Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3): Roman
OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3): Roman
OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3): Roman
eBook476 Seiten7 Stunden

OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3): Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Shift, die energetische Waffe der Xenlar, zersetzt unaufhörlich die Zeitkristalle. Welle auf Welle schickt das parasitäre Kollektiv seine dunkle Energie durch winzige Raum-Zeit-Portale, um die Menschheit zu versklaven. Sentry de Bonbaille, ein junger Lord der Energien und Rätsel, ist bisher nur in der Lage, einzelne Xenlar zu vernichten. Doch er muss einen Schwachpunkt in dem Kollektiv finden, um die Zeitkristalle zu stabilisieren. Denn wenn sie fallen, werden die Parasiten nicht mehr aufzuhalten sein …
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum22. Sept. 2023
ISBN9783958358089
OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3): Roman

Ähnlich wie OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3)

Titel in dieser Serie (3)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3)

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    OKTAEDER DER ZEIT (Kampf gegen die Xenlar - Band 3) - S.P. Dwersteg

    Zemhair, Herrscher über Montzien

    Zemhair, Zensor von Thrùne und gemeinhin als Usurpator von Montzien bekannt, sah den menschlichen Körper, der ihm schon lange als Behausung diente, mehr und mehr verfallen. Menschen, plumpe Zweibeiner aus Fleisch und Blut, waren wie Eintagsfliegen für die parasitären Xenlar. Nützlicher natürlich, weil sie elektrische Impulse erzeugten, von denen seine Spezies sich ernährte. Voller Ernüchterung musterte er sein Spiegelbild. In letzter Zeit sah das Gesicht seines Wirts, den er vor 15 Jahren für sich reklamiert hatte, eingefallen aus. Schmerzen fühlte ein Zensor nicht, und deshalb konnte er die Auflösung der von ihm besessenen Kreatur ausschließlich äußerlich verfolgen. Jeden Tag wurde sie nun gelber, und ihre Fäulnis kam, politisch betrachtet, zur Unzeit.

    Mit Alterung und Abnutzungserscheinungen war der Zensor bestens vertraut, doch daran lag es diesmal nicht. Denn das, was seinem Wirtskörper widerfuhr und seine Pläne empfindlich störte, vollzog sich zu schnell. Daher trieb ihn die Befürchtung um, dass der ganze Leib des montzischen Herrschers in Kürze verenden könnte. Dessen Hülle aus Muskeln und Organen war von Anfang an minderwertig und vom Alkohol zerfressen gewesen, aber Zemhair hatte aufgrund der Ziele seines Heimatkollektivs nicht wählen können. Verdammt, diesen Wirtskörper brauchte er noch!

    Jedes Mal, wenn er in den polierten Metallspiegel seines dekadenten Schlafgemachs blickte, starrte ihn neuerdings ein gelber Mann mit schweren Tränensäcken an. Seit gut 5000 Jahren operierte der Xenlar unter Menschen, aber das hätte er nicht für möglich gehalten. Selbst die dunklen Pupillen der armseligen Kreatur sahen ihm aus einer grellgelben Masse entgegen, und mit jedem Tag, der verstrich, intensivierte sich die Farbe. In auffallendem Kontrast dazu röteten sich die Handflächen. Auch das musste ein Zeichen für eine Fehlfunktion sein, und Adern an Armen und Beinen traten hervor. Der Bauch war nicht mehr eingefallen, weil Zemhair die Ernährung seines Wirts vergessen hatte, sondern wölbte sich wie eine Beule. Die ganze Hülle war nicht mehr zu gebrauchen, und Zemhair, der von langer Hand plante, ärgerte das über alle Maßen. Es störte sein Kalkül und kam schlechterdings zu früh. Vor ein paar Jahrhunderten hatte er einmal einen gammligen Arm amputieren lassen, weil er den Wirt noch hatte behalten wollen. Eine Zeitlang hatte das funktioniert, aber sein derzeitiger, elender Korpus war definitiv hinüber. Er taugte nur als Madenfutter, und Zemhair brauchte Ersatz.

    Natürlich hatte sein Hofstaat Ärzte hinzugezogen, die ihm sinnlose Fragen gestellt hatten. Woher sollte ein Xenlar wissen, wie sich sein Wirtskörper fühlte? Der Mann war lange tot, wenn auch nicht verwest, er war nichts als eine Behausung. Der Zensor hatte nicht antworten können. Dennoch hatten sie ihm trübe Flüssigkeiten verabreicht, und er hatte sie in den Leib gekippt, da die Dummköpfe ihn für ihren vom Adel gewählten Machthaber hielten und es so bleiben musste.

    Wahlen waren eine Stilblüte des Chaos, dachte Zemhair angewidert, weil sie Ordnung nur vortäuschten. Vor einem guten Jahr hatte er sie abgeschafft. Ein Xenlarkollektiv brauchte keine Wahlen, weil alle eins und einer Meinung waren. Abstimmungen waren eine sinnlose Verschwendung von Zeit und Ressourcen, und der Erfolg gab dem Imperium recht.

    Dass jemand wie er tat, was Menschen für gut befanden, war eine einzige Peinlichkeit. Gebracht hatten die Arzneien seinem Wirtskörper selbstverständlich nichts, und zwei von den Quacksalbern hatte er an der Stadtmauer aufknüpfen lassen. Ganz kurz hatte der Zensor überlegt, einen ihrer Körper zu besiedeln, um mit dem Wirtsthema durch zu sein. Aber hätte ihm das irgendwie weitergeholfen? Nein, und so hatte er’s gelassen.

    Jetzt war er gezwungen, eine geplante Entwicklung zu beschleunigen und Alastair de Bonbaille, seinen hochdekorierten Stadtkommandanten, verfrüht zu seinem Wirt zu machen. Der Mann würde ihm weitgehender angehören, als er es sich je träumen lassen hatte, und für den Xenlar stellte sich die spannende Frage, ob der Bonbailler zur endgültigen Selbstaufgabe bereit war. Der Zensor hatte ihn lange im Visier, er hatte auf ihn eingewirkt und ihn für das Xenlarimperium entflammt. Besonders schwer war das nicht gewesen, weil sein zukünftiger Wirt Macht und Gewalt anerkannte und klare Verhältnisse ihn entspannten. Alastair selbst verstand es, Menschen zu brechen und zu unterjochen. Dieser neue Wirt war eine Perle im Meer der erfolglosen Menschenversuche, und Zemhair wollte ihn für sich allein. Nur Alastair stimmte mit seinen Zuchtzielen überein, und der Zensor hatte vor, ihn vielfach zu verpaaren.

    Vor ein paar Tagen hatte Zemhair einen geringen Teil seiner Matrix auf ihn übertragen, nur zur Probe und für kurze Zeit, und Alastair hatte sich darüber gefreut. Der entscheidende Versuch stand noch aus, aber der Zensor war guten Mutes, dass sein Stadtkommandant gehorchen würde.

    Andernfalls wäre er gezwungen, dessen Seele zu eliminieren und ausschließlich den Körper zu lenken. Es wäre das übliche Vorgehen bei einer Wirtsübernahme, doch Zemhair konnte sich das in Anbetracht des Zeitdrucks, unter dem er neuerdings stand, nicht mehr leisten. Er müsste unbedingt einen Zuchterfolg vorweisen können, wenn sein Heimatkollektiv zu ihnen durchbrechen würde, hatte er entschieden. Für den Zensor ging es dabei um seine nackte Existenz, und etwas anderes anzunehmen, wäre naiv. Denn was mit Zensoren wie ihm geschehen würde, war ungewiss, weil sie den Vorgaben des mächtigen Kollektivs nicht mehr genügten. 5000 Jahre im Exil hatten sie verändert. Besser, er hätte ein paar gute Argumente auf seiner Seite, um seine persönliche Matrix vor der Zerschlagung und Neuordnung zu retten. Unverzichtbarkeit für die Menschenzucht sollte seine entstandene Individualität rechtfertigen, aber für andere Zensoren wie Fra Ingur und die Fürstin von Renignelle sah Zemhair schwarz.

    Die Thronfolge in Montzien hatte er über einen Erlass geregelt, den er in sämtlichen Städten laut verlesen ließ. Hilfreich dafür war der lange Stammbaum des Hauses Bonbaille bis in die Gründungszeit des Staates zurück. Dutzende Tauben verbreiteten die Neuigkeit in alle Himmelsrichtungen, und Shift, ihre energetische Waffe, würde Alastairs Herrschaftsanspruch als Nachfolger des Usurpators in den Gehirnen zementieren. Auch außerhalb seines eigenen Gebietes ließ Zemhair das publik machen: im Alten Land, das er nach und nach besetzte und in dem die Feste Murud lag. Noch herrschte in dieser Wildnis Anarchie, aber er gedachte, dessen Herr zu werden. In der Provinz Tersalem mit seiner ergebenen Königin, auf deren Oberschenkel ein Signum prangte, und auch im östlichen Steppenkönigreich, soweit das für Zemhair greifbar war. Dieses Gebiet war schwierig, weil sich das Steppenvolk hartnäckig entzog und nur ein Teil von ihnen komplett von Shift durchdrungen wurde. Die übelste Verteidigungswaffe der umherziehenden Kultur war ihre trockene, unfruchtbare Ebene, in der Unwissende verhungerten und verdursteten. Diese Lektion hatte Zemhair im Laufe der Jahrhunderte gelernt – er hatte menschlichen Blutzoll gelassen und Ressourcen verschwendet. Inzwischen versuchten andere Zensoren dort ihr Glück.

    Seit es gelungen war, die Zeitkristalle auf Hugmyndin zu infizieren und seit Korrosion sie zerfraß, waren die Zensoren sicher, dass weitere Xenlar aus der Heimatwelt zu ihnen durchstoßen würden, um die Invasion in Kürze zu Ende zu bringen. Wie in anderen Galaxien würden sie eine Kolonie begründen und ihren Lebensraum erweitern. Für Zemhairs Spezies zählte der Nutzen für die Gesamtheit des Kollektivs. Gnade für Alte, Kranke oder Abweichler kannten sie nicht, auch nicht untereinander.

    »Wie lange haben wir noch?«, knurrte er sein Spiegelbild mit gelben Lippen und bräunlichen Zähnen an. Es antwortete ihm nur ein erschöpfter Blick. Die Augen seines Wirts lagen tief, das Gesicht sah totenkopfähnlich aus. Es wurde wirklich Zeit für einen Wechsel, sinnierte der Xenlar. Trotz des Bauches, der wie ein Wassersack vor ihm baumelte, hatte der Menschenkörper abgenommen. Manchmal musste der Zensor minutenlang abwarten, weil der Leib von Krämpfen geschüttelt wurde, nachdem er ihn gefüttert hatte. Es hatte Nachteile, dass ein Xenlar den Zustand seines Wirts nicht fühlen konnte – ein nahezu ketzerischer Gedanke für seinesgleichen. Noch konnten sie mit Menschen aasen, weil das Angebot groß war, aber das würde sich ändern.

    Der Usurpator hatte es in den letzten Wochen so arrangiert, dass Alastair und er sich häufiger begegneten. Menschen mussten Vertrauen aufbauen, um zu willigen Werkzeugen zu werden, und sein zukünftiger Wirt sprach darauf an. Er verhielt sich dienstfertig, ergeben, und er schien den Usurpator regelrecht zu vergöttern. Im Gegensatz zu anderen Untertanen kroch der Montzier nicht vor seinem Zensor, und er zeigte auch keinerlei Furcht, sondern etwas wie menschliche Zuneigung. Dementsprechend war der Bonbailler der Einzige in Zemhairs Umgebung, den er noch nie auf die Knie gezwungen hatte und schätzte. Zemhair gierte nach dem kraftvollen Körper und sogar noch mehr nach der Seele des Montziers, und wäre der Zensor ein Mensch, so würde er sich die Finger in Vorfreude einzeln nacheinander ablecken. Es schien nicht nötig zu sein, Alastairs inneren Kern zu beschädigen, weil er sich nie über seinen Meister erheben würde. Der Stadtkommandant trat nach unten, aber er wollte nicht an die Spitze, sondern gesehen werden. Dieser Wirt würde nicht weglaufen oder untreu werden, weil er den Sinn seines Lebens im sklavenhaften Dienst an den Xenlar erkennen würde. Alastair de Bonbaille stand für die Zukunft der Menschheit, für Harmonie mit dem Kollektiv und in seinem Leib wollte Zemhair sämtliche Enklaven des Widerstands bezwingen.

    Alastairs Bestimmung

    Heute würde der mächtige Usurpator an ihm vollenden, was sie vor Jahren begonnen hatten, und Alastair wollte sich ihm darbringen wie auf einem Altar. Er hatte sich in sein bestes Hemd geworfen und seine Stiefel blank poliert, als ginge er zu einem Stelldichein. Natürlich war er frisch gebadet, die Haare gewaschen und gekämmt, als er sich in seiner schönsten, schwarzen Uniform samt silbernem Wappen auf der Brust im Spiegel betrachtete. Weil er wusste, dass Xenlar mit Nahrung wenig anfangen konnten, hatte er für den Tag ausreichend gegessen. Er warf einen letzten kritischen Blick auf sein Spiegelbild. So könnte er gehen, dachte er dann und rückte seine zwei Einhänder, die mit blitzenden Heften in ihren Scheiden am Gürtel befestigt waren, gerade. Nur er durfte seine Schwerter in Zemhairs Nähe tragen, es war eine große Ehre. Ob der Xenlar mit seinem harten, trainierten Leib zufrieden sein würde? Alastair hatte sich nicht mehr als seine Untergebenen geschont und wollte ihm unbedingt gefallen. Sein Körper und seine Treue waren alles, was er dem Mächtigen anbieten konnte, und fast fühlte er sich wie ein Bettler, der zu einem König ging, um erhört zu werden.

    Gelb und krank lag der alte Machthaber in einem Alkoven mit verschnörkelten Türen, als der Bonbailler eintrat und sich formvollendet wie höflich vor ihm verneigte. Der Usurpator hauchte seinen letzten Atem aus, das war unverkennbar, und Alastair fühlte eine furchtbare Sorge in sich aufsteigen. Was würde passieren, wenn der Usurpator seinen Teil des doppelten Signums nicht mehr würde halten können? Der Gedanke bestürzte ihn, und wie angewurzelt blieb der hübsche Soldat stehen. Er wusste nicht ein noch aus.

    »Sieh nicht auf den toten Leib, Stadtkommandant. Nur ein paar Nerven zucken noch. Guck zu mir!« Das hörte Alastair in seinem Kopf, und abrupt wandte er sich von dem Usurpator ab. Er drehte sich herum und erblickte vor sich mit blankem Staunen eine atmosphärische Verdichtung mitten im Raum. Sie war schwarz und violett und in permanenter Bewegung, als dächte sie nach oder verschöbe Themen und Komplexe hin und her. In ihr zuckten weiße Blitze. Strudel entstanden und lösten sich kurz darauf wieder auf, um sich immer wieder in neuen Variationen zu bilden. Das also war ein Xenlar ohne Wirt, dachte Alastair hingerissen. Das war Zemhair, sein Meister. Tief und tiefer blickte er in die Wolke hinein, bis er in eine Trance fiel.

    Zemhair aber bewegte sich langsam und zielgerichtet auf ihn zu und begann dann, ihn vorsichtig abzutasten und einzuhüllen, bis Alastair von außen nicht mehr sichtbar war. Der Mann Mitte dreißig verharrte, wo er war. Alles würde er geschehen lassen. Er fühlte sich von Zemhair leicht betäubt und entfernte sich von der ihm bekannten Welt, er wurde seiner selbst sehr ungewiss. Es war völlig anders als beim ersten Versuch, wo er die ganze Zeit voll bei Bewusstsein gewesen war und nur etwas hatte loslassen müssen, um dem anderen die Übernahme seines Körpers zu ermöglichen. Doch dieses Mal wollte Zemhair ihn komplett in Besitz nehmen, und das erforderte eben mehr. Auf einmal zeigte Alastair ein paar Angstsymptome, obwohl der Soldat das niemals gewollt hatte und sich dafür schämte. Er begann zu schwitzen, sein Herz schlug viel schneller. Zemhair, der im Gegensatz zu den Zensoren Ingur und Ryshuar keine ausgeprägte sadistische Ader entwickelt hatte, reagierte darauf, indem er ihn stärker betäubte und tiefer in die Trance hineinzog. Er wollte seinem Wirt auf keinen Fall Schmerzen bereiten, um ihr Verhältnis nicht zu beschädigen.

    Jetzt war Alastair ganz erfüllt von wunderbaren Strudeln und Wirbeln, die ihn schwindlig machten und ihn seinen Körper mehr und mehr vergessen ließen. Ganz langsam knickte er in den Knien ein. Er hockte sich auf den Boden, und sein Kopf sank stetig nach vorn, bis seine Stirn den Holzboden berührte, als würde er sich verneigen. Er fühlte sich sehr schwach in diesem Moment, aber er konnte viel aushalten, und er wehrte sich nicht. Als Kind hatte er gelernt auszuhalten, und was Alastair heute tat, das tat er aus Überzeugung und nicht unter Zwang. Umso stärker sehnte er sich nach dem einen herrschenden Xenlar, der ihn gleich anschließend wieder aufrichten würde. Nichts anderes wünschte er mehr als die Vereinigung mit Zemhairs Stärke.

    »Jetzt«, befahl der Xenlar resolut, als würde er einem geliebten Tier ein Kommando geben. Alastair reagierte sofort und schenkte ihm auch noch den Rest seines Ich, das für ihn keinen Wert mehr hatte. Er gab es auf. Diesen Schritt musste der beteiligte Mensch tun, wusste Zemhair. Wehrte er sich, so konnte ein Xenlar dessen Inneres nur auslöschen, um selbst von Schaden verschont zu bleiben. Bisher hatten sich alle Menschen am Ende gewehrt – nur Alastair ergab sich ihm freiwillig.

    Zemhair integrierte seinen neuen Wirt in sein komplexeres Bewusstsein. Für ihn war das etwas Natürliches, da Xenlar in ihrer eigenen Welt nur im Kollektiv vorkamen. Er gab seinem Stadtkommandanten einen Platz ganz am Rande, von dem aus er – in weniger tiefer, dauerhaft aufrechterhaltener Trance – aus der Entfernung wahrnehmen würde, was sein Herr unternahm. Alastairs Bewusstsein war in diesem Dämmerzustand sogar wieder ansprechbar, doch es würde nicht eingreifen, weil es gerade eben vergessen hatte, dass Alastair ein Individuum gewesen war. Erst jetzt war der Soldat ganz von Zemhair besessen, und endlich, endlich waren sie vereint. Für den Stadtkommandanten war dies das größte Glück, und für den Zensor kam es dem relativ nahe, wenn er die Vereinigung mit dem heimatlichen Kollektiv außen vor ließ.

    Als der Zensor sich etwa eine halbe Stunde später wieder erhob, blickte er zunächst an seinem neuen Körper herab, und Befriedigung breitete sich auf dem hübschen Gesicht seines Wirts aus, das ganz weiße, gerade Zähne entblößte. Er trat vor den Spiegel in seinem Schlafgemach, und jetzt blickten Zemhair zwei braune Augen aus einem leicht kantigen Gesicht mit dunkelblondem, kurzem Schopf an. Darunter fand er einen kraftstrotzenden, gut bemuskelten Leib, der einen unternehmungslustigen Eindruck vermittelte. Zemhair zog sich die Uniform glatt, straffte die Schultern seines Wirts und drehte sich mehrmals um seine eigene Achse. Seine Rockschöße flogen, ebenso die zwei Schwerter in ihren Scheiden. Der Zensor war ausgesprochen zufrieden.

    Vorsichtshalber spürte er dem reduzierten Bewusstsein von Alastair nach, und es war noch genau da, wo es sein sollte. Weit im Hintergrund seiner Matrix, gänzlich ohne Befugnisse und dennoch absolut ruhig und beglückt. Der Zensor teilte ihm seine Zufriedenheit über den Körper mit, als würde er einen Hund tätscheln. Er hatte sich schon viele Menschen herangezogen, aber dieser eine war sein Meisterwerk. Allerdings musste Zemhair noch prüfen, ob Alastairs Bewusstsein auch auf Befehl mitarbeitete.

    Seine erste, einfachste Übung war daher, beide Schwerter zu ziehen, und sie in der Luft singen zu lassen. Es war eine schnelle, komplexe Trainingseinheit, die er mit einem menschlichen Leib in 5000 Jahren nicht zustande gebracht hatte, weil sie eine extrem gute Körperbeherrschung erforderte, die ein Xenlar in einem toten Wirt unmöglich erlangen konnte. Selbst Ingur, der häufig und hart trainierte, beherrschte es nicht. Zemhair griff auf Alastairs Fähigkeiten im Schwertkampf zurück, und siehe da, die Waffen wirbelten höchst gekonnt, blitzschnell und elegant durch die Luft, als hätte der Zensor nie etwas anderes getan. Er steckte sie wieder in ihre Scheiden. Anschließend sollte sich sein Wirt auf einem Stuhl niederlassen, aber nicht einfach irgendwie. Zemhair forderte normale Bewegungssequenzen ab. Alastair kam seinem Befehl auch diesmal vorbildlich nach und setzte den gemeinsamen Körper lässig und etwas breitbeinig hin, wie es seine Art war. Der Zensor lobte ihn erneut. Sein Wirt sollte lernen, wie er seinen Meister zufriedenstellte, und Zemhair würde ihn in nächster Zeit weiter abrichten. Zuckerbrot und Peitsche, dachte er. Die Peitsche wäre der Entzug von Aufmerksamkeit. Eine Menschenseele war endlich sein!

    Zemhair aß etwas Obst, das er extra hatte herbeischaffen lassen. Er hatte sich vorgenommen, Alastair de Bonbaille vorbildlich zu pflegen, damit er ihm viele Jahre erhalten bleiben würde. Er würde ihn auch regelmäßig trainieren und sein Bewusstsein seine üblichen Sequenzen mit und ohne Sparringspartner abspulen lassen. Der Zensor gab die Befehle, aber dennoch waren sie zu zweit, und Alastair war auf Menschenart einsam und halbverhungert wie ein Xenlar ohne Kollektiv. Vielleicht müssten die Xenlar bei der Menschenaufzucht einen Keil zwischen Eltern und Nachwuchs treiben, kam dem Zensor spontan in den Sinn, und sie vereinsamen. Mit Rindern machte man es so, hatte er beobachtet. Blieben Kälber zu lange bei den Kühen, wurden sie widerspenstig. Man musste sie früh verunsichern.

    »Nun«, richtete er sich danach an die treue, lange zerbrochene Psyche seines Wirts, »zeige mir, was du über den Lord der Energien, deinen Bruder Sentry, weißt. Wir müssen uns gut vorbereiten, du und ich, um ihn zu vernichten.«

    Eröffnungen

    Als Sentry am Morgen in seinem überdimensionierten Schlafzimmer aufwachte, schwebte seine Kristallsphäre mit Xenlar-Energie in ihrem Kern neben seinem Bett. Wie immer inspizierte der Adept diese kurz und versicherte sich, dass das Gefängnis intakt war, bevor er sich wusch und anzog. Dank der Magnetit-Verzierungen an sämtlichen Türrahmen seiner überladenen, antiquierten Wohnung konnte er vom Bett aus herausfinden, wer vor seinen Türen Wache stand, und das war jeden Morgen seine zweite Handlung. Die antike Sicherung fand der Adept sehr praktisch. Sentry hatte viele Versuche mit verschwiegenen Soldaten, Madeleine, Jarosz, dem Verwalter, dessen Kindern und anderen Hausangestellten gemacht, bis er endlich begriffen hatte, auf was er sich genau konzentrieren musste, um zu wissen, wer seine Türen durchschritt oder danebenstand. Die magnetischen Felder tasteten die Leute ab und übermittelten eine Umrisszeichnung sowie ein paar Informationen über die Konstitution. Die Daten waren natürlich eindeutiger, wenn Menschen durch die Türen gingen, aber auch so half es schon. Wusste Sentry, wie die Wachen aussahen, so wusste er auch, wer dort stand, und Fremde sollten es nicht sein.

    Nach den morgendlichen Tests zog er sich an. Er war dabei geblieben, schlichte Stücke aus Wollstoffen und Leinen zu bevorzugen und nur Umhänge, Uniformjacken und Gehröcke verzieren oder wertvoll besticken zu lassen. In Ausnahmefällen Schuhe und natürlich den Waffengürtel, der eine wertvolle Schnalle hatte. So konnte er sich in seinen normalen Sachen wohlfühlen und sah draußen herrschaftlich aus. Für den Sommer müsste er sich feudalere Hemden zulegen, hatte Madeleine ihm unmissverständlich nahegelegt, schließlich wäre er ein Lord von Garahon. Den Schneider fragte er besser nicht nach seiner Meinung, überlegte Sentry, während er sich ein dunkelblaues Wollhemd über den Kopf zog und die Knöpfe schloss. Der fand, dass man alles schmücken sollte, und das kam nicht infrage. Na ja, ein paar Rüschen vielleicht – Sentry war schließlich Montzier. Prunk war er aus seiner Kindheit gewohnt, deutlich mehr sogar, als Garahon zu bieten hatte, doch seit er in Murud gefoltert worden war, hatten diese Dinge ihren Wert für ihn verloren. Auch Wohnräume, wie er sie jetzt hatte, hatte er sich nie gewünscht, und was die Kleidung anging, trug er, was nötig war, aber nicht mehr. Im Übrigen behielt er immer ein paar schlichte, graue Sachen und eine alte Mütze für den Fall in seinem Schrank, dass er unerkannt entkommen müsste. Seine Wohnung hatte zwei Ausgänge, die nur er öffnen konnte.

    Als er in den Saal mit dem Kamin trat, stand ein Frühstück mit einem Ei, Brot, einem Hörnchen, Ziegenkäse und einer süßen Marmelade, die er nicht einordnen konnte, für ihn parat. Er setzte sich vor den Kamin, begann zu essen, sinnierte einen Moment müde vor sich hin und folgte den Flammen mit den Augen, als ihm auf einmal siedend heiß aufging, dass Marí und Resinà sich nur noch zwei Tagesritte von ihnen entfernt befanden. Das holte Sentry aus seinem noch nicht ganz wachen Zustand und versetzte ihn von jetzt auf gleich in Alarm, weil er sich einerseits auf Resinà freute und ihretwegen aufgeregt war, weil er andererseits aber dringenden Klärungsbedarf mit Eshandra Marí hatte und diese Auseinandersetzung unangenehm werden würde. Vor allem aber müsste er jetzt mit Jarosz darüber reden, der ihm wahrscheinlich Vorhaltungen machen würde, weil er vorher nichts gesagt hatte. Und dummerweise ließ sich dieses Jetzt auch nicht mehr aufschieben, weil er es bereits lange vor sich hergeschoben hatte. Sentry spülte das Stück Brot, das er gerade im Hals hatte und das sich partout nicht mehr schlucken lassen wollte, mithilfe von Bergenientee seine Kehle runter. Mit diesem Konflikt im Nacken machte ihm das Frühstück keine Freude mehr. Besser, er ging sofort zu Jarosz rüber und brachte es hinter sich.

    Sentry war ungewöhnlich früh aufgewacht, und so nahm er an, dass der Fürst noch im Esszimmer am Frühstücken war. Normalerweise war dieser lange vor dem Adepten damit fertig und oft schon aus dem Haus oder anderweitig in Anspruch genommen, weshalb sie die Idee eines gemeinsamen Tagesanfangs schon vor Monaten verworfen hatten. Wenn der Felsenadept keinen Termin bei Daosz hatte und auch sonst niemand auf ihn wartete, schlief er bis zehn, was ihm regelmäßig spitze Bemerkungen eintrug, die er stur überhörte. Oft arbeitete er bis spät in die Nacht an allem, was ihm in den Kopf kam, sodass man ihm mangelnden Fleiß zumindest nicht vorwerfen konnte. Sentry beobachtete seine gefangene Xenlar-Probe intensiv, machte Notizen, für wen auch immer, und setzte sie unterschiedlichen Umweltbedingungen aus. Er experimentierte mit verschiedensten Mineralien und Erzkonzentrationen in Gestein, mit winzig kleinen bis hin zu mittleren Energiestärken und versuchte zu lernen, wie er seinen Körper davor schützen könnte, wenn er spontan sehr große Spannungen aufbauen und anschließend Energie fließen lassen müsste. Bisher leider ohne brauchbares Resultat. Dass ihn Entladungen selbst zerstören konnten, konnte er jeden Tag an seinen vernarbten Handflächen ablesen. Nebenher las er Kristalle aus, die er in einem geheimen Raum in einem Felsen entdeckt hatte. Tatsächlich gab es eine antike Bibliothek, bloß konnte dort niemand außer ihm studieren, weil alles Wissen in Mineralien abgelegt war. Sentry fand, dass die früheren Lords zu elitär gedacht hatten, was die Speicherung von Wissen anging. Die Gruppe der Nutzer war mit einer Person viel zu klein, und bis auf seinen engsten Kreis verstand auch niemand, womit er sich überhaupt beschäftigte. Er brauchte unbedingt ein paar Leute zum Mitdenken. Manchmal brachte Sentry daher Themen auf, um sie mit den anderen zu diskutieren oder diese über etwas, das er bemerkt hatte, zu informieren. Und wer, wie der Adept, die Nacht zum Tag machte, brauchte den Schlaf am Morgen. Es war eine einfache Rechnung, und das wusste am Ende auch Jarosz.

    Eine Verbündete hatte der Felsenadept völlig unerwartet in Madeleine gefunden, die üblicherweise von allen zuerst wach und auf den Beinen war. Sie war davon überzeugt, dass Sentry nicht eher ins Bett gehen würde, wenn er früher aufstand, und deshalb für das lange Schlafen. Da Tellosz bei Manusz und nicht im Palast wohnte, fühlte sie sich in diesen Hallen für seine Gesundheit zuständig. Ausnahmsweise hatte das mal Vorteile, hatte Sentry gedacht. Auch darum hatte es vorher öfter Streit gegeben, aber der Fürst hatte sich, darauf angesprochen, in seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt und unnachgiebig gezeigt. »Wenn ich eins über dich gelernt habe, Sentry, dann dass du dich nicht gut um dich selbst kümmern kannst«, hatte er gesagt. »Um andere kümmerst du dich liebevoll, aber dich scheinst du weniger zu mögen. Vielleicht spürst du es auch nicht rechtzeitig, wenn es dir schlecht geht, oder du erträgst Schmerzen und Leid aus alter Gewohnheit viel zu lange. Darauf tippe ich. Lass Madeleine und Tellosz über dich wachen. Madeleine macht das bei mir schon jahrelang, und ich habe es weit weniger nötig.« Irgendwie hatte Jarosz ins Schwarze getroffen, und Sentry hatte sichtbar angefangen zu zittern. »Da hast du’s wieder«, hatte der Fürst gesagt und ihm einen Stuhl zugeschoben. Er hatte ihm durch die Locken gestrichen, nachdem Sentry sich hingesetzt hatte, und dann weitergearbeitet, als wäre er nie unterbrochen worden. Sentry hatte es nicht wieder versucht, das Thema war beendet.

    Mutig klopfte er jetzt bei Jarosz an und trat direkt danach ein. Im ersten Moment wirkte der Fürst hocherfreut über seinen Besuch, aber nach der Begrüßung fiel ihm die ungewöhnliche Uhrzeit auf. Außerdem wirkte der junge Adept merkwürdig verlegen. »Du willst doch irgendwas von mir. Sonst wärst du längst nicht hier«, äußerte er daher misstrauisch. Sentry ließ sich auf einen Stuhl über Eck von ihm fallen und entwendete ein halbes Hörnchen vom Teller des Fürsten, um etwas Zeit zu gewinnen. Er riss Stücke davon ab, krümelte den Tisch voll und steckte sie sich in den Mund. Jarosz verkniff sich einen Kommentar, der ihm auf der Zunge lag, und wartete. Er hatte sich daran gewöhnt, dass Abwarten in Gesprächen mit Sentry dazugehörte, aber gerade fiel es ihm schwer. Musste der Mann seinen ganzen Tisch vollkrümeln?

    »Marí und Resinà werden in zwei Tagen hier sein«, offenbarte Sentry ihm schließlich. Er hatte sich ausnahmsweise entschieden, nicht um den heißen Brei herumzureden. Nun schien Jarosz sein Bissen im Hals stecken zu bleiben. Auch er griff zum Tee, um besser schlucken zu können. Anschließend räusperte er sich. »Wie kannst du das so genau wissen?«, erfragte er mit einem Blick auf seinen Teller, als würde er überlegen, was er zunächst essen wollte. Der Teller war allerdings weitgehend leer. »Weil Marí und ich uns gegenseitig orten können, Jarosz«, gab Sentry ungern zu. »Und weil sie mich während der Vereidigung von Kerí hintergangen und sich mit mir verknüpft hat. Allerdings viel schwächer, und zu ihrem Leidwesen hat sie sich verschätzt«, analysierte er gleich weiter. »Ich glaube, dass sie es längst bereut hat. Mein Energieniveau ist für sie und diese Art der Verlinkung zu heftig. Mich stört hauptsächlich, dass sie mich nicht um meine Einwilligung gebeten hat. Ich hab’s ihr, ehrlich gesagt, absichtlich nicht leicht gemacht.«

    »Dann«, seufzte der Fürst, sah ihn an und lehnte sich unglücklich in seinem Stuhl zurück, »kommt sie deshalb her.« Gegessen hatte Jarosz für den Moment definitiv genug. Sein Appetit war wie weggeblasen, obwohl er das halbe Hörnchen, das Sentry sich genommen hatte, eben noch hatte essen wollen. »Sie kommt hauptsächlich deinetwegen, Jarosz, da bin ich mir ganz sicher«, entgegnete Sentry schnell, um ihn zu beruhigen. »Aber sie und ich, wir müssen das klären. Und weil ich kürzlich von Verrat betroffen war, will ich sie scannen. Ich kann das auch bei Nicht-Telepathen. Die Ergebnisse sind nicht ganz so leicht zu gewinnen, und es ist unangenehmer für sie, weil sie dafür von Natur aus nicht offen sind. Das hat zumindest Kerí mir rückgemeldet.« Jarosz schwieg und betrachtete ihn. »Du vertraust ihr nicht?«, wollte er wissen, und jetzt sah er wirklich bekümmert aus. »Ich vertraue ihr«, erklärte Sentry etwas hektisch, »aber Marí ist Marí. Sie hat einen ganz eigenen Kopf, und Kerí meidet sie nicht ohne Grund, obwohl sie sie liebt. Kein vernünftiger Mensch würde ganz allein versuchen, in U’Sanforlan einzusteigen. Nicht, wenn er die Geschichte der verlorenen Stadt kennen würde. Und wer weiß, mit wie vielen Menschen Marí noch verknüpft ist, oder wo sie sich Vorteile versprochen hat. Dass sie mir willentlich schaden würde, halte ich für ausgeschlossen. Aber sie hätte meine schlechte Verfassung nicht ausnutzen dürfen, und ich möchte mich revanchieren. Sie hat versucht, mir eine dünne Leine anzulegen, Jarosz. Seit einer Weile erlebt sie, wie es ist, wenn ich daran ziehe. Natürlich nur vorsichtig – ich will sie ja nicht verletzen.«

    Wenig begeistert schwieg der Fürst, er ließ das sacken. Er konnte nichts Stichhaltiges gegen den Scan vorbringen, auch als Abschreckung vor weiteren Missetaten nicht. Marí tat, was sie für richtig hielt, und deshalb hatte er ihr anfangs misstraut. Deshalb hatte er sich aber auch in sie verliebt. Wenn ihm das passiert wäre, würde er viel vehementer als Sentry reagieren, vermutete der Fürst, vor allem, wenn er vorher in Murud eingekerkert gewesen wäre. Von daher würde Marí einen geringen Preis für ihre Übergriffigkeit zahlen. »Das ist deine Entscheidung«, äußerte er daher, nachdem er alles gründlich erwogen hatte. Jarosz nahm seine Teetasse vom Tisch und trank ein paar Schlucke, weil sein Mund sich trocken anfühlte. »Was deine und unsere Sicherheit angeht, hast du in jedem Fall recht.« Er studierte den Inhalt der Tasse. »Zumindest, wenn ich einen neutralen Blickwinkel einnehme«, gab er etwas später wenig begeistert zu. Er stellte die Tasse ab. »Warum muss das jetzt auch noch kompliziert sein?«, beklagte er sich schließlich, ohne eine Antwort zu wollen. Er hob beide Hände ein Stück in die Luft und ließ sie laut auf den Tisch fallen, um seinen Gefühlen Luft zu machen. Anschließend nagelte er Sentry mit seinen Augen fest, und der Adept ahnte, was jetzt kommen würde.

    »Warum hast du mich nicht eingeweiht?«, legte der Fürst auch schon los. »Du hast es den ganzen Weg über gewusst, die ganze Zeit über, auch hier, und bis heute hast du nichts gesagt.« Sentry zog peinlich berührt die Augenbrauen hoch. »Anfangs war es das kleinste meiner Probleme, Jarosz, falls du dich erinnern kannst«, erwiderte er, »und danach: Was hätte es dir denn gebracht?« Er verteidigte sich nur halbherzig, weil der Vorwurf leider berechtigt war. »Du und Marí, ihr mögt euch, und ich wollte da nicht stören«, fuhr er leicht gestikulierend fort. »Außerdem bin ich öfter feige, wenn es persönlich wird, und das ist dir auch nicht ganz fremd, wenn ich mich nicht irre.« Sentry schwieg und Jarosz sagte nichts. Der letzte Punkt war keiner, über den sie weiterreden wollten. Beide nicht.

    Irgendwann schwächte sich ärgerliches Anstarren zu normalem Gucken ab. Weil der Adept keine Tasse hatte, um damit zu hantieren, holte er Monokel aus der Tasche und spielte damit herum. Er hatte es Daosz wieder abgenommen, um mit ihm zusammen über die Kristallsphäre zu beraten. »Ich habe mir einen Vorschlag überlegt«, eröffnete er seinem väterlichen Freund, ohne ihn anzugucken. »Wie wäre es, wenn du Marí entgegenreiten würdest und ich euch am Taleingang erwarten würde? Ich möchte das sofort regeln, wenn sie in Garahon ankommt. Damit es vom Tisch ist und auch wegen Resinà. Du kannst die paar Minuten einfach abwarten. Marí wird sicherlich ahnen, was auf sie zukommt. Dass ich das nicht auf sich beruhen lasse, muss sie doch wissen. Für mich steht ohnehin die Frage im Vordergrund, ob ich die Verbindung auflösen oder vertiefen soll. So wie sie jetzt ist, taugt sie nicht.«

    »Wo genau sind Marí und Resinà denn?«, fragte der Fürst auf einmal viel zugänglicher. Weil er nun wusste, wie bald er die Frau mit den langen, weißblonden Haaren wiedersehen würde, fand er trotz seiner Verstimmung ein paar Schmetterlinge in seinem Bauch, die dort hartnäckig mit den Flügeln schlugen. Sentry antwortete, indem er sich mit Jarosz verlinkte und ihm ihr Signal weiterleitete. »Keine zwei Tagesritte mehr«, gab er dem jungen Lord kurz darauf recht. »Ich könnte morgen ganz früh aufbrechen. Das heißt, eventuell. Mitten am Nachmittag wären wir an den Toren.« Der Fürst verstummte, und ausnahmsweise musste Sentry darauf warten, dass er weiterredete.

    »Ich werde mich liebend gern heraushalten«, äußerte er endlich mit einem Seufzen. »Das mache ich bei persönlichen Konflikten ohnehin am liebsten. Manchmal hast du mich allerdings nicht gelassen.« Er betrachtete den jungen Mann neben ihm und schnaubte. »Seit ich dich kennengelernt habe, ist mein Leben viel erfüllter geworden, aber auch viel anstrengender. Sorgen habe ich mir vorher ebenfalls gemacht, aber sie waren unpersönlicher. Ich konnte dich von Anfang an gut leiden, schon als deine Zellentür aufschwang, auch wenn ich mir bis heute keinen Reim darauf machen kann. Ich hätte dir in den dunklen Gängen sonst nie den Rücken zugedreht. Jetzt habe ich mich das erste Mal seit dem Attentat auf meine Familie verliebt, und ich hoffe inständig, dass bei Marí nichts Bedenkliches zutage kommt. Wenn du etwas finden solltest, dann musst du es mir unbedingt sofort sagen.« Den letzten Satz hatte er bittend gesagt.

    »Ich versprech’s«, antwortete der Felsenadept pflichtschuldig, weil er ein schlechtes Gewissen hatte, »bleib einfach in meiner Nähe. Wir lassen die anderen voranreiten. Diesmal werde ich mich nicht drücken.«

    Der Fürst wollte sich den Tag nicht verderben lassen und wechselte abrupt das Thema. »Ich will gleich zu Daosz«, meinte er, »hast du Lust mitzukommen? Ich habe noch keinen Trainingspartner.« Er zog die Augenbrauen hoch und blickte herausfordernd. »Ich hol nur schnell mein Frühstück rüber, Jarosz«, antwortete der junge Mann erleichtert, der seinen hungrigen Magen auf einmal deutlich spüren konnte. Er sprang auf. Auf dem Trainingsplatz würde er jede Kalorie brauchen, dachte er. »Können wir aufessen oder ist es dafür schon zu spät? Ich schulde dir ein halbes Hörnchen!«

    Der Fürst genoss seine Gesellschaft – Sentry sprühte vor Lebendigkeit, wenn er in der entsprechenden Stimmung war. »Jetzt hältst du mich wieder auf!«, erwiderte er übertrieben vorwurfsvoll und lachte erfreut. »Deinetwegen werde ich zu spät sein, und du weißt, wie Daosz dann ist.« Der Fürst rief nach einer Wache und ließ dem Schwertmeister ausrichten, dass sie zu zweit und verspätet ankommen würden. Heute hatte er sich ausnahmsweise im Dojo angemeldet, weil es draußen unwirtlich kalt war. Verstimmt sein würde der Schwertmeister in jeden Fall, aber so brachten sie ihm ausreichend Achtung entgegen, damit er nach dem ersten Gegrummel wieder zum Tagesgeschäft übergehen könnte.

    Jarosz verließ Garahon am Morgen des Folgetages in Begleitung von zwanzig Bewaffneten. Seit sie Verrat in den eigenen Reihen erlebt hatten, hielt er es für besser, auch in der direkten Umgebung seines Fürstentums doppelt Vorsicht walten zu lassen. Schon in der Nacht hatte er Scouts vorangeschickt, die sämtlich Telepathen waren, um sofort informiert werden zu können. Angriffe waren unwahrscheinlich, vor allem bei meterhohem Schnee, aber nicht unmöglich. Er selbst würde eine so stark befestigte Anlage wie Garahon nur dann ins Visier nehmen, wenn es den Verteidigern wenig wahrscheinlich erschien.

    Jarosz hatte im letzten Jahrzehnt nicht an seinem Leben gehangen, sondern einfach seine Pflichten erfüllt. Inzwischen hatte er etwas Lebensfreude wiedergefunden, und er war als Fürst kaum zu ersetzen, weshalb ihm Vorsicht geboten schien. Ein weiterer Grund war, dass Tellosz inzwischen so eng mit Sentry verbunden war, dass er die Führung von Garahon nicht übernehmen könnte, jedenfalls nicht dauerhaft. Tellosz war ein Lord der Heilung, nicht einfach nur ein besonderer Krieger, und das hatte der Fürst nicht geahnt. Diese Tatsache machte ihn zu einer Lebensversicherung für den Felsenadepten, aber deshalb war er auch ein lohnendes Ziel für Anschläge. Fürst Jarosz hatte sich seine Nachfolge sorgfältig überlegt und Tellosz über Jahre ausgebildet, aber den neuesten Entwicklungen hielt das alles nicht mehr stand. Er würde sein Testament überdenken und ändern, dachte er, zumal Tellosz eine gute Wahl für kriegerische, krisengeschüttelte Zeiten war, aber nicht für Friedenszeiten und Zeiten des Aufbaus, die hoffentlich kommen würden. Neuerdings fand der Fürst viele Gründe, um noch lange am Leben zu bleiben, und endlich fiel es ihm auf. Die Idee eines Lächelns stahl sich in seine herben Gesichtszüge.

    Auf ihrem Weg bergab wählten sie Pfade, auf denen der Schnee niemals hoch lag. Es war eine Frage der Windrichtung und seiner Stärke. In den eisigen Höhen wurde Niederschlag an bestimmten Stellen ins Tal gepustet, denn auch die Zuwege nach Garahon entsprachen der durchgeplanten, klugen Architektur der Adepten der Vorzeit und gehörten zu den Verteidigungsanlagen. Man musste sie kennen, um zum Tal durchzukommen und nicht abzustürzen oder in eine Gletscherspalte zu rutschen. Sollten sich Feinde nähern, so konnten Lawinen ausgelöst werden, und für jeden Pfad gab es eine Sicherung. Verrat im Inneren und Unterwanderung waren ihre ärgsten Gegner, nicht Angriffe von außen. In Garahon lebte man schlicht, weshalb eine gewisse Charakterfestigkeit notwendig war, um hier glücklich zu sein. Festungen wie die ihre konnten nur von innen aufgebrochen werden, solange sie ausreichend besetzt waren.

    Jarosz und seine Garde waren in warme Fellumhänge gewickelt, während ihre stämmigen, zähen Pferde sie bergab trugen. Sie hatten es nicht weit und würden bald wieder umkehren, dachte er. Marí, Resinà und die anderen waren ebenfalls früh aufgebrochen und kamen zügig voran. Sentry leitete ihm Marís Signatur weiter, und dafür war Jarosz dankbar, weil er sich sonst ständig gefragt hätte, wo sie wären. So wusste er es. Wie immer um diese Jahreszeit blies der Wind kalt aus Osten. Das Wetter war gut, aber es würde noch Schnee geben. Als erfahrener Garahoner konnte er das riechen. Es lag im Wind.

    Kurz vor Garahon

    Marí und Resinà froren bis auf die Knochen, egal in wie viele Felle sie sich hüllten und wie tief sie ihre Mützen in die Stirnen zogen. Im Tal von Garahon würde es angenehmer sein, hatten Feral, Rural und Telka ihnen versprochen, und darauf hofften sie, jede für sich allein, weil sie ihre Zähne zusammenbissen und nicht eine Klage über ihre Lippen kam. Resinà war echte Winter nicht gewöhnt, da es um Tusso herum mild blieb. Marí kannte Kälte gut, aber der stetig wehende, eisige Wind machte sie mürbe, und die drei Garahoner schienen nichts davon zu bemerken. Von Weitem, dachte die Eshandrin, wäre es unmöglich auszumachen, wer von ihnen auf welchem Reitpferd saß. Fünf Fellberge, mit Packpferd sechs, bewegten sich auf jeweils vier kräftigen, relativ kurzen Beinen voran. Allenfalls sie selbst könnte durch ihre geringe Körpergröße auffallen, aber auch Telka war nicht gerade

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1