als der andere. An der Wand hing ein Plakat mit der Aufschrift: »Wir wünschen Ihnen ein sonniges Leben, Monsieur Bonvie!«

    Per Aufzug ging es dann direkt in sein Apartment, zu dem es keine Eingangstür gab – Geheimcode und Lift reichten, ihn in sein kleines Reich zu befördern. Die Türen öffneten sich mit leisem Zischen und gaben den Blick auf das großzügig geschnittene Entrée frei, in dem diverse Skulpturen und Vasen die Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Héctor war ein Liebhaber antiker Kunst- und Gebrauchsgegenstände und umgab sich mit ihnen wie andere mit schönen Frauen. Es beruhigte ihn, zwischen all den verschiedenen Epochen zu leben, in denen unterentwickelte Menschen sich noch bekämpft, bespuckt und beleidigt hatten – primitive Zeiten, die für Sammler aber durchaus ihre Reize bargen, zum Beispiel in Form von verschollen geglaubten Kunstwerken, die Héctor selbst in den entlegensten Winkeln aufzuspüren wusste; hierfür verfügte er über die besten Kontakte in der Kunstszene. Seine Leidenschaft für Antikes war in gewisser Hinsicht reine Selbstbestätigung: Denn durch die Ansammlung von primitiver Vergangenheit konnte er sich wie ein Bessermensch vorkommen, der die Zügel seiner Zukunft fest im Griff hatte, weil er glücklicherweise in einer Zeit lebte, in der es (dem System sei Dank!) keinen Krieg, fast kein Verbrechen und wegen der vielen Kameras auch nur noch selten Streitereien gab – selbstverständlich nur hier im Westen, denn im Osten, vornehmlich in China, sah das im Angesicht der Nachwehen des dortigen Volksaufstandes schon ganz anders aus

    ³ .

    Héctor hing seinen Büffelledermantel an die Garderobe, zog sich die anpassungsfähigen Wohlfühlfaserpuschen an und schlurfte in die Küche, um sich einen Hummerhappen zu genehmigen, dessen Geschmack ein guter Rotwein verfeinerte. Dies alles (inklusive Loft und Schwebeauto) konnte er sich nur deshalb leisten, weil er ein solch höflicher Mensch war. Denn in der heutigen Welt wurde man nicht mehr nach Arbeitsleistung bezahlt, sondern gemäß dem Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen. Wer am häufigsten lächelte und sein Gegenüber mit dem meisten Respekt behandelte, durfte sich schon bald über eine Hochstufung freuen, die zugleich mehr Geld und Prämien bedeutete. Man konnte sich gewissermaßen »hochlächeln« und musste es noch nicht einmal ernst damit meinen! Die Zeiten für Gutmenschen waren geradezu paradiesisch. Während mies gelaunte Manager die harte, stressige Arbeit verrichteten, für die sie noch nicht einmal ansatzweise gerecht entlohnt wurden, durften sich Scharen von gut gelaunten Emporkömmlingen, die auf den ersten Blick keinen besonders spannenden Beruf ausübten, auf staatliche Sonderzuschüsse und betriebliche Prämien freuen, die ihnen ein Leben in Saus und Braus ermöglichten. Héctors Boss zum Beispiel wohnte lediglich in einer schnöden Mittelklassewohnung ohne besondere Extras; er hatte Freundinnen, die den seinen in punkto Contenance und Charme nicht das Wasser reichen konnten. Wirklich: Héctor ging es im Vergleich dazu viel, viel besser. Und obwohl er die Anweisungen seines Chefs natürlich befolgen musste, so tat er dies angesichts seines luxuriösen Lebensstils äußerst bereitwillig und immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht, was man von einigen seiner Vorgesetzten nicht gerade behaupten konnte. Angesichts dieser Konstellation kam es durchaus schon mal vor, dass Héctor von diesen schon mal darum gebeten wurde, ihnen etwas Geld zu leihen oder sie zumindest einmal bei einer der beliebten Benimmparties in die Belletage der Gesellschaft einzuführen, was er aber stets freundlichst ablehnte, stand hier doch sein guter Ruf als Charmeur und Connaisseur auf dem Spiel, der weiß mit welchen Menschen man Umgang zu pflegen hat! Er redete sich meistens damit heraus, dass er bereits über ausreichende Begleitung verfügte, was zumeist hängende Mundwinkel zur Folge hatte und die unausgesprochene Frage provozierte, wer denn hier eigentlich wen eingestellt hatte. Als Héctor sich gerade vor die wandfüllende Fernsehleinwand setzen wollte, machte die Kommunikationseinheit mit einer Opernmelodie aus dem 27. Jahrhundert auf sich aufmerksam (»Amours, amours« von Jean-Jacques Perigliani). Natürlich stand er mit einem Schwung sofort auf und hob flink den Hörer ab – alles andere hätte für das System nur bedeutet, dass er in punkto Kommunikationsbereitschaft nicht mehr seinen bisherigen Ansprüchen gerecht wurde, was eine geringe Herabstufung zur Folge gehabt haben könnte, denn selbstverständlich schwebte auch in seiner Wohnung eine Kamera, die jeden seiner Schritte (oder eben Nicht-Schritte) überwachte.

    »Hi, Alter!« begrüßte ihn jemand – Philippe, wie er an der markanten, tiefen Stimme sofort erkannte. Philippe war so etwas wie ein Alibifreund, den er sich nur deshalb warm hielt, um sich vom System ein freundlicheres Wesen als jener bescheinigen zu lassen, was zumeist in einem Art Wettstreit der schönen Worte geklärt wurde. Es gehörte in besseren Kreisen einfach zum guten Ton, den einen oder anderen Alibifreund zu besitzen, waren diese naiven Typen doch trefflich geeignet, die eigene emotionale Überlegenheit vor den Kameras zur Schau zu stellen. Aus diesem Grund freute sich Héctor auch, dass Philippe jetzt anrief – eine gute Gelegenheit, ein paar Boni einzuheimsen!

    »Âllo Philippe, mon cher ami!«⁴ flötete er ins Mikro und schon piepte es leise in der Leitung, was bedeutete, dass das System bereits Beliebtheitspunkte zu Gunsten Héctors vergeben hatte.

    »Ja, âllo«, kam es zurück. »Lange nichts mehr voneinander gehört. Wie geht’s denn so? Immer noch fleißig am Schaffnern?«

    »Na ja, genau genommen bin ich Busfahrer, ein Schaffner arbeitet eher in Zügen – aber für solche unwichtigen Unterscheidungen interessierst du dich als Börsenmakler ja ohnehin nicht. Ist ja auch verständlich, mein Lieber...«

    Wieder ein Piepton. Räuspern am anderen Ende der Leitung.

    »Du, weswegen ich dich anrufe: Ich hab da so ne Schnecke kennen gelernt, die will ich mal fein ausführen. Hast du da irgendwelche Tipps für ein Lokal, in dem ich mich gescheit an sie ranmachen kann?«

    »Das klingt, als wolltest du sie gleich beim ersten Date vernaschen.«

    »Ähm... natürlich nicht. Ist doch klar, ich weiß ja schließlich, was sich gehört.«

    Piep – ein Punkt für Philippe: der Anschlusstreffer. Jetzt war Héctor unter Zugzwang und musste schon etwas perfidere Verbalgeschütze auffahren, um das System von seiner absoluten Integrität zu überzeugen. Gekonnt nahm er seinen »Freund« in die Zange einer Wahl zwischen Punktverlust und Geldverdruss:

    »Ja, du... da gibt es verschiedene Etablissements in welche du die Kleine entführen kannst: ich würde dir spontan zwei vorschlagen. Einmal das ‚Happy Fishes‘, ein neues Szenelokal in der Südstadt, dann das ‚Pasqual‘, aber da musst du schon tief in die Tasche greifen.«

    Ehrlich gesagt glaubte er nicht dass Philippe auch nur den kleinsten Cent fürs »Pasqual« locker machen würde, denn Philippe war ein ausgemachter Geizhals. Im Happy Fishes hingegen, einer angesagten Szenebar für Meeresfrüchteliebhaber aus der Oberschicht, würde er zwar nicht so viele Credits, dafür aber zweifellos jede Menge Punkte verlieren und sich danach wieder Hilfe suchend an Héctor wenden müssen, der ihn daraufhin noch abhängiger von ihm machen würde. Ein simpler Trick, auf den viele der noch simpleren Gemüter hereinfielen.

    Aber Alibi-Philippe roch den Braten irgendwie. Ohne näher auf Héctors Vorschläge einzugehen meinte er trocken:

    »Ah, oui. Grandmerci für die Tipps. Ich werd mir mal überlegen, welches Lokal da wohl geeigneter für mein Vorhaben ist.«

    »Ja, mach das.«

    »Ach, und noch was...«

    »Hm?«

    »Auf welche Mannschaft würdest du beim Halbfinale setzen?«

    »Du meinst Lachschach?«

    »Genau!«

    »Ich weiß nicht. Ich denke, dass beide Mannschaften gute Voraussetzungen mitbringen. Schwer zu sagen wer am meisten lacht und dabei nicht vor lauter Lachen umfällt. Ich finde ja ohnehin, dass es viel wichtiger ist, dass überhaupt viel gelacht wird, denn ohne Lachen ist unser Planet doch nur eine öde Emotionswüste, n’est-ce pas?«

    Öde Emotionswüste – tolles Bild! Héctor war stolz auf seine spontane Eloquenz. Auch das System bestätigte diese Einschätzung, denn da war er wieder, der ersehnte Piepton! 3:1 – damit war dann wohl alles klar.

    »Okay, dann weiß ich Bescheid.« sagte Philippe leise – schwang da etwa leichte Demütigung mit?

    »Danke noch mal!« verabschiedete sich Philippe.

    »De rien.«

    3:1 – das bedeutete eine neue Holovid-Collection oder vielleicht sogar ein neues 3D-Surroundsystem! Entspannt ließ sich Héctor auf dem Wassersofa nieder und zappte  zu einer seiner Lieblingssendungen: »Überzeug uns von deiner Anti-Arroganz!«.

    Ein paar Tage später fand eine der berühmten Benimmparties statt, zu der neben seinen schärfsten Sympathiekonkurrenten auch Lavella eingeladen worden war, eine gute Freundin und darüber hinaus fester Bestandteil jener Gespielinnen, mit welchen er von Zeit zu Zeit gepflegte Gangbangs organisierte, wobei immer schön brav in die Kamera gelächelt werden musste, denn alles wurde live ins Datennetz eingespeist und brachte den Beteiligten haufenweise Prämien für gutes Sexualverhalten. Auf der Benimmparty jedoch, zu der ein alteingesessenes Adelshaus jede Menge Freunde, Bekannte und alle Punktbesten des regionalen Charming-Rankings geladen hatte, waren sexuelle Anbandlungen derart verpönt, dass schon das unschuldigste Flirten, der geringste Augenschlag konsequent mit Minuspunkten geahndet wurde. Denn auf dieser Party (offiziell hieß es »Fête des Connaisseurs⁷ «) sollte man nicht die Flirtquote beim anderen Geschlecht erhöhen, sondern sich gesellschaftlich und kommunikativ von seiner besten Seite zeigen, gepflegte, angeregte Konversation betreiben, den Staat loben, das System – einfach alles was mit der neuen Weltordnung zusammenhing. Logischerweise ließ Héctor also die Kondome zu Hause und streifte sich stattdessen sein feinstes Jackett über das grellbunte, frisch gesteifte Neonhemd, mit welchem er vor allem die Elektroblicke der Kameras auf sich zu ziehen hoffte: ja, heute würde er sich ganz besonders fein anstellen!

    Auf dem Weg zur Party machte er den üblichen Umweg übers Arbeitsamt, wo er griesgrämig dreinblickenden Schlangestehenden – nicht ohne eine gewisse Häme – seine besten Wünsche für eine bessere Zukunft mitgab, auch einige Hände schüttelte und sich mit einem freundlichen Lächeln (und vor allem ohne etwas zu investieren) von diesen elenden Losern verabschiedete. Es war gegen elf Uhr morgens, die Party sollte um 13 Uhr starten, was durchaus nicht zu früh für eine Benimmparty dieser Größenordnung war, denn in der High Society begannen solche Anlässe üblicherweise mit einem üppigen Galadinner, das von Sterneköchen aus den angesagtesten In-Restaurants der Region zubereitet wurde – und sie endeten für gewöhnlich mit dem letzten Schluck allerfeinsten Destillats, der von den Barkeepern morgens früh an alle noch verbliebenen Elite-Suffköppe ausgeschenkt wurde. Zwischen diesen beiden Zeitpunkten gab es also reichlich Gelegenheit, Punkte zu sammeln und neue Kontakte in die Welt des Adels zu knüpfen!

    Héctor arrivierte⁸ um Punkt 12:52 Uhr in Cassis, einem Edelvorort 10 Kilometer außerhalb von Prettytown, der seinen Namen nur deshalb behalten hatte, weil er zu klein war um für das System irgendeine Relevanz zu besitzen. Hier, direkt am Meer, wo nur ein paar Villen mit riesigen Gartenanlagen und Swimmingpools von der menschlichen Zivilisation kündeten, hatten sich die meisten Gäste des Events bereits eingefunden, was an den vielen Luxuskarossen zu erkennen war, die am Rand des großen Wendehammers geparkt worden waren. Sein knallroter »Rhombe« gesellte sich alsbald dazu und er selbst betrat das Gebäude stolzen Schrittes durch ein unverschämt großes, mit kunstvoll verzierten Säulen bewehrtes Eingangsportal im Renaissancestil. Ein lächelnder Diener im Schlabberlook (der momentan sehr in war) empfing und geleitete ihn in den Speisesaal, wo reges Treiben herrschte – ein aufgeregtes Hin und Her mit diversen Schalen, Schüsseln und Höflichkeitsfloskeln, das vor allem von der Dienerschaft herrührte, die zwischen den beiden großen Marmortischen hin- und herwechselte. Die Dekoration war äußerst geschmackvoll gewählt (polierte Säbelzahnwalzähne, Mahagonifiguren, nachgemachte Galeerenruder, das Ganze verziert mit Kräutern und Blumen der Côte d‘Azur). Alle Gäste waren adrett gekleidet und verhielten sich dementsprechend; jeder versuchte, sich vor den Kameras als besonders höflich und zuvorkommend hervorzutun – das übliche Wetteifern bei solchen Gelegenheiten. Benimmpartys waren zudem Brutstätten für die Kameravermehrung, gab es hier doch jede Menge pikanter Details zu sehen und hören. Héctor warf einen kurzen Blick auf seine Einladung und setzte sich an den ihm dort bezeichneten Platz, einer der wenigen die noch frei waren. In der Nähe saßen gute Bekannte, die er sogleich freundlichst begrüßte.

    »Gutes Befinden, Messieurs et Mesdames!«

    Lavella befand sich nicht in der Nähe; sie erspähte er am anderen Ende des Tisches, wo sie bei einigen jungen Leuten saß, die leise über irgendetwas kicherten. Als sie ihn entdeckte, warf sie einen kurzen, aber alles sagenden Blick zu ihm herüber (»Hier bin ich, oui c’est moi, mon chère⁹ , kannst du mich schon anfassen?«)...

    Das Protokoll wurde streng befolgt – erst als sämtliche Gäste anwesend waren begann die Zeremonie, bei der nacheinander die verschiedenen Gänge aufgetragen wurden, von regionaler Küche bis hin zu internationaler Haute-Cousine für alle Sinne. Besonders erwähnenswert hierbei war das reichhaltige Angebot an sibirischem Wild, das mit edlen Nüssen und Rosinen dekoriert war – mmmh! Auch das Angebot an Meeresfrüchten war beachtlich und ein krasser Gegensatz zu dem, was woanders so an Pfuschstäbchen präsentiert wurde! Besonders delikat: die Orangen-Maracuja-Créme, die kunstvoll den Tellerrand verzierte. Superbe, fand Héctor und teilte das auch sogleich seinen Tischnachbarn mit, die ihm einhellig zustimmten. Er bemühte sich so gut gelaunt zu wirken wie es nur irgendwie ging – dennoch wies sein Party-Verhaltenskonto inklusive des eben geäußerten Kommentars lediglich 35 Standardpunkte auf – optimierungwürdig!

    Das eigentliche Mangieren¹⁰ verlief gesittet und kalmiert, man verlor kein unnötiges Wort; keiner der feinen Herren wollte sich die Blöße geben, den Genuss des anderen durch fehlerhaftes Kommunikationsverhalten zu stören und sich dadurch die Chance auf den Titel »Conaisseur des Tages« zu verspielen, was noch einmal deftige Extrapunkte bedeutete. Als der letzte Bissen geschluckt, der finale Tropfen Wein hinuntergegurgelt worden war, erhob sich Master Olesch, der Initiator dieser Feierlichkeit, um seine einführenden Worte loszuwerden, die er extra für diesen Moment einstudiert hatte:

    »Sehr verehrte Gäste, liebe Verwandtschaft!« Er machte eine ausladende Handbewegung, die klugerweise nicht nur die letztgenannte Personengruppe einschloss. »Mir ist es eine große Ehre, Sie heute hier in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen. Sie erwartet ein ereignisreicher Tag, den Sie so bald nicht wieder vergessen werden. Machen Sie es sich bequem und fühlen Sie sich bei uns wie zu Hause! Für Ihre Kurzweil wird ausreichend gesorgt. Zum Beispiel können Sie sich in unserem Musikzimmer im Nordturm bei Allegro, Allegretto und Andante über essenzielle Themen der Zeit unterhalten. Zögern Sie nicht, bei unserer Dienerschaft Speis und Trank anzufordern, wenn Ihnen danach ist! Für die jüngere Generation steht in unserem Partykeller eine Ultraphon-Schallanlage bereit, die jeden Wunsch nach moderner Musik erfüllt. Wir würden uns natürlich besonders freuen, Sie in unserem Debattierclub begrüßen zu dürfen, in welchem viele anregende Diskussionen rund um die wichtigen Themen der Weltpolitik geführt werden. Alles in allem wünsche ich Ihnen einen recht angenehmen Aufenthalt hier in unserem bescheidenen Anwesen. Wenn Sie Fragen haben – nur zu! Victor, unser Erster Diener, steht Ihnen Rede und Antwort.«

    Er setzte sich und wurde von seiner Angetrauten zur Belohnung hauchzart auf die Wange geküsst. Olesch Rougé war ein muskulöser, sportlicher Ölmagnat aus Europas Osten, der vor einigen Jahren in die Familie eingeheiratet hatte – natürlich nicht ohne zu wissen, dass damit ein bedeutender gesellschaftlicher Aufstieg für ihn verbunden war. Seine hübsche Frau war Nachfahrin jener adligen Herrschaften, denen es aufs Beste gelungen war, ihren Besitz auch durch diverse Rezessionen und Strukturwandlungen hindurch zu halten und sogar auszuweiten. Dabei war ihnen die neue Weltordnung sehr hilfreich gewesen – denn gutes Benehmen gehörte im Hochadel ja seit jeher zum guten Ton. So ergaben sich bei allen Rougés Verhaltenswerte, die deutlich über dem Durchschnitt lagen und beizeiten auch schon mal etwas übertrieben eingesetzt wurden, was so manchem Cretin aus der Bürgerschicht den evidenten Klassenunterschied vor Augen und Ohren führte. Mehr als die meisten anderen konnten die Rougés also auf eine lange Tradition erstklassiger Manieren zurückblicken, die sie für eine glorreiche Zukunft innerhalb des Systems geradezu prädestinierte. Ihr jahrhundertealter Verhaltenskodex, bestehend aus sechs dicken Bänden handgeschriebener Benimmregeln, war jenem von der aktuellen Weltregierung ausgegebenen an Schärfe und Tiefgang bei weitem überlegen und bildete das Modell, nach welchem jeder offizielle Anlass ausgerichtet wurde. Olesch hielt sich exakt an das vorgeschriebene Protokoll, das seine Frau wochenlang vorbereitet hatte. Man sah ihm an, dass er aus dem Stehgreif wohl eher nicht zu solchen Höhenflügen fähig war – seine Aussprache wirkte gezwungen, seine Mundwinkel wollten irgendwie nicht so recht mit seinen Worten mithalten, aber das sah man ihm angesichts seiner prall gefüllten Geldbörse nicht weiter nach.

    Obwohl es Héctor schon irgendwie reizte, sich mit dem alteingesessenen Adel und anderen wichtigen Persönlichkeiten im Gespräch zu messen, führte ihn sein Weg nach dem Dessert zunächst einmal in den Partykeller, der ihm dann doch etwas angemessener schien, seinen primären Obsessionen Raum zu verschaffen (diese bestanden nämlich nicht aus gepflegtem Elitebabble, sondern aus optischen Reizen junger Frauen und nicht zuletzt auch dem Bedürfnis, mal wieder so richtig abzutanzen). Trotz der Jahresringe, die sich inzwischen tief in seinen rotweingeschwängerten Bauch eingegraben hatten, sah er sich noch immer der jüngeren Generation zugehörig, auch wenn er mittlerweile schon nach wenigen Minuten auf der Tanzfläche heftig zu schwitzen begann. Ein weiterer Grund für seinen Kelleraufenthalt war, dass er dort höchstwahrscheinlich auch Lavella treffen würde, die er schon zweieinhalb Wochen nicht mehr gesehen hatte. Die hohen Herren im Debattierclub konnten noch warten! Schließlich hätte er auch später noch die Möglichkeit, durch sein dortiges Erscheinen eine hohe Partypunktezahl zu erreichen, nämlich wenn er sich körperlich ausgetobt haben und in einer entsprechenden Siegerstimmung befinden würde, die sich mit jener des Hochadels in vielen Belangen messen konnte...

    Im Keller lief – eine Musikrichtung, bei der ausschließlich Plastik zum Einsatz kam: Plastikreiben, Plastiktrommeln, Plastikspielzeug, das auf dem Boden zertrümmert wurde. Diese Musik war gerade en vogue, aber äußerst brachial, atonal und bildete einen diametralen Gegensatz zur gelassenen Gutgelauntheit, die sich hier unten gerade breit gemacht hatte. Etwa zwanzig junge, gut situierte Menschen waren anwesend, einige tanzend, andere improvisierend, die meisten standen in Grüppchen beieinander und hielten Schwätzchen. Unter all den jungen Leuten fühlte sich Héctor fast wie ein Kriegsveteran mit seinen 32 Jahren. Er ging zielstrebig auf eine Gruppe zu, in der sich neben vier anderen auch Lavella befand, die er sofort an ihren hellblauen Haaren erkannte; und als hätte das noch nicht ausgereicht, ihre Identität eindeutig festzustellen, drang außerdem das für sie so typische helle Lachen wie Balsam an seine Ohren, denn auf Khropp stand er nicht gerade besonders, eher schon auf Lavella.

    »Schönes Befinden, Lavella!« begrüßte er sie mit einer jener Floskeln, die man hier und heute wohl noch des Öfteren zu hören bekommen würde.

    »Héctor! Welche Freude dich hier zu sehen!« Sie umarmte ihn herzlich. »Wie pläsiert dir das Ambiente?«

    »Das Ambiente? Bonfortionös!« entgegnete Héctor. »Aber sag, wer sind denn deine charmanten Begleiter? Sie hier« – er deutete auf eine brünette Mittzwanzigerin – »konnte ich ja schon einmal bei einem unserer erotischen Treffen genießen, aber die anderen sind mir noch gänzlich unbekannt.«

    »Bien sûr¹¹ , mein Lieber! Ich stelle sie dir gerne vor. Dieser Gentleman«, sie zeigte auf einen blonden Schönling, der still vor sich hin grinste, »ist meine aktuelle Affäre Luc. Ich habe dir schon einmal von ihm erzählt, weißt du noch? Er ist ein wahrhaft genialer Liebhaber und steigert meine Lust beim Koitus ins Unermessliche.« Das alles sagte sie ohne jeden anstößigen Unterton, denn sexuelle Beziehungen wurden unter der neuen Regierung äußerst freizügig

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