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Assassin's Creed: Die Magus-Verschwörung
Assassin's Creed: Die Magus-Verschwörung
Assassin's Creed: Die Magus-Verschwörung
eBook399 Seiten5 Stunden

Assassin's Creed: Die Magus-Verschwörung

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Über dieses E-Book

Der Krieg zwischen Assassinen und Templern richtet im viktorianischen Zeitalter verheerende Schäden an.   London, 1851: Als Pierette, eine wagemutige Akrobatin, die auf der Weltausstellung auftritt, die Mathematikerin Ada Lovelace vor einer Bande von Schlägern rettet, gerät sie in die uralte Fehde zwischen Assassinen und Templern. Doch Lovelace ist schwer krank. Sie teilt Pierette ihre Geheimnisse mit und schickt die Akrobatin auf die Suche nach einer schrecklichen Waffe – der Maschine der Geschichte –, die sie für eine rätselhafte Gestalt namens »der Magus« entwickelt hat. Pierettes einziger Verbündeter ist Simeon Price, Lovelaces Jugendfreund, der einer Bruderschaft angehört, die sich der Freiheit verschrieben hat. Mit Simeons Hilfe deckt sie ein verblüffendes Netz von politischen Attentaten auf, das Europa destabilisiert. Während sie versuchen, das tödliche Komplott der Templer zu vereiteln, gibt es überall Morde und Bomben, doch Hoffnung ist nirgends in Sicht.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum5. Mai 2023
ISBN9783986660123
Assassin's Creed: Die Magus-Verschwörung

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    Buchvorschau

    Assassin's Creed - Kate Heartfield

    KAPITEL 1

    Rings um das Hippodrom herum rahmten goldene Gaslichter den indigoblauen Himmel ein. Pierrette liebte diese Zeit des frühen Abends, wenn Menschen und Götter darum zu wetteifern schienen, wer die Nacht am besten in Szene setzen konnte. Sollten sie doch ihr Bestes geben, Pierrette würde sie alle in den Schatten stellen.

    Heute Abend würde sie die gefährlichste und atemberaubendste Nummer der Truppe vorführen. Sie war nicht gerade dankbar dafür, dass sich der eigentliche Artist das Schlüsselbein gebrochen hatte und daraufhin erklärte, dass er mit dem Zirkusleben für immer abgeschlossen habe. Doch wenn dies ihre Chance sein sollte, war sie bereit, sie zu ergreifen.

    Major Wallin hingegen war noch nicht überzeugt, auch jetzt nicht, während die Band schon spielte und die Tribünen gut gefüllt waren. Sie waren immer voll. Das neue Hippodrom in den Kensington Gardens lag nur wenige Schritte vom imposanten Kristallpalast entfernt, in dem die Weltausstellung stattfand, die Wunder aus der ganzen Welt präsentierte. Nie zuvor hatte es einen besseren Ort oder eine bessere Zeit gegeben, um als Künstler aufzutreten, als in diesem Sommer 1851 in London. Die Nachfrage war so groß, dass mehrere Gruppen im Hippodrom auftraten. Die lange ovale Manege war gerade erst vom Straußendreck und den Wagenradspuren der nachmittäglichen Vorstellung »Wunder der Antike« gesäubert worden, als schon ein neues Publikum für die Pferdeshow herbeiströmte.

    Aber Major Wallin, der Leiter der Aurora-Reitertruppe, sah nervös aus. In seiner blau-goldenen Jacke, einer Nachbildung der Uniform eines schwedischen Kavallerieoffiziers, die er in seinem früheren Leben getragen hatte, stand er im Darstellereingang und musterte Pierrette skeptisch.

    »Du weißt, dass ich es kann.« Wie immer sprach sie auf Französisch mit Major Wallin. »Ich habe es ein Dutzend Mal während der Proben geschafft.«

    »Aber alle werden einen Mann erwarten!« Major Wallin kratzte sich an seinem ergrauten Backenbart. »Mazeppa wird immer von einem Mann gespielt. Es ergibt nur Sinn mit einem Mann, weil die Figur in Byrons Gedicht zur Strafe für eine Affäre mit einer Gräfin an das galoppierende Pferd gefesselt wurde. Du kannst die Rolle nicht spielen.«

    »Denkst du etwa, die Leute würden mir nicht glauben, dass ich eine Gräfin verführen könnte?« Keck legte Pierrette eine Hand an die Hüfte. Ihr einteiliges Kostüm, das Nell an diesem Tag in aller Eile für die Mazeppa-Rolle genäht hatte, besaß den gleichen rosigen Farbton wie ihre Haut.

    Sie neckte ihn, und er errötete. Der schwedische Major und seine verstorbene italienische Frau (die Aurora, der die Truppe ihren Namen verdankte) hatten Pierrette mitgenommen, als sie drei Jahre zuvor Frankreich verließen – nach dem blutigen Pariser Aufstand, bei dem ihre Eltern getötet worden waren. Major Wallin war wie ein zweiter Vater für sie gewesen, und sie respektierte sein Urteil. Er war der Herr über alle Pferde und traf alle Entscheidungen.

    Aber Pierrette war jetzt fast neunzehn, alt genug, um zu wissen, was sie wollte, und sie wusste, dass sie es schaffen und die ganze Stadt dazu bringen konnte, über sie zu reden. Sie musste es tun. Ihr Schicksal lag in den Lichtern, in der Luft. Die Welt konnte ihre Talente nicht erkennen, wenn sie nur das tat, was alle anderen Reiterinnen auch taten: die Saltos, das Stehen auf dem Rücken, die Sprünge. All das war gefährlich und erforderte viel Können, aber die Leute wollten mehr. Sie wollten Drama. Sie wollten eine Geschichte. Sie wollten heulende Wölfe und grollenden Donner und ein galoppierendes Pferd, das schäumte und raste (oder zumindest so aussehen konnte – der gute alte Attila würde das schon hinbekommen). Sie gierte nach einem Auftritt, der die Welt in Erstaunen versetzte.

    Liebevoll lächelte sie den Major an. »Bei Mazeppa geht es doch schon seit Jahren nicht mehr wirklich um das Gedicht«, sagte sie. »Es geht darum, jemanden an ein Pferd zu binden und dieses Pferd durch Felsen und von Wölfen gejagt die Rampe hinaufgaloppieren zu lassen. Stell dir nur vor, wie das Ansehen unserer Truppe steigen wird, wenn die Leute hören, dass eine Frau Mazeppa gespielt hat! Und mit meiner Reifennummer am Ende, mit der ich mir die Trophäe hole, wird das Ganze auch anders ausfallen als jedes Mazeppa, das je aufgeführt wurde.«

    Der Major grummelte. »Tradition hat auch etwas für sich. Wir sind nicht einfach nur ein Spektakel. Wir sind Künstler.« Aber diese Rede hatte er schon so oft gehalten, dass sie ihn selbst langweilte. Er blickte in die Menge.

    »Es ist Tradition, dass jemand am Ende der Show Mazeppa aufführt. Jeder wird es erwarten. Und ich bin das einzige Mitglied dieser Truppe, das qualifiziert ist, das Stück heute Abend aufzuführen.«

    Er hatte verloren, und er wusste es. Mit einem Seufzen versuchte er ein letztes Mal, sie umzustimmen: »Ich habe deinen Eltern versprochen, dass du in Sicherheit bist. Mazeppa ist das Gegenteil von sicher.«

    Aber Pierrette hatte auch darauf eine Antwort parat. Sie schob sich eine ihrer dunklen Locken hinters Ohr und zitierte auf Englisch zwei Zeilen aus Byrons Gedicht: »›Wie’s uns auch mag im Tod ergehn, Ich hab’ ins Antlitz ihm gesehn!‹«

    Die Musik der Blaskapelle wurde leiser, die Hörner gedämpft und die Trommeln spannungsgeladen. Die Abendunterhaltung begann. Den Anfang machte »der afrikanische Herkules«, in Wirklichkeit Hugh Robinson aus Manchester, der auf zwei Pferden um die Manege ritt, ein Fuß auf jedem Sattel. Hughs Frau schaute gemeinsam mit Pierrette von der Seitenbühne aus zu, die Arme über ihrem adretten blauen Mieder mit den Perlenknöpfen verschränkt. Nell Robinson war die Buchhalterin und Geschäftsführerin der Truppe. Mehr als einmal hatte Major Wallin sie gebeten, aufzutreten, aber sie hatte gesagt, sie habe zu viele schwarze Frauen in knappen Pelzen als »femmes sauvages« gesehen, um auch nur darüber nachzudenken, und sich dann stets geweigert, weiter darüber zu sprechen.

    Anschließend trat Ariel Fine auf, beworben als »weder Mann noch Frau, sondern ein Luftgeist«, und führte, ebenso schön wie geschmeidig, komplizierte Schritte auf einem etwas schlaffen Seil mit einer Balancierstange in der Hand vor.

    Die Musik nahm eine militärische Note an, als Tillie Wallin, die achtjährige Tochter des Majors, auf ihrer hübschen Stute in der Manege erschien. Mit ihren blonden Locken bezauberte sie jedes Publikum, und ihr Auftritt wirkte so professionell wie der jedes Erwachsenen, den Pierrette gesehen hatte. Der Major war sehr stolz auf seine Tochter und hatte sie in den präzisen Manövern und Sprüngen der Haute école ausgebildet.

    Jovita Ferreira, eine Brasilianerin, die ihren Mann verlassen hatte und buchstäblich in den Zirkus geflüchtet war, führte Pierrettes übliche Nummer mit Purzelbäumen, Sprüngen und amazonenhaften Kunststücken auf.

    Dann war Pierrette an der Reihe. Mechanische Abdeckungen schoben sich nach oben, um die Flammen der Gaslampen zu dämpfen, als sie in die Manege trat. Major Wallin band sie auf Attilas breitem Rücken fest, und da war sie nun und blickte in den sich verdunkelnden Himmel. Man hatte dem Publikum nicht gesagt, dass es heute Abend einen Wechsel des Darstellers geben würde, und in der ersten Reihe ging ein Raunen durch die Reihen, als die Lichter wieder hell wurden.

    Pierrette Arnaud war im Begriff, der Welt zu zeigen, was sie konnte.

    Sie war Mazeppa, die poetische Heldin, zu einer schrecklichen Reise durch Osteuropa verdammt. Zuerst bahnte sich Attila seinen Weg durch einen Parcours aus Gipsfelsen. Dann kamen die Hunde, um ihn zu jagen, obwohl sie mittlerweile gute Freunde von Attila waren.

    Die Blaskapelle gab ihr Bestes, um Wölfe und wilde Pferde zu imitieren, während Attila dreimal um die Manege galoppierte. Das Gedicht, das Pierrette bloß gelesen hatte, um es vor dem Major zu zitieren, flüsterte in ihrem Kopf: »Der Himmel drehte sich wie ein mächt’ges Rad, ich sah die Bäume wie Betrunkene taumeln.«

    Aber im Hippodrom gab es keine Bäume, sondern nur ein paar echte Betrunkene. Sie stellten die größte Gefahr dar, denn bei der Mazeppa-Nummer galt es am Ende, schnell eine Rampe hinaufzureiten, die direkt über einem Teil der Sitzplätze angebracht war, wodurch sie für den Nervenkitzel einige Eintrittskarten hatten opfern müssen. So nah am Publikum bestand immer die Gefahr, dass jemand an den Fesseln zog oder das Bein des Künstlers packte.

    Es war in der Tat am sichersten, so schnell voranzupreschen, wie es das Pferd vermochte, und Attila verstand sein Handwerk. Souverän trug er Pierrette. Aber er schwitzte, und Pierrette auch – selbst in London war es heiß im Juli. Sie spürte, wie sie in den Fesseln zur Seite glitt. Wenn sie zwischen seine Beine geriet oder er strauchelte und fiel, konnte sie zerquetscht werden. Schon früher waren Darsteller zu Tode geschleift worden.

    Aus dem Augenwinkel suchte Pierrette nach möglichen Störenfrieden auf den Rängen. Da war eine Frau, die ein Opernglas in den Händen hielt, und ein Mann hinter ihr, der die Frau beobachtete. Wahrscheinlich ein Taschendieb, aber zu weit entfernt, um Attila und Pierrette zu beunruhigen.

    Schon ging es empor, und sie warf einen letzten Blick auf den purpurnen Himmel in der Mitte des offenen Hippodroms. Sie hatte keinerlei Kontrolle über das Pferd, nicht aus ihrer Position, auf dem Rücken liegend, mit gefesselten Armen und Beinen. Aber die Leute jubelten. Es klang wie ein Brüllen in ihren Ohren.

    Und dann bäumte sich Attila auf, Pierrette rutschte nach hinten, und das Publikum schnappte nach Luft.

    Doch es war alles Teil der Show. Eine Möglichkeit für Attila, zum Halt zu kommen und sich seine Karotte abzuholen. In der Dunkelheit, direkt hinter dem Vorhang, der vom Dach der Tribüne hing, fütterte Tillie Attila mit seinem Leckerli. Major Wallin durchtrennte die Seile, und Pierrette kehrte ins gefällige Gaslicht zurück, taumelnd, weil ihre Figur Mazeppa verletzt war und gerade erst aus einer Ohnmacht erwachte. Sie schwankte auch, weil sie eben erst vom Rücken eines rasenden Pferdes losgebunden worden war.

    Sie hatte drei Atemzüge Zeit, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, damit sie den letzten Teil der Nummer vorführen konnte: in dem sie eine Trophäe von einer schönen Frau erhielt. Das Publikum jubelte zuerst der taumelnden Pierrette zu, die frei und lebendig war, und dann der schönen Frau, um die es ging. Es handelte sich um Jovita in einem neuen Kostüm, die in einem Reifen saß und von einem hohen Kran herabgelassen wurde, den Helfer in die Mitte des Hippodroms gerollt hatten. Jovita befand sich hoch in der Luft, unerreichbar. Aber es gab eine Reihe von Reifen an Kranarmen, und Pierrette würde sich von einem zum anderen schwingen, bis sie schließlich an den Knien vom letzten Reifen herabbaumeln und die Trophäe aus der Luft fangen würde, die Jovita ihr zuwarf.

    Am Fuß der Rampe wurde ein weiterer Reifen vom Dach über der Tribüne heruntergelassen.

    Ihr Herz schlug vor Freude, als sie die Rampe hinuntertaumelte. Sie liebte diesen Teil der Darbietung.

    Rechts von ihr befanden sich nun vier Männer um die Frau mit dem Opernglas herum. Sie alle wandten sich ihr zu, sodass sie von den breiten Schultern und den Bowlerhüten fast verdeckt wurde. Vier Männer. Das waren keine Taschendiebe.

    Konzentrier dich, befahl sich Pierrette und rannte die Rampe hinunter zu ihrem Reifen. Im letzten Moment sprang sie hoch und ergriff ihn. Jetzt musste sie den Reifen in Bewegung versetzen. Während sie daran herabhing, vollführte sie Vor-und-zurück-Bewegungen und brachte den Reifen damit zum Schwingen. Dann wechselte sie weiter zum nächsten Reifen und zum nächsten. Schließlich ließ sie sich auf die Knie sinken, wobei sie Jovita und die Trophäe im Auge behielt. Der finale Moment war fast gekommen.

    Der Mann hinter der Frau mit dem Opernglas hatte jetzt seine behandschuhte Hand über ihren Mund gelegt. Sie zappelte, die Augen weit aufgerissen, aber die Arme fixiert. Das Opernglas hatte sie verloren. So fingen sie an, sie durch die Ränge zu zerren, aber rückwärts, und niemand ringsum schien sie zu beachten – oder es war den Leuten egal. Helft ihr! Pierrette wollte schreien. Gleich würden die Männer mit der Frau aus dem Publikum verschwinden, und warum sie sie entführten, wusste niemand.

    Alle Augen waren auf Pierrette gerichtet. Nur ihre eigenen nicht. Wie es aussah, war sie die einzige Zeugin des Verbrechens. Sie war die Einzige, die helfen konnte.

    Anstatt sich umzudrehen, um die Trophäe zu fangen, sprang Pierrette zurück, dorthin, wo sie begonnen hatte, Reifen für Reifen. An den Knien baumelte sie über den Zuschauern, die ihr die Hände entgegenreckten, ohne sie berühren zu können, und sie bejubelten. Sie war fast tief genug. Sie konnte es schaffen.

    Sie schwang den Reifen seitwärts, wieder und wieder, hin und her, und verwandelte ihn in ein Pendel. Fast wäre sie über der entführten Frau gewesen. Nur noch ein bisschen mehr.

    Sie ließ sich bis zu den Knöcheln hinunter, verhakte sich mit den Füßen, um sich zu sichern, griff dann nach unten und packte die Frau an den Armen. Es hätte nicht geklappt, wenn der plötzliche Angriff von oben die Männer nicht vollkommen überrascht hätte. Doch so lockerten sie erschrocken ihren Griff und duckten sich wie vor einer aggressiven Seemöwe.

    Unter ihrem weiten grünen Rock und dem gelben Umhang war die Frau ein zierliches, knochiges Ding. Trotzdem war das Gewicht zu viel, und sie machte es noch schlimmer, indem sie strampelte und zappelte. Pierrettes Knöchel schrien. Ihr Körper verrenkte sich auf die völlig falsche Art und Weise. Sie hatte nur noch ein paar Sekunden Zeit. Als der Reifen wieder nach hinten schwang, mittlerweile in einem deutlich kürzeren Bogen, ließ sie die Frau auf die Rampe fallen, auf der sie und Attila kurz zuvor noch galoppiert waren. Pierrette ließ sich neben ihr fallen, wobei sie sich das Knie aufschürfte und die Handgelenke verstauchte. Aber die Frau lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden.

    Pierrette blickte zu Jovita auf, die noch immer hoch oben in ihrem Reifen saß, in dramatischer Haltung erstarrt, die Trophäe in der Hand vergessen. Ihre Augen waren groß, und ihre andere Hand umklammerte den Reifen so fest, dass er sich drehte.

    Jeder in London wusste in diesen Tagen, dass es sinnlos war, die Polizei um Hilfe zu bitten. Die meisten Polizisten steckten mit verschiedenen Banden und Kriminellen unter einer Decke, und man konnte auf den ersten Blick nicht erkennen, welche von ihnen die guten waren. Jedenfalls waren in dieser Nacht keine Bobbies im Hippodrom zu sehen, weder gute noch weniger gute, aber vier Männer, die entschlossen schienen, diese Frau in die Finger zu bekommen.

    Also nahm Pierrette den Arm der Frau, flüsterte: »Laufen Sie«, und zog sie auf die Beine.

    Sie musste es ihr nicht zweimal sagen. Die dürre Frau raffte ihre Röcke und rannte wie eine verängstigte Katze. Woher sie die Kraft nahm, wusste Pierrette nicht. Ihre Absatzschuhe rutschten auf der Rampe, doch dann erreichte sie die Manege und floh hinüber zum Eingang der Artisten und zum Hippodrom hinaus. Ob es an ihrem Artistenblut und dem damit verbundenen Faible für ein dramatisches Ende lag oder daran, dass die Frau aussah, als würde sie es allein nie in Sicherheit schaffen, jedenfalls rannte Pierrette mit ihr davon.

    Sie passierten die Absperrseile, die Menschen ohne Eintrittskarten daran hinderten, so nah heranzukommen, dass sie ins Innere des Hippodroms schauen konnten. Hinter den Seilen tummelten sich Menschen, die den Abend im Schatten der Weltausstellung verbrachten. Männer und Frauen, einige gut gekleidet, aber die meisten mit zerschlissenen Schals und geflickten Mänteln, einige mit Kindern auf den Schultern und kleinen Hunden an der Leine, die aufgeregt kläfften.

    Die Frau rannte in die Menge, stolperte und fiel in einem Haufen flaschengrüner Popeline zu Boden.

    Pierrette schnappte sich die Mütze der Dame, bevor es ein Dackel tun konnte, und half ihr dann auf die Beine. Die Leute um sie herum murmelten, keuchten, lächelten, waren verwirrt – jedes Gesicht zeigte widerstreitende Gefühle.

    »Ist das Teil der Show?«, fragte jemand.

    Pierrette drehte sich um und lächelte den Mann an. »Ich werde meine Trophäe schon noch bekommen, verlassen Sie sich darauf!«

    Daraufhin lachten alle um sie herum. Sie wusste, dass ihr Englisch einen französischen Akzent aufwies, und wahrscheinlich lachten sie auch darüber, aber das spielte keine Rolle. Sie war, wer sie war, und sie würde alles in den Ring werfen, bei jedem Publikum, bis es ihren Namen rief, mit den Füßen stampfte, pfiff und klatschte.

    Pierrette blickte über die Schulter. Ein Mann mit Melone schritt zielstrebig auf sie zu, aber ob es sich dabei um einen der Entführer handelte, konnte sie nicht sagen. Unterdessen brüllte die Menge im Hippodrom, die Frage war bloß, weswegen. Mit etwas Glück war es Jovita und den anderen gelungen, die ganze Aktion wie Absicht wirken zu lassen. Womöglich würde man Pierrettes Auftritt dann nicht für eine totale Katastrophe halten. So oder so: Pierrette war nicht sonderlich erpicht darauf, den Ausdruck auf Major Wallins Gesicht zu sehen.

    Obwohl sie sich ernsthaft fragte, warum sie es nicht einfach gut sein ließ, ging Pierrette neben der am Boden liegenden Frau in die Knie. »Kommen Sie, nur noch ein bisschen weiter.«

    Erneut zog sie sie auf die Beine, dann hasteten sie über die weitgehend grüne, unebene Wiese in Richtung des Kristallpalastes. Am Abend war er hell beleuchtet wie ein Feenhof. Pierrette war schon dreimal im Inneren gewesen, und sie hatte dort unter anderem einen Felsbrocken gesehen, der sich als Koh-i-Noor ausgab – woraufhin sie festgestellt hatte, dass sie alles sein konnte, was sie wollte, wenn das als Diamant durchging. Heute Abend hatte sie keine Lust, den Schilling Eintritt zu zahlen oder in ihrem knappen, fleischfarbenen Kostüm durch die Menschenmenge zu laufen.

    Aber auf der Straße hinter dem Kristallpalast stand eine Reihe von Droschken.

    »Haben Sie Geld?«, fragte sie die Dame. »Für eine Droschke, meine ich. Wie Sie sehen können, habe ich im Moment keine Taschen.«

    Die Frau verzog kurz das Gesicht, als ob sie Schmerzen hätte. Wahrscheinlich hatte sie sich bei dem Gerangel verletzt. Sie war älter als Pierrette, schätzungsweise in den Dreißigern, und sehr schlank.

    »Das ist nicht nötig«, sagte die Frau mit klarer und entschlossener Stimme. »Ich kann mein Haus auch gut zu Fuß erreichen – es liegt auf der anderen Seite des Parks.«

    Pierrette runzelte die Stirn. Es konnte eine halbe Stunde oder länger dauern, den Hyde Park zu durchqueren. Sie konnte die Dame unmöglich allein gehen lassen, aber Major Wallin und die anderen würden sich fragen, was mit ihr geschehen war.

    Wie zur Antwort auf ihr Stirnrunzeln fügte die Frau rasch hinzu: »Nein, Sie haben genug getan. Ich bin es gewohnt, allein zu laufen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe heute Abend … Sie werden mich doch besuchen, oder? Ich bin die Gräfin von Lovelace. Ada, für meine Freunde. Und ich würde sagen, dass wir zwei nun Freundinnen sind. Das Gedicht, das Sie heute Abend vorgetragen haben, Mazeppa. Es wurde von meinem Vater geschrieben.«

    Pierrette hatte schon öfter Leute getroffen, die sich für Napoleon oder Wellington oder für beides gleichzeitig hielten. Aber sie glaubte Ada. Da war zum einen ihre Kleidung. Aber da war auch wieder der Mann mit dem Bowler. Er kam geradewegs auf diese Ecke des Parks zu. Sein Mantel flatterte und seine Augen waren auf sie gerichtet.

    »Ich lasse Sie nicht allein durch den Park gehen, Lady Lovelace«, sagte sie. »Die Vorstellung ist für heute Abend sowieso beendet. Wir müssen uns beeilen.«

    Pierrette stellte sich die Karte des Hyde Parks vor: ein großes grünes Rechteck inmitten von London. Mittig entlang des südlichen Rands erhob sich der Kristallpalast, der Schauplatz der Weltausstellung. Im Moment befand er sich zu ihrer Rechten. Dahinter lagen geschäftige, helle Straßen, die vielleicht sicherer gewesen wären. Aber wenn Lady Lovelace zur nordöstlichen Ecke gelangen wollte, ging es viel schneller, wenn sie quer durch den Park liefen. Das bedeutete, die Brücke über den Serpentine zu überqueren, den See, der den Park in zwei Hälften teilte.

    Hastig zog sie Ada nach links und bog auf einen kiesbedeckten Seitenweg ein. Als sie sich dem Serpentine näherten, blickte Pierrette zurück. Da war der schattenhafte Mann, und zu ihm gesellte sich ein weiterer, der wie ein Hund neben ihm herlief.

    »Bande de salauds«, murrte Pierrette. Dann lauter, zu Lady Lovelace: »Wer sind diese Männer und warum sind die so hartnäckig?«

    »Gläubiger«, erwiderte Ada kurzatmig. »Das nehme ich jedenfalls an. Wissen Sie, ich habe ein paar Schulden. Ich hatte einen wunderbaren Plan – ich kann die Ergebnisse der Pferderennen erraten –, aber er ist nicht ganz aufgegangen. Oder womöglich …« Sie brach ab.

    »Was?«

    »Oder womöglich könnten sie auch jemand anderes sein«, flüsterte Ada.

    Am Anfang der Brücke standen zwei weitere Männer mit Bowlerhüten. Sie hielten sich ganz am Rand des Lichtkreises auf, den die nächste Gaslampe warf. Im Hippodrom hatten die Verbrecher darauf gesetzt, dass die Aufmerksamkeit der Menge auf der Vorstellung lag. Hier im Freien würden sie nach einer dunklen, einsamen Ecke suchen, um zuzuschlagen.

    Pierrette nahm Adas Hand und eilte mit ihr in Richtung des Weges, der zur Brücke führte. Sie reihten sich hinter einer Gruppe von drei Kindern im Schulalter ein, die einer nervösen Erzieherin folgten. Die Kinder starrten Pierrette in ihrem rosafarbenen Trikot an, aber die Erzieherin schien zu aufgeregt, um sich darum zu kümmern. Sie waren furchtbar spät dran und ihre armen Mütter würden sich große Sorgen machen. Das sagte jedenfalls ihre Haltung.

    Vorbei an den Männern und über die Brücke. Eines der Kinder rannte in Richtung des bewaldeten Ufers, um sich mit einem Schwanenpaar anzufreunden. Die Erzieherin stöhnte auf, hob ihren Rock und eilte hinter ihrem Schützling her. Die beiden anderen Kinder folgten.

    Wieder waren Pierrette und Lady Lovelace allein und ungeschützt.

    Pierrette blickte hinter sich und sah nun vier Männer, die ihnen in gleichbleibendem Abstand folgten. Sie überquerten eine breite Straße aus festgestampfter Erde. Pierrette überlegte, ob sie die Straße nach Norden nehmen sollte, aber im Moment fuhren dort nur vereinzelt Kutschen und sie war von Bäumen gesäumt, die sie vor den Blicken anderer Parkbesucher abschirmen würden. Abgesehen davon konnten sie auf der Straße leicht in eine Kutsche gezogen werden.

    Sie schlugen den Fußweg ein, der schräg durch den Park führte. Hier war das Gelände offen, allerdings war es jetzt schon ziemlich dunkel. Die Verfolger waren immer noch hinter ihnen, und Pierrette konnte zwei weitere Männer sehen, die sich auf dem Weg vor ihnen näherten, kaum mehr als dunkle Gestalten.

    Hektisch sah sie sich um. In Richtung Süden, auf einem anderen Weg, schlenderte ein Paar Arm in Arm. Würden der Mann und die Frau ihr helfen, wenn sie sie darum bat?

    Pierrette tat so, als würde sie stolpern, und schrie auf. Lady Lovelace blieb stehen, aber Pierrette gab mit einem Handzeichen Entwarnung. Es war bloß ein Test. Das Paar auf dem anderen Weg hielt kurz inne, aber es drehte sich nicht um, ganz zu schweigen davon, dass es näher gekommen wäre. Die Selbstsucht mancher Menschen! Die Männer zogen die Schlinge rings um sie zu.

    »Hier entlang«, flüsterte Pierrette und packte Lady Lovelace am Ellbogen. Die Männer waren schon fast so nah, dass sie hätten zugreifen können, als Pierrette ihre Begleiterin an dem Paar vorbeizog. Sie setzten sich vor die zwei, so nah, dass der Pfeifenrauch des Mannes um sie herumwaberte, und verlangsamten gleichzeitig ihre Schritte.

    Gleich darauf passierte die seltsame Prozession – Pierrette und Lady Lovelace vornweg, das irritierte Paar in der Mitte und die vier Männer hinter ihnen – zwei entgegenkommende Männer mit Bowlerhüten. Vielleicht waren das die Männer, die sich auf dem anderen Weg genähert hatten. Einen Moment lang fragte sich Pierrette, ob die sechs Kerle sie alle vier angreifen würden, auch das unschuldige Paar. Aber die Schläger berührten nur höflich ihre Hutkrempen und grinsten spöttisch.

    Endlich erreichten sie das Ende des Parks. Ada ging ruhig weiter, eine Hand auf Pierrettes Arm. Die Park Lane war hell und belebt, und Pierrette lief dem Paar nicht hinterher, als dieses die erste Gelegenheit nutzte, um abzubiegen. Als die Männer mit den Bowlerhüten nicht mehr zu sehen waren, wagte es Pierrette, für einen Moment stehen zu bleiben, um sich auszuruhen. Leute liefen um sie herum und an ihnen vorbei: ein Meer aus Seiden-, Filz- und Kastorhüten in jedwedem erdenklichen Zustand, nach Austern duftende Schals, nach Bier riechende Jacken.

    »Früher bin ich im Park geritten«, sagte Ada mit einem wehmütigen Blick über die Schulter, nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren. »Das ist jetzt fast ein Jahrzehnt her. Damals ging es mir noch besser. Ich habe einen ziemlichen Skandal verursacht, weil ich mit Freunden geritten bin – mit Männern, meine ich. Aber mein Mann konnte nicht immer mit mir reiten, und mir macht das Reiten so viel Spaß. Ich bin recht gut darin. Aber natürlich nicht annähernd so gut wie Sie! Ihre Darbietung war wirklich fabelhaft. Diese Demonstration der Prinzipien der Bewegung. Ich wollte schon als kleines Mädchen sehen, wie jemand Mazeppa vorführt.«

    Sie gingen weiter. Pierrette beruhigte sich, während sie sich dem Marble Arch näherten, der in diesem Frühjahr neu in die nordöstliche Ecke des Parks verlegt worden war. Eine Polizeistation nutzte einige der Räume im Inneren des Bogens, und obwohl Pierrette nicht die Absicht hatte, die Polizei in irgendetwas zu verwickeln, mochte dies Adas Verfolger auf Abstand halten.

    Abgesehen davon wurde diese Ecke von den Gaslampen der Park Lane und der Oxford Street hell erleuchtet. Sie wichen den weiten Röcken modebewusster Frauen aus. Ein Mann mit einem schäbigen Zylinder stand vor einer Menschenmenge und kündete lautstark und gestenreich vom Ruhm des Britischen Weltreiches.

    Jetzt, da die Gefahr vorüber war, musste sich Pierrette ein nervöses Lachen über ihre Tat verbeißen. Sie hatte eine Dame aus dem Publikum geschnappt und bis zur Park Lane begleitet, während sie noch ihr Kostüm trug, das sich in der Nachtluft langsam ziemlich kühl anfühlte. Major Wallin würde außer sich sein. War die arme Jovita von ihrem Reif heruntergekommen?

    Nachdem sie den Marble Arch passiert hatten, hob Ada eine ihrer schmalen Hände und zeigte auf eines der hohen, ehrwürdigen Backsteinhäuser. »Da wären wir. William – mein Mann – ist heute Abend unterwegs, aber Mutter ist da. Sie wird natürlich höchst aufgeregt sein, wenn sie erfährt, dass ich nicht in meinem Schlafzimmer ruhe, so wie sie denkt, aber sie wird mir verzeihen – wie immer. Sie müssen mich unbedingt besuchen, meine Mazeppa.« Sie betrachtete Pierrette in ihrem rosafarbenen Trikot von oben bis unten und sagte: »Aber vielleicht nicht heute Abend.«

    KAPITEL 2

    Die waghalsige Rettung einer Frau vor finsteren Schurken war schön und gut, aber es war nicht gerade ein befriedigendes Ende für eine Abendaufführung. Die Londoner Abendnachrichten behaupteten, das Ganze sei ein Trick gewesen, um die Aufmerksamkeit auf die »Frauenfrage« zu lenken, was immer das auch sein mochte, indem man »eine Zurschaustellung schwesterlichen Mitgefühls als passenderen Sieg für die Reiterin anbot, die dem Vernehmen nach vor nicht allzu langer Zeit noch ein Pariser Gossenkind gewesen war.« Alles in allem, so die Zeitungen, wäre es besser gewesen, es dabei bewenden zu lassen. Ja, natürlich war es schön und gut, weibliche Talente zu präsentieren, aber man sollte das Ganze dann bitte nicht Mazeppa nennen!

    Major Wallin, der sich bestätigt sah, engagierte einen männlichen Reiter aus Mister Battys Zirkus, um den Mazeppa zu geben. Pierrette trat wieder mit Jovita in ihrer ursprünglichen Nummer auf.

    Pierrette lächelte in der Manege, aber hinter der Bühne kochte sie. Man nannte sie ein Gossenkind! Dabei war sie nie eines gewesen. Pierrette Arnaud war das Kind zweier Pariser Musiker, die aufgrund irgendeiner Verfehlung bei der Vergabe von Stellen an der Pariser Oper übergangen worden waren. Pierrette hatte nie ganz verstanden, worum es gegangen war, aber noch Jahre später hatte der Vorfall den Schnurrbart ihres Vaters zum Zittern gebracht und seine Wangen glühen lassen.

    Es waren nicht mal so sehr Papas eigene Talente, über deren Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten er klagte. Er war nur ein passabler Trompeter, wie er selbst zugab. Aber seine Frau, davon war er überzeugt, hätte mit ihrem Bogenstrich die Welt im Sturm erobern können. Niemand konnte Vivaldi so zum Leben erwecken wie Marie Arnaud. Das Rampenlicht stand ihr zu. Sie hätte auf jeder Bühne in Europa stehen sollen. Stattdessen musste sich Madame Arnaud wegen eines unbedeutenden Mistkerls, der immer ungenannt blieb, damit begnügen, auf ihrer billigen

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