Als Schüler im Internat Heilig Kreuz: 1961 - 1967
Von Erich Dambacher
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Über dieses E-Book
Erich Dambacher
Von 1961 - 1967 war ich als Internatsschüler in Heilig Kreuz in Donauwörth. Ich blicke nicht im Zorn zurück, aber mit zunehmender Distanz zu der Zeit von vor 50 Jahren sehe ich die damaligen Erziehungsmethoden kritischer.
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Buchvorschau
Als Schüler im Internat Heilig Kreuz - Erich Dambacher
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Der erste Tag im Internat
Zur Geschichte von Heilig Kreuz
Die Patres
Die Religion in Heilig Kreuz
Wissen – Glaube
Die Internatsordnung
Wo bitte gibt es etwas zu trinken?
Das stille Örtchen
Nikolaus
Die Ratte
Zwischenstation Krankenhaus
Der Wandertag
Die Goassnmass
Das Massengrab
Feuer im Schlafsaal
Freizeit
Das sexte Gebot
Das elfte Gebot
Der besoffene Pater
Ein ungewöhnlicher Gast
Die Watschen
Die Speisekarte
Die Lehrer
Der Neue
Die Spitznamen
Die Primiz
Urlaub am Niedersonthofener See
Exerzitien mit Pater Schönig
Berchtesgaden
Auf Wiedersehen
Rückblick auf Heilig Kreuz
Mail von Pater Steiner an Erich
Anhang: Nachschau zu Heilig Kreuz
16.4.2019 Donauwörther Zeitung
18.4.2019 Donauwörther Zeitung
19.4.2019 Augsburger Allgemeine
Vorwort
Im Frühsommer des Jahres 2019 erschienen einige Berichte in der „Donauwörther Zeitung" über das Fehlverhalten von Patres und Lehrer in Heilig Kreuz. Auch im Bayrischen Rundfunk wurde darüber berichtet. Ich nahm daraufhin Kontakt mit der Redakteurin der Artikel, Barbara Würmseher, auf und informierte sie kurz über meine Erlebnisse in Heilig Kreuz. Auch mit dem vom Orden der Herz-Jesu-Missionare eingesetzten Missbrauchsbeauftragen, Herrn Florian Besold, habe ich Kontakt aufgenommen.
Dabei möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich mich nicht als „Opfer" von Heilig Kreuz fühle.
52 Jahre, nachdem meine Schulzeit in Heilig Kreuz endete, kam es dann im Mai 2019 zu einem vom Orden organisierten Treffen mit ehemaligen Schülern in Donauwörth. So manches kam ans Tageslicht, das von anderen Mitschülern berichtet wurde. Der Tenor der der Veranstaltung war: „Wer begangenes Unrecht duldet, fordert neues heraus." (Shakespeare).
Es geht mir mit diesem Buch darum, von meinen Erinnerungen aus meiner Zeit als Internatsschüler in Heilig Kreuz in Donauwörth zu berichten.
Persönlichen Erlebnisse und Eindrücke von anderen Schulkameraden sind nicht Teil dieses Buches.
Während meiner Internatszeit habe ich nicht Tagebuch geführt oder mir Notizen gemacht. Alles in diesem Buch sind Erinnerungen – bruchstückhaft und ohne Anspruch auf Objektivität oder Vollständigkeit. Wichtige weltpolitische Ereignisse verblassen, persönliche Eindrücke, Glücksgefühle und Erniedrigungen bleiben haften. Der Kalender verliert dabei an Bedeutung; die kleinen selbst erlebten Geschichten formen sich wie Steinchen zu einem Mosaik.
Wenn es Korrekturbögen des Lebens geben würde und man nachträglich eine Episode streichen könnte, welche wäre es wohl gewesen?
So verlockend der Gedanke auch sein mag – ich glaube KEINE und bestimmt nicht meine Internatszeit.
Hinterher ist man bekanntlich immer klüger und versucht so manches Erlebnis in einen größeren Kontext einzuordnen. Im Augenblick des Erlebens erscheint jedoch jedes Ereignis oft riesengroß zu sein.
Die Zeit in Heilig Kreuz hat mich geprägt und ist Teil meines Lebens.
Der erste Tag im Internat
Im September 1961 war es soweit, ich war 10 Jahre alt und kam ins Internat. Nach langen Überlegungen sahen dies meine Eltern als die beste Alternative an, um aus dem Straßenjungen einen ordentlichen Schüler zu machen. „Es geht um deine Zukunft", sagten sie; mir war die zu diesem Zeitpunkt völlig egal.
Von Heilig Kreuz bekamen wir einen Brief mit einer Liste der Dinge, die mitzubringen sind. Federbett mit Kopfkissen, zweimal Bettwäsche, fünf Unterhosen, usw. usw.
Am letzten Tag vor der Abfahrt überkam mich ein etwas mulmiges Gefühl. Weg von Eltern, Freunden und dem geliebten Bolzplatz, es war alles etwas komisch. Meine Haferflocken zum Abendessen haben mir auch nicht mehr geschmeckt.
Am nächsten Tag ging es dann ins Internat nach Donauwörth. Vati holte mittags das Auto, alle Utensilien wurden eingeladen und wir fuhren nach Donauwörth.
Angekommen in Heilig Kreuz, wurden wir nicht groß begrüßt. Das konnte man auch schwer verlangen, wenn knapp 300 Interne, so wurden die Internatsschüler genannt, anreisten. An allen Türen hingen Listen. Wer kommt in welchen Schlafsaal, in welches Studierzimmer, wo hat wer seinen Spind.
Wir gingen zuerst zum Schlafsaal. Er lag unter dem Dach des Klosters. Die Dachziegel konnte man von unten sehen, es gab keine Isolierung, und in dem Saal standen 25 Betten.
Die Bettgestelle im Schlafsaal bestanden aus weiß lackierten Eisenrohren. Es handelte sich vermutlich um vom Lazarett hinterlassene Wehrmachtsbestände. Heilig Kreuz war während des zweiten Weltkriegs bekanntlich ein Lazarett.
Mutti bezog mein Bett – schweigend. Auch sie hatte diesen Schlafsaal vorher noch nie gesehen, und er hat auch bei ihr kein Wohlbefinden ausgelöst. Mein Studierpult stand im „Großen Studiersaal", so wurde der große Raum in der Mitte des Klosters genannt. 120 Buben hatten hier mit mir ihr Pult!
Der Kleiderschrank, er war nichts anderes als ein Spind, stand in der Nähe des Lehrerzimmers. Jeder Bub hatte in der Internatszeit immer denselben Spind, während die Studiersäle und Schlafräume je nach Jahrgang wechselten.
Zum Schluss ging es noch in den Schuhraum im Keller. Für alle 280 Internatsschüler war hier auf ca. 30 Quadratmetern ein Lattenverschlag für die Schuhe. Wir hatten Hausschuhe, Halbschuhe und Sportschuhe dabei. Später kamen noch die Fußballschuhe hinzu.
Der Schuhraum mit Hunderten von schweißausschwitzenden Zöglingsschuhen in morschen Holzregalen ohne Fensteröffnung war zweifelsohne der unangenehmste Raum im Internat. Es war für uns Frischlinge angsteinflößend, wenn zum gleichen Zeitpunkt ein Teil der Schüler in Hausschuhen in den Raum drängte, während der andere Teil mit Straßenschuhen den Raum verlassen wollte. Alle mussten sich durch die gleiche Türe drängeln. Man konnte meinen, der Schuhraum müsste in jedem Augenblick explodieren.
Der Abschied von meinen Eltern war kurz; ich glaube, sie wollten damit ihren und meinen Abschiedsschmerz lindern. Mein Vater gab mir noch fest die Hand – Umarmungen waren bei uns nicht üblich –, dann stieg er mit meiner Mutter ins Auto.
Jetzt war ich allein. Alea iacta est – der Würfel ist gefallen.
Zurück zum Schlafsaal. Abends lagen wir Frischlinge noch lange wach und schliefen erst ein, als die Erschöpfung schwerer wog als das Verlassensein und Einsamkeit. Der kurze Schlaf war bleiern, alles war neu, unpersönlich und fremd.
Im letzten Traum der Nacht wähnte ich mich noch daheim, als ich über den harten Klang einer Stimme erschrak: „Guten Morgen – Aufstehen!" Es war der Weckruf eines Paters. Erschrocken fuhr ich auf, die Umgebung war mir so fremd. Aber es half nichts. Das Leben begann neu mit der Betrachtung der Realität.
Im Schlafanzug ging es auf den Gang zum Zähneputzen. In diesem Teil des Dachgeschosses waren drei Schlafsäle mit zusammen ca. 70 Betten, wir hatten aber nur 20 Waschbecken. Also war erst einmal Anstehen angesagt. Dies hat sich aber bald reguliert, denn schnell kristallisierten sich Schnellaufsteher und Liegenbleiber heraus. Da zudem nicht kontrolliert werden konnte, ob man sich die Zähne geputzt bzw. sich gewaschen hat, hat man es auch ab und zu unterlassen, um einfach noch einige Minuten länger im Bett bleiben zu können.
Doch zurück zum ersten Tag.
Waschen, Zähneputzen, Anziehen, dafür hatten wir 15 Minuten Zeit, und dann ging es in den Studiersaal. Nicht um zu lernen, nein, dort war der Sammelplatz vor dem gemeinsamen Gang zum Speisesaal. Wir mussten uns in Zweierreihen an der Wand des Studiersaals aufstellen und wurden von unserem Präfekten wie eine Kompanie Soldaten zum Speisesaal im Erdgeschoss geführt.
Der erste Tag nahm seinen Lauf, und das Überleben begann, das Heimweh aber blieb bis zu den Herbstferien. Gerade die ersten Tage waren für mich sehr schwer. Ich war nicht vorbereitet auf die neue Welt und die kasernenähnlichen Verhältnisse im Internat. Es gab für uns Neulinge keine Einführung, wir hatten keine Ansprechpartner, keinen Mentor, keinen älteren Schüler als Paten, nein, es wurden uns nicht einmal die Räumlichkeiten gezeigt. Wir mussten im wahrsten Sinne des Wortes alles erleben und erfahren. Das war die perfekte Schocktherapie. Oder anders gesagt, das Leben fing wieder von vorne an, wir waren die „Frischlinge" und sahen das Internatsleben aus der Perspektive von Fröschen, von unten!
Heilig Kreuz war für uns Neueingetretene eine Art Kaserne hinter Klostermauern, in dem die Patres alles beherrschten und in dem der absolute Gehorsam bis hin zur Unterwerfung der Zöglinge die Basis der Erziehung war.
Kinder sind anpassungsfähig und lernen schnell, wie man aus einer Situation das Beste macht.
Aufstellen in Reih und Glied, Händefalten zum Gebet; von wegen Stuhlkreis und Einüben in freie Meinungsäußerung. Petzen ging nicht, heulen auch nicht. Durchhalten war in Heilig Kreuz angesagt.
An Allerheiligen war die Eingewöhnungszeit abgeschlossen, und der ständig wiederkehrende Tagesablauf war uns bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Schnell hatten wir gelernt, wie wir uns zu verhalten hatten, wo man ausgelassen toben konnte und wo strenge Klosterdisziplin angesagt