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DER UNGEBETENE GAST: Ein Horror-Roman
DER UNGEBETENE GAST: Ein Horror-Roman
DER UNGEBETENE GAST: Ein Horror-Roman
eBook331 Seiten4 Stunden

DER UNGEBETENE GAST: Ein Horror-Roman

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Über dieses E-Book

Spät an einem verschneiten November-Nachmittag hat Barry Brennan einen Auto-Unfall. Und von Anfang an ist alles mysteriös: Der junge Mann, den sie angefahren und leicht verletzt hat, kennt seinen Namen nicht, kann nicht sprechen und hat sein Gedächtnis verloren. Und: Er hat verblüffende Ähnlichkeit mit Barrys Verlobtem, Ned Kramer. Doch dieser ist vor einem Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen. Es hat beinahe den Anschein, als hätten Barrys Liebe und Sehnsucht nach Ned diesen jungen Mann ins Leben gerufen...

John Farris beschreibt in seinem erstmals im Jahr 1982 erschienenen Roman Der ungebetene Gast einen zutiefst verstörenden Fall von Psychoterror, Stalking und Obsession, der sich langsam steigert und schließlich in rauschhafter Gewalt eskaliert.

»Ein wunderbares Buch! Gruselig und aufregend. Ich habe es in einem Zug gelesen.«

- Stephen King

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum13. Mai 2019
ISBN9783743870093
DER UNGEBETENE GAST: Ein Horror-Roman

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    Buchvorschau

    DER UNGEBETENE GAST - John Farris

    Das Buch

    Spät an einem verschneiten November-Nachmittag hat Barry Brennan einen Auto-Unfall. Und von Anfang an ist alles mysteriös: Der junge Mann, den sie angefahren und leicht verletzt hat, kennt seinen Namen nicht, kann nicht sprechen und hat sein Gedächtnis verloren. Und: Er hat verblüffende Ähnlichkeit mit Barrys Verlobtem, Ned Kramer. Doch dieser ist vor einem Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen. Es hat beinahe den Anschein, als hätten Barrys Liebe und Sehnsucht nach Ned diesen jungen Mann ins Leben gerufen...

    John Farris beschreibt in seinem erstmals im Jahr 1982 erschienenen Roman Der ungebetene Gast einen zutiefst verstörenden Fall von Psychoterror, Stalking und Obsession, der sich langsam steigert und schließlich in rauschhafter Gewalt eskaliert.

    »Ein wunderbares Buch! Gruselig und aufregend. Ich habe es in einem Zug gelesen.«

    - Stephen King

    DER UNGEBETENE GAST

    »Welch' ein Meisterwerk ist doch der Mensch!

    Wie edel durch Vernunft!

    Wie unbegrenzt an Fähigkeiten!

    In Gestalt und Bewegung - wie bedeutend und Wundern würdig!

    Im Handeln wie ähnlich einem Engel!

    Im Begreifen wie ähnlich einem Gott!

    Die Zierde der Welt!

    Das Vorbild der Lebendigen!«

    - William Shakespeare,

    Hamlet, Zweiter Aufzug, zweite Szene

    »What is mind? Doesn't matter.

    What is matter? Never mind.«

    - Bertrand Russell

    Ron Preissman gewidmet,

    den Freund und Partner beim Schattentheater

    und in Sachen Laterna magica

    HINWEIS: Tuatha de Dannan wird wie »Tutha-de-Danan« ausgesprochen

    und Daoine Sidh wie »Thiena-schie«.

      Der Unfall

    1.

    Claude Copperwell besaß ein Antiquitätengeschäft an der Hauptstraße von Anatolia im Bundesstaat New York. In einem Hinterzimmer fertigte er außerdem Rahmen für die Künstler aus der Gegend. Wenn Thomas Brennan ein Bild fertig hatte, das verkauft werden sollte (was nicht häufiger vorkam als zwei- oder dreimal im Jahr), brachte Tom oder irgendjemand, der gerade von der Farm in die Stadt fuhr, das neue Werk zu Claude. Greene House wurde kurz nach dem Erntedankfest vollendet. Tom beachtete das Bild eine Weile nicht - ging zur Jagd, spielte Pool-Billard, reparierte einen Traktor. Dann strich er noch ein paar Tage um sein Werk herum, betrachtete es prüfend, hatte aber keine Lust mehr, zum Pinsel zu greifen. Und damit wusste er, dass er alles gegeben hatte, was in ihm steckte. An einem Tag Anfang Dezember verstaute Toms Tochter Barry gegen fünfzehn Uhr das in eine alte Decke gewickelte Temperagemälde im Volvo-Kombi der Familie Brennan und fuhr die knapp achtzehn Kilometer nach Anatolia. Der Himmel war silbergrau. Es schneite ein wenig.

    Seit fast dreißig Jahren ließ Thomas Brennan seine Bilder von Claude Copperwell rahmen. Nichts Neues also. Aber es musste jedes Mal ein kleines Ritual beachtet und vollzogen werden. Barry parkte vor der Hintertür. Inzwischen herrschte Schneetreiben. Dicht fielen die Flocken, prickelten kalt auf Barrys Wangen, wirbelten über die Straße hin. Barry ging nach drinnen und holte Claude. Claude trug das Bild - 76,2 x 152,4 cm, auf Holz gemalt - in seinen Arbeitsraum und stellte es auf eine alte, von Farben überkrustete Staffelei, die früher einmal Rockwell Kent gehört hatte.

    »Das ist Greenes Haus, nicht wahr?« Tom Brennan hatte dieses Farmgebäude aus dem 18. Jahrhundert (oder Teile davon) schon oft gemalt.

    »Ja.«

    »Aber so was hat Tom, glaube ich, noch nie gemacht. Er hat ein paar Motive kurz vor oder kurz nach Sonnenuntergang gemalt - dieses späte Licht, nicht wahr. Aber das Bild hier ist richtig dunkel.«

    »Unheimlich«, meinte das Mädchen.

    Claudes Frau brachte ein Tablett mit Sherrygläsern und einer Karaffe und umarmte Barry.

    »Es ist schon eine Ewigkeit her, seit wir dich zuletzt gesehen haben, Kind!«

    »Ich war lange nicht mehr in der Stadt. Auf der Farm gibt's so viel zu tun.«

    »Und ich dachte, du wärst auf dem College wie die anderen Mädchen auch.«

    Barry zuckte die Achseln. »Vielleicht nächstes Jahr.«

    »Meine Güte«, sagte Millicent, »das ist aber ein großes Format.« Sie betrachtete das Bild, kurz allerdings und fast scheu, ließ es bloß auf sich wirken und versuchte, es nicht vorschnell zu kategorisieren. Sie goss Sherry ein, und die drei lächelten sich an: zwei Zwerge und ein hochgewachsenes Mädchen. Claude hatte keinen Hals und keine Haare, die Augenbrauen ausgenommen, so buschig und schwarz, als seien sie geteert. Sein Gesicht sah gemeißelt aus, dabei wächsern und mit großen Poren in den Wangen - wie unvollendete Augen. Millicent war Engländerin, eine rosige und vergnügte Person. Sie engagierte sich gern für unpopuläre Dinge, nahm sich mit Begeisterung der Unterprivilegierten und Bedürftigen an; ihre Freundinnen, Freunde und Bekannten nannten sie »Wohlfahrtsmäuschen«.

    Nun tranken die drei ihren Sherry und widmeten ihre Aufmerksamkeit Tom Brennans neuestem Werk. Barry kannte es bereits in- und auswendig. Sie hatte die Entstehung von Greene House vom Frühsommer an in allen Phasen miterlebt; erst die Tusch- und Bleistiftzeichnungen in einem Skizzenbuch, dann eine Reihe kleiner Aquarelle, einige davon in trocken-realistischer Manier - zwanzig oder mehr Versionen gipfelten in diesem eindrucksvollen Werk. Barry bewunderte das Bild ihres Vaters. Und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, sie müsse davor zurückweichen.

    Es war wie alle seine Gemälde (abgesehen von den Portraits) kühn in der Komposition und von ziemlich gedämpfter Farbigkeit und hatte die gewöhnlichen und unscheinbaren Dinge eines sehr kleinen Bereichs des Bundesstaates New York zum Gegenstand - jenes Bereichs, den Tom Brennan zu Fuß von seiner Farm aus durchmessen konnte. Das einzig Auffällige an Greenes Haus (es lag, beinahe vollkommen eingeschlossen von einem trostlosen Waldstück, in einer Senke zwischen zwei Hügeln) war ein sämtliche Proportionen sprengender, klobiger Anbau aus dem 20. Jahrhundert: eine vor den Unbilden der Witterung geschützte Veranda. Tom Brennan hatte diese Veranda mit ihrem kalten Licht hervorgehoben und das dunkle Haus in starker perspektivischer Verkürzung dargestellt, was einen Anschein von Bewegung schuf, von Fahrt; die kreideweiße, fast grell wirkende Ecke der Veranda, die leicht diagonal ins linke Drittel des Bilds hineinragte, erinnerte an den Bug eines Schiffes. Der Mond stand tief am Himmel, späte Stunde und spät im Jahr: in dem Waldstück lag Schnee, ein unregelmäßiges Streifenmuster.

    In einem Armstuhl auf der Veranda saß eine Frau, die einen dicken Strickpullover trug. Sie saß auf der Kante und würde vermutlich gleich aufstehen - jedenfalls hielt sie mit beiden Händen die Armlehnen des Stuhls umfasst. Auf den ersten Blick sah sie bloß müde aus. Sie hatte das Gesicht zum Haus gedreht, als wollte sie jetzt nach drinnen gehen. Doch für Barry drückte die ganze Körperhaltung der Frau (und besonders der eine so seltsam vorspringende Ellenbogen) Furcht aus. Was erfüllte sie mit Schrecken? Ein Gedanke, der sie eben überfallen, ein Geräusch, das sie gerade gehört hatte? Etwas Natürliches? Oder nicht?

    »Das ist ja Edie!«, sagte Millicent. Sie meinte die Frau auf dem Bild. Dann blickte sie Barry an und merkte, dass Barry noch gar nicht darauf gekommen war. Millicent sah eine kurze Verwirrung und gleichzeitig die Gesichtszüge, die Edie ihrer Tochter vererbt hatte: die hohe Stirn, die blassen, aber hinreißenden Wimpern, die etwas auf Himmelfahrt ausgerichtete Nasenspitze. Haut-, Haar- und Augenfarbe dagegen hatte sie von ihrem Vater. Sie war rotblond und jetzt auch rotgesichtig vom winterlichen Wetter und hatte königsblaue Augen, die so empfindlich waren, dass sich bei jeder Helligkeit eine Art Dunstschleier über sie legte.

    »Weiß nicht«, sagte Barry und schaute noch einmal hin. »Kann schon sein.«

    Edith Brennan war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Barry war damals neun Jahre alt gewesen, und darum mangelte es ihrer Erinnerung sozusagen an Tiefenschärfe und an Genauigkeit. Es gab zu Hause einen ganzen Stapel Familienfotos, den sie manchmal zu Rate zog, wenn sie sich verloren fühlte auf ihrem doch recht einsamen Weg - achtzehn und ohne Mutter - und Orientierung suchte. Außerdem hatte sie in den Skizzenbüchern ihres Vaters viele, viele Studien von Edie in jüngeren Jahren gesehen: eine magere, ja hagere Irin, schwarzbraun und schlicht, aber mit einer angeborenen munteren Frechheit, mit Mutterwitz und jenem gutmütigen, nachsichtigen Lächeln, für das so mancher Mann einen Mord begehen würde. Und Edie war unpraktisch, weil sie zu viel von dieser Welt und von vergangenen Welten wusste. Sie lebte in ständiger Anspannung vor lauter Intuition, setzte sich unermüdlich für andere ein, verzehrte sich, da sie immer die Grenzen ihrer schwachen Leibeskräfte missachtete.

    Barrys Augen brannten. Wie alle Mitglieder ihrer Familie ließ sie sich zu schnell von Gefühlen überwältigen. Sie trank ihren Sherry aus, lehnte nicht ab, als ihr noch ein Glas angeboten wurde, und bezwang das Selbstmitleid. Doch der Alkohol wirkte sich auch auf ihre Konzentration aus. Sie konnte jetzt nicht mehr so klar denken, ihr wurde kurz schwindlig, und überhaupt schwebte sie nun irgendwie im Ungewissen. Sie kehrte dem Bild ihres Vaters den Rücken und schlenderte zu der halboffen stehenden Tür, die zum Laden führte. Ein matter Schimmer von alten Spiegeln und dunklen Möbeln war zu sehen. Barry hörte Stimmen. Ein Mann und eine Frau unterhielten sich über Kunstgegenstände.

    »Ich nehme an, das Bild ist bereits verkauft«, sagte Claude, sein Blick ruhte nach wie vor auf dem neuen Gemälde.

    »Käufer gibt's massenweise«, meinte Millicent, »aber leider nicht genügend Brennans.«

    Claude drehte sich um und schaute Barry an. »Sag der Galerie, Samstag in einer Woche ist das Bild gerahmt und kann abgeholt werden.«

    Barry gab keine Antwort. Sie hatte einen jungen Mann im Laden gesehen. Er beugte sich gerade über einen Schaukelstuhl. Er hatte strohblonde lange Haare und trug eine orange und schwarz karierte Wolljacke. Barrys Herz machte einen Sprung, ihr rechter Arm hob sich in reflexartig jäher Bewegung. Sie verschüttete Sherry aus dem Glas, das sie in der Hand hielt, aber sie achtete nicht darauf. Zu dem jungen Mann trat nun seine Frau oder Freundin. Die Frau sprach leise mit ihm, deutete auf etwas Interessantes. Noch hatte er den Kopf nicht von dem Schaukelstuhl abgewandt. Barry konnte nach wie vor nicht sein Gesicht sehen.

    »Barry?«, sagte Millicent.

    Barry hörte ihren Namen durch das tönende Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Sie drehte sich um und wäre beinah gestolpert, bekam gerade noch mit ihrer freien Hand den Türrahmen zu fassen und verschüttete wieder etwas Sherry.

    Millicent blickte Barry an. Dann das Paar im Laden.

    »Ned hatte auch so eine Jacke«, erklärte Barry mit sachlich-schwacher Stimme.

    »Ach, Kind.«

    »Selbst der blödeste Jäger könnte ihn nicht für ein Reh halten. Sagte er.« Barrys Schultern hoben sich ein wenig. Sie lächelte, traurig allerdings. Ihre Wangen brannten. Sie schaute Millicent starr an und musste sich das Stottern verbeißen: »Fü-für was haben sie ihn gehalten, als sie ihn einfach über den Haufen geschossen haben?«

    Millicent ging zu ihr (es sah nicht sehr schnell aus), schloss flink die Tür, legte ihren Arm um Barrys Taille. Barry war niedergeschlagen. Der Aufschlag ihres Parkas war voll Flecken.

    »Ich habe mit Sherry gekleckert. Tut mir leid.«

    »Du musst drüber wegkommen. Wirklich.«

    Barry nickte. »Ich weiß. Lag nur an der Jacke - und ein paar Sekunden sah er so aus wie Ned. Mehr war nicht.«

    Millicent und Claude begleiteten sie zum Volvo. Binnen einer halben Stunde war die Stadt fast vollständig weiß geworden - abgesehen von den Glitzerketten und den pseudogoldenen Sternen an den Laternenpfählen. Die Erinnerung an Ned hatte Barry in die Abgründe ihres Kummers zurückgestoßen. Sie suchte nach ihren Schlüsseln, hatte sie zwischen den Fingern, ließ sie auf den kalten weißen Teppich ihr zu Füßen fallen.

    Claude hob sie auf. »Fahr vorsichtig, ja? Laut Wetterbericht schneit es nämlich weiter. Sollen fünfzehn bis zwanzig Zentimeter werden heute Nacht.«

    »Und richte Tom viele Grüße von uns aus«, sagte Millicent. »Ihr beiden müsst euch ja nicht immer wie die Eremiten aufführen. Kommt uns doch mal besuchen!«

    »Machen wir. Ich versprech's.«

    »Im Krankenhaus fragen schon alle: Wann gibt Barry wieder mal eine Vorstellung für uns?«

    Barry zwang sich zu einem Lächeln. »Weiß ich noch nicht. Bald jedenfalls.«

    Sie fuhr los. Nicht gerade übervorsichtig. Sie wollte bloß eins: weg aus der Stadt. Die Copperwells warteten im Schneetreiben, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war.

    »Sie hat immer noch diesen ganzen Kummer in sich«, sagte Millicent. »Richtig in sich reingefressen. Und das ist eine größere Tragödie als Neds Tod. Ich weiß nicht - warum kann Tom ihr nicht irgendwie helfen?«

    »Künstler sind alle gleich. Tom lebt in einer anderen Welt. In seiner.«

    »Vielleicht fahre ich mal am Nachmittag rüber und rede mit Barry.«

    »Jetzt lass uns reingehen. Ich habe kalte Füße.«

    Barry sehnte sich nach der Abgeschiedenheit der Farm, nach ihrem Zimmer mit dem milden Lampenschein. Sie fuhr zu schnell, verließ sich darauf, dass ihr die neuen Winterreifen an dem Kombi alle Scherereien ersparen würden.

    Noch vor einer Stunde waren die Bäume an der Straße dürr und kahl wie Skelette gewesen. Jetzt hatten sie weiche Formen vom Schnee, der dicht und wild aus Nordwest gewirbelt kam. Die Scheibenwischer häufelten ihn am Rand der Windschutzscheibe zu halb durchsichtigen Platten auf.

    Die zweispurige Landstraße, die von Anatolia zur Farm führte, verlief selten mehr als hundert Meter gerade. Es lagen Hügel am Weg, viele Hügel, und keinerlei nennenswerte Ansiedlungen. Ein paar Kilometer stadtauswärts führte die Straße mitten durch einen Staatspark mit einem kleinen, hübschen See, einem alten Abflusskanal und einer überdachten Brücke in einer Talmulde. An dieser Stelle kam eine Haarnadelkurve: zur Brücke hinunter und wieder steil hinauf zwischen Felsen und hohen Bäumen.

    Barry kannte den Weg wie im Schlaf. Sie war diese Straße schon bei jedem Wetter gefahren. Bis zur Brücke begegneten ihr nur zwei Autos. Die Scheinwerfer des Volvo waren voll aufgeblendet. Barry hatte Kopfschmerzen. Sie fühlte sich ausgehungert, deprimiert, zum Hadern aufgelegt. Aber sie hatte niemand, mit dem sie sprechen, niemand, mit dem sie rechten konnte - zum Beispiel darüber, wie sinnlos Neds Tod gewesen war, einfach nur grausam und absurd. Hatten das die anderen alle schon vergessen? Ihr war es noch gegenwärtig; ein winziger Anstoß genügte, und sie hatte es wieder vor Augen. Trotzdem konzentrierte sie sich voll und ganz aufs Fahren. Es war keineswegs so, dass sie - wie Mrs. Prye häufig und boshaft bemerkte - ihren Kopf gleichsam unter dem Arm trug.

    Später wurde Barry gefragt, was der junge Mann ihrer Meinung nach auf der Straße gemacht habe, wo es doch das einzig Vernünftige (oder sogar vom Selbsterhaltungstrieb Gebotene) gewesen wäre, aus dem Schneetreiben zu fliehen, auf der überdachten Brücke Schutz zu suchen und auf Rettung zu warten. Doch natürlich war nichts, aber auch gar nichts an Dravens Auftauchen vernünftig oder gar logisch, und er selbst konnte danach ebenfalls nicht erklären, was er getrieben hatte, bevor Barry ihn anfuhr.

    Sie kam aus dem peitschenden, wirbelnden Schneesturm in die polternde Dunkelheit der Brücke mit ihrer einen Fahrspur. Hier segelten nur ein paar Flocken durch die Ritzen der Seitenbretter. Barry ging wohlweislich mit der Geschwindigkeit herunter und gab dann auf der anderen Seite wieder Gas, damit sie die Kurve und die Steigung schaffte.

    Als sie die Brücke hinter sich hatte, sah sie ihn kurz im Scheinwerferlicht durch den sausenden Schnee. Ein unheimlicher Anblick: Er stand am Rand der Straße und hob die Hände. Entweder war es eine abwehrende Geste oder eine Gebärde der Überraschung, beides gleichermaßen mitleiderregend. Doch sein Gesicht war - soweit Barry das im Bruchteil einer Sekunde erkennen konnte - völlig ausdruckslos. Hätte er sich nicht bewegt, sie hätte ihn für eine Marmorstatue gehalten, eine griechische Plastik an einem grotesk falschen Ort, verwackelt und verwittert, leere Löcher anstelle der Augen. Aber er lebte, ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und er hatte nichts an.

    Barry riss das Lenkrad herum, trat kurz auf die Bremse, schleuderte seitwärts. Sie spürte, wie der rechte Teil der hinteren Stoßstange den Mann traf. Ihm auszuweichen war unmöglich. Sie hatte nur die Chance, ihn nicht zu töten. Und dann versuchte sie, den Volvo wieder unter ihre Gewalt zu bringen, indem sie in die Richtung der Schleuderbewegung steuerte. Sie war so sehr darauf bedacht, einen bösen Zusammenstoß zu vermeiden, dass der Unfall sie zunächst gar nicht richtig schockierte.

    Der Volvo kam gute sechzig Meter weiter mitten auf der Steigung zum Stehen, etwas schräg, die vordere Stoßstange an dem Drahtseil zwischen der Straße und der Böschung, die steil zum Abflusskanal hin abfiel. Im Wagen befand sich eine rote Warnlampe. Man konnte sie anstelle des Zigarettenanzünders einstöpseln. Barry schloss sie an und stellte sie aufs Wagendach, damit jeder sie sah, der den Hügel hinauf- oder hinunterfuhr.

    Und nun begannen ihre Hände zu zittern. Alles Blut wich aus ihrem Kopf. Die Knie gaben unter ihr nach. Sie musste sich wieder setzen. Wie betäubt saß sie da, den Kopf fast auf den Knien, die Wagentür offen. Schnee wehte herein. Der Gedanke an das, was sie getan hatte, bestürzte sie. Obwohl es sicher nicht nur ihre Schuld war.

    Aber er war irgendwo da unten im Schnee. Bestimmt hatte er sich etwas gebrochen. Und wenn sie ihm nicht schleunigst half, hatte er keine Chance.

    Barry griff zum Mikrophon des Autofunks. Ihr Bruder Dal hatte die Anlage auf dem Höhepunkt des allamerikanischen CB-Fiebers in den Wagen eingebaut. Sie wusste in - etwa aber nur in etwa -, wie man damit umging.

    »Breaker breaker... hier Barry. Barry. Hört mich jemand? Ich bin bei der überdachten Brücke im Tremont-Park. Ich - ich hatte einen Unfall. Es ist jemand verletzt. Ich brauche Hilfe. Es soll sich bitte jemand melden.«

    Sie hielt das Mikrophon in der Hand, blickte die Steigung hinunter, blickte zum Straßenrand, versuchte, etwas zu erkennen. Aber sie konnte nicht viel sehen. Ihre Reifenspuren, in den Schnee eingefräst bis auf die schwarze Teerdecke, wurden schon wieder weiß. Tränen liefen heiß über Barrys kalte Wangen. Es war fast so, als hätte es den Mann nie gegeben. Aber sie wusste, dass sie sich den dumpfen Anprall des schleudernden Volvo gegen lebendiges Fleisch nicht nur eingebildet hatte.

    Eine Stimme quäkte ihr undeutlich entgegen. Barry fingerte hektisch am Tuner herum, sprach wieder ins Mikrophon.

    »Bitte noch mal. Ich - ich hab's nicht ganz...«

    Diesmal war die Stimme klarer, aber immer noch schwach.

    »Äh, Barry Barry, hier Tidewater Lefty, zirka fünf Kilometer westlich von Brewster. Bitte ten-twenty angeben. Dann sag ich der Staatspolizei Bescheid.«

    Barry nahm an, dass der Mann sich nach ihrem Standort erkundigt hatte, und gab ihn nochmals an.

    »Äh, ten-four, Barry Barry. Halt die Ohren steif. Ich hol sofort Hilfe.«

    »Die Polizei soll meinen Vater anrufen!«, schrie Barry ins Mikrophon. Doch es kam keine Antwort. Sie tat das Mikrophon an seinen Platz zurück. Ihre Finger kribbelten in den Autohandschuhen. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, der Kopf werde ihr gleich von den Schultern purzeln. Adrenalin durchschwemmte sie und machte sie wach.

    Barry schnappte sich die alte Decke aus dem Laderaum und ging die Steigung hinunter, oder, genauer gesagt: sie stolperte, glitschte, fiel zu Tal, rutschte auch ein Stück auf dem Hintern bis zu der Stelle, wo der Volvo den Mann gestreift hatte. Wie kam er eigentlich dazu, sich bei dem Wetter splitterfasernackt im Freien herumzutreiben? Ein Irrer vermutlich, dachte Barry. Und jetzt war sie beunruhigt. Aber nachdem sie ihn angefahren und fast überfahren hatte, konnte er ja wohl keine Gefahr für sie sein.

    Er lag ein gutes Stück seitab von der Straße, auf halber Höhe der Böschung. Seine Haut war so weiß, dass sie sich kaum vom Schnee abhob. Er lag auf dem Gesicht. Sein Fall war von einem kleinen Weißdombaum gebremst worden - ein Arm hing schlaff im niedrigen Gezweig. Von Barrys Blickpunkt aus ähnelte er einem Stück Strandgut. Er wirkte so verloren wie ein Fisch an Land.

    Barry stieg nach unten, zog die zusammengerollte Decke hinter sich her, hielt sich an Büschen und vorragenden Felsen fest. Unmittelbar oberhalb von dem Mann glitt sie aus, taumelte, prallte gegen ihn. Sie hörte ein leises Ächzen. Rührte er sich? Nein. Aber wenigstens lebte er noch. Barry betrachtete sein Gesicht, von dem sie nur einen Teil sehen konnte, seinen glatten muskulösen, jugendlichen Körper. Es gab ihr einen Stich, als sie feststellte, dass er ungefähr so alt war wie sie.

    Er hatte schimmernde schwarze Haare, sehr dicht über den Ohren und im Nacken. Auf den ersten Blick vom Auto aus hatte es so ausgesehen, als habe er viel weniger Haare. Oder überhaupt keine. Seine Unterarme und Beine waren allerdings haarlos. Seine Fußsohlen hatten eine leicht purpurne Tönung. Weit konnte er nicht gelaufen sein. Keine Spur von Dreck an seinen Füßen. Es war freilich auch denkbar, dass der Schnee alles abgewaschen hatte. Barry sah kein Blut, keine Verunstaltung, die auf einen Knochenbruch hingewiesen hätte. Sie streifte einen Handschuh ab und befühlte vorsichtig seinen Nacken, dann sein Kreuz. Es bekümmerte sie, dass sein Körper nicht warm war, ja blutleer zu sein schien. Aus der Nähe betrachtet, begann sich seine Haut bläulich zu verfärben. Barry hatte an der High School ein bisschen Erste Hilfe gelernt. An ein paar Dinge konnte sie sich noch erinnern. Handelte es sich hier um einen Schockzustand oder um Unterkühlung? Egal, der Mann musste jedenfalls sofort ins Warme. Doch mochte er auch transportfähig sein, es war ein hoffnungsloses Unterfangen, ihn ohne Hilfe in den Volvo zu kriegen. Das merkte Barry gleich. Er war über einen Meter achtzig groß und wog, seinem athletischen Körperbau nach zu schließen, mindestens achtzig Kilo.

    Barry rollte die Decke auf, breitete sie neben ihm aus, zögerte, biss sich auf die Unterlippe. Dann schob sie ihre Hände unter ihn und drehte ihn behutsam auf den Rücken. Sein rechter Arm löste sich aus dem Gezweig. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen leicht geöffnet. Barry legte ihre kalten Finger auf seine Halsschlagader. Ja, sie spürte einen Puls, aber sein Gesicht war so ausdruckslos, dass es sie ängstigte. Barry ließ kurz ihren Blick über ihn schweifen. Eine Prellung am linken Schenkel oberhalb des Knies, rötlichfleckig verfärbt. Dort hatte der Volvo ihn gestreift und ihn zum Glück nach rechts umgestoßen. Barry drückte vorsichtig gegen seinen Brustkorb, dann gegen seinen Unterleib. Hatte er innere Verletzungen? Sickerte Blut in die Bauchhöhle? Barry erinnerte sich an einen Freund aus Kindertagen. Eine Kuh hatte ihn getreten, und er war beinah an einem Milzriss gestorben. Doch Barry fühlte nirgendwo eine Schwellung. Der Hodensack des Mannes war blau vor Kälte und zusammengeschrumpelt. Sein stattlicher Penis lief spitz zu wie der von Michelangelos David.

    Barry richtete sich auf, nestelte ihren Parka auf und zog ihn aus. Sie war höchstens zehn Zentimeter kleiner als der Mann und sie hatte lange Arme. Sie schaffte es, ihn in den mit Pelz gefütterten Parka zu zwängen. Dann wickelte sie ihn in die Decke, steckte sie um seine Füße herum fest. Reichen würde das allerdings nicht...

    »Hallo! Ist da jemand?«

    Barry streckte sich, blickte zur Straße empor. Sie sah den roten Schein der Warnlampe auf dem Kombi. Es dunkelte, und offenbar war es auch kälter geworden. Barry wischte sich Schnee von den Wimpern und schauderte; sie trug nur einen leichten Baumwoll- Sweater.

    Aus dem Sturm tauchte eine Gestalt auf. Ein Mann. Er hatte eine Taschenlampe in der Hand.

    »Hier unten!«, rief Barry. »Ich brauche Hilfe!«

    Der Lichtkegel der Taschenlampe fiel aufs Gezweig des Weißdorns und auf das Gesicht des bewusstlosen jungen Mannes. Der Neuankömmling betrachtete einige Sekunden lang die Szenerie. Dann verschwand er plötzlich.

    Barry setzte sich mutlos in den Schnee und fragte sich unter Zähneklappern, ob der Fremde jetzt einfach wieder wegfahren würde. Doch nach einer Minute war er zurück und stieg vorsichtig die Böschung hinunter mit seinen dickbesohlten Stiefeln. Über dem einen

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