"Democracy Dies in Darkness": Fake News, Big Tech, AI: Hat die Wa(h)re Nachricht eine Zukunft?
Von Clemens Pig
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Über dieses E-Book
Clemens Pig, Geschäftsführer der APA, skizziert in dieser fundierten Analyse der Informationsgesellschaft von morgen seine realistische Vision einer "European NewsTech Alliance": ein europäischer Wissensraum von freien Agenturen und Medien, in dem verifizierte und zuverlässige Informationen den Input für kontrollierte gemeinsame AI-Anwendungen bilden.
Der Titel »Democracy Dies in Darkness« ist der traditionsreichen Washington Post entlehnt, die diesen Slogan unter ihrem Logo trägt.
Clemens Pig
Clemens Pig ist geschäftsführender Vorstand der APA – Austria Presse Agentur (Wien) und seit 2018 Verwaltungsratsvizepräsident der Schweizer Nachrichtenagentur Keystone-SDA (Bern). Er ist Präsident der EANA – European Alliance of News Agencies und des ÖGV – Österreichischer Genossenschaftsverband. Pig promovierte 2012 an der Universität Innsbruck über internationale politische Kommunikation in der Digitalisierung und ist Autor zahlreicher Beiträge zu Politik und Medien. Er ist Mitgründer des Start-Ups MediaWatch Institut für Medienanalysen (1996) und wechselte, nach erfolgreichem Verkauf der MediaWatch an die APA, in die österreichische Nachrichtenagenturgruppe (2008). Pig wurde mit dem Wissenschaftspreis für Public Relations ausgezeichnet (2013) und zum Medienmanager des Jahres (2018) sowie zum Kommunikator des Jahres (2021, 2023) gewählt. Zu seinen unternehmerischen und wissenschaftlichen Schwerpunkten zählen die digitale Transformation und das Innovationsmanagement im Agenturjournalismus sowie die strategische Geschäftsfeldentwicklung von Nachrichtenagenturen in der kooperativen Medienökonomie.
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Buchvorschau
"Democracy Dies in Darkness" - Clemens Pig
Einleitung
»Russland hat seine Einheit wiederhergestellt. Die Tragödie von 1991, diese furchtbare Katastrophe unserer Geschichte, diese unnatürliche Zerrissenheit, ist überwunden.«
In den Morgenstunden des 26. Februar 2022 – nur zwei Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – war zumindest für die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti durch den irrtümlichen Versand eines vorbereiteten Jubelkommentars das Ziel der Invasion schon erreicht; und damit auch für zahlreiche russische Medien. Denn Nachrichtenagenturen stehen weltweit an der Spitze der Informationspyramide, was in der Zeitenwende für eine neue Weltordnung enorme Chancen und zahlreiche Gefahren zugleich für Nachrichtenagenturen als Arterien des nationalen und internationalen Nachrichtenflusses in sich birgt.
Entgegegen RIA Novostis Jubelmeldung: die Mutter-Heimat-Statue in Kiew, am 24. August 2022, dem Unabhängigkeitstag der Ukraine, ein halbes Jahr nach Beginn der russischen Invasion
Dimitar Dilkoff / AFP / picturedesk.com
RIA Novosti bezeichnet sich ebenso als Nachrichtenagentur wie beispielsweise die ebenfalls russische TASS oder die chinesische Xinhua oder die – erheblich kleinere – KCNA in Nordkorea. Doch auch die drei global agierenden Agenturen Associated Press (AP) aus Nordamerika, Reuters mit Hauptsitz in London und die französische Agence France-Presse (AFP) sowie die international tätige Deutsche Presse-Agentur (dpa) oder Österreichs Austria Presse Agentur (APA) sind Nachrichtenagenturen. Der elementare Unterschied besteht darin, dass Erstere beispielhafte Exponenten staatlicher Propagandainstrumente darstellen, Letztere als Vertreter der absoluten Minderheit der unabhängigen Agenturen hingegen den globalen Free Flow of Information aufrechterhalten. Ihnen kommt insbesondere in Zeiten globaler Verwerfungen und massiver Unsicherheit besondere Bedeutung zu.
1. Agenturjournalismus unter Druck
Marathonlauf der Redaktionen
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar 2022 findet zu einem Zeitpunkt statt, als Europas Medien und Nachrichtenagenturen unter nachhaltigem Produktions- und Transformationsdruck stehen. Beginnend mit der Flüchtlingskrise 2015 hat ein durchgehender redaktioneller Marathonlauf begonnen, der den europäischen Newsrooms permanente Höchstleistungen abfordert. Auch Österreich und seine Redaktionen sind seitdem nicht mehr zur Ruhe gekommen:
Flüchtlingskrise mit Hauptursache des Bürgerkrieges in Syrien (2015),
Bundespräsidentenwahl mit folgender Stichwahl samt erstmaliger Wahlwiederholung einer Stichwahl nach Anfechtung des Wahlergebnisses durch den unterlegenen Kandidaten; Angelobung eines neuen Bundeskanzlers (2016),
zwei Wechsel von Parteivorsitzenden vor (Sebastian Kurz, ÖVP) beziehungsweise nach vorgezogenen Neuwahlen (Werner Kogler, Grüne) mit Bildung einer rechtskonservativen Koalition aus ÖVP und FPÖ (2017),
weitere Wechsel von Vorsitzenden der Oppositionsparteien (Pamela Rendi-Wagner, SPÖ, Beate Meinl-Reisinger, NEOS, 2018),
die Enthüllung des »lbiza-Videos« mit folgendem Rücktritt des Vizekanzlers, Abberufung der gesamten Bundesregierung, Einsetzung einer interimistischen »Beamtenregierung«, Ausrufung von Neuwahlen mit erstmaliger Bildung einer Koalition aus Volkspartei und Grünen (2019),
wenige Wochen darauf geht die erste Meldung über eine mysteriöse Lungenkrankheit aus China über die Agentur-Ticker (Jänner 2020),
die Coronapandemie samt Lockdowns folgt als globale Zäsur auf allen Ebenen, begleitet von weiteren Verwerfungen in Österreichs Innenpolitik durch eine Korruptionsaffäre mit mehrfachen Kanzlerwechseln ab Herbst 2021,
der vierte COVlD-19-Lockdown endet in Österreich zu Beginn des Jahres 2022,
die Medienunternehmen starten mit Mut und Zuversicht in das neue Jahr und lassen die Pandemie hinter sich, die Konjunkturbarometer gehen nach oben,
es folgt nach der Pandemie die nächste globale Zäsur: der russische Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Feber 2022 markiert das Ende des Friedens in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg und läutet eine geopolitische Zeitenwende samt Energiekrise, massiv gestiegener Inflation und einer sich verschärfenden Klima- und Umweltkrise ein.
Diese Stakkato-Abfolge an österreichischen innen- und weltpolitischen Großereignissen hat den Redaktionen kaum Zeit zum Verschnaufen erlaubt. Es herrscht redaktioneller Produktionsdruck rund um die Uhr. Selbst die Wochenenddienste in den Newsrooms sind von redaktionellen Großaufgeboten für die Berichterstattung über die quasi wöchentlich stattfindenden »Anti-Corona-Großdemonstrationen« geprägt. Diese Live-Coverages an den Orten des Geschehens machen für österreichische Journalist:innen und Redakteur:innen erstmals ernsthafte Sicherheitsvorkehrungen aufgrund von Anfeindungen gegen Medienvertreter:innen notwendig. Spätestens mit Beginn der Coronapandemie wurde die Polarisierung der Gesellschaft von den ausgefransten digitalen Rändern der sozialen Netzwerke in die Mitte der Gesellschaft und auf die Straßen gespült: Medien und Nachrichtenagenturen befinden sich mittendrin in dieser Polarisierung, sowohl in den digitalen Räumen als auch auf den Demonstrationsplätzen der europäischen Großstädte. Zum ersten Mal ist es ratsam, als Agenturjournalist:in unerkannt und anonym von Live-Ereignissen zu berichten. Droh- und Beschimpfungsmails von Bürger:innen an die Redaktionen und Medienspitzen haben deutlich zugenommen. Schauplatzwechsel: Die Bilder aus dem Krieg in der Ukraine, die den Agenturen in ihrer schonungslosen Realität als graphic content zugehen und für Endkonsument:innen entschärft und »medientauglich« aufbereitet werden, sind auch für hartgesottene Redakteur:innen mit langjähriger Berufserfahrung verstörend und teils traumatisierend. Die thematische Bewältigung und Berichterstattung in diesem redaktionellen Marathonlauf findet gleichsam im Setting des größten Experiments der Arbeitswelt seit der Einführung von PC und E-Mail in Echtzeit statt: Homeoffice und hybrides Arbeiten werden von heute auf morgen in den Newsrooms eingeführt und sprengen die bisherigen Workflows in den Redaktionen. In kürzester Zeit etablieren sich neue Kommunikationskanäle und Prozesse der Zusammenarbeit. New Work und Digital Collaboration finden ohne Testlauf Eingang in die Medienwelt.
Parallel zum stark gestiegenen Produktionsdruck der Redaktionen läuft die Uhr der digitalen Transformation der Medienunternehmen noch schneller. Die Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft durch das veränderte Mediennutzungsverhalten, durch globale Plattformen und soziale Netzwerke mit disruptiven Technologien und neuen Geschäftsmodellen beschleunigt sich: Werbegelder werden noch umfassender von den Medien zu den Plattformen abgesaugt und die digitale Zahlungsbereitschaft für redaktionelle Inhalte wächst nur langsam auf moderatem Niveau. Die Coronapandemie hat insgesamt zu einem erhöhten Vertrauensverlust in Institutionen wie Medien, Politik und Wissenschaft sowie zu einer gestiegenen Erschöpfung im digitalen Informationskonsum (News Fatigue) geführt. Vor diesem Hintergrund bringen die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Krieges keine guten Nachrichten für die Medienbranche: Explodierende Produktionskosten durch die rasant ansteigenden Energiepreise (Gas, Papier) stellen die Medienmanagements vor große Herausforderungen. Der Transformationsdruck steigt parallel zum Produktionsdruck. Im Gegenzug legt er die Chancen und Möglichkeiten für die Medienindustrie in dieser Zeitenwende offen. Angesichts zunehmender Polarisierung und Desinformation in sozialen Netzwerken, die in eine publizistische Krise geraten, angesichts der Entwicklungen in Russland, die den Weg zu autokratischen Gesellschaften wie unter einem Brennglas vor Augen führen, angesichts mächtiger, beunruhigender Artificial-Intelligence-Werkzeuge der digitalen Global Player kristallisieren sich am Horizont die positiven Markenkerne auf der Habenseite der Medienindustrie heraus: unabhängige Nachrichten in allen Formaten, die in liberalen Mediendemokratien so wichtig sein werden wie sauberes Trinkwasser. Dazu kommen innovative Produktions- und Distributionskanäle, die (wieder) an die Young Audiences und ihre Themenwelten anschließen und zur Neuinterpretation der redaktionellen Deutungshoheit im digitalen Raum führen können.
Produktions- und Transformationsdruck für Medien und Nachrichtenagenturen
Dafür benötigt es viel Infrastruktur – redaktionelle und digital-technologische Infrastruktur. Digitale Transformation von Medienunternehmen ist innovations- und investitionsintensiv. Kaum ein Medienbetrieb ist in der Lage, diese Infrastruktur gesamthaft stand-alone aufzubauen, zu finanzieren, zu betreiben und laufend weiterzuentwickeln. Das Konzept der Digitalökonomie zur Überwindung dieser Hürden lautet: Kooperation.
Nachrichtenagenturen sind Infrastrukturunternehmen. Sie liefern die Bauelemente für Nachrichten und Technologie. Idealerweise sind sie auch die Plattformen zur Herstellung von Kooperation zwischen den Medienunternehmen. Nachrichtenagenturen sind eine wichtige Variable in der Lösung zentraler Herausforderungen der Medienzukunft.
2. Free Flow of Information
Arterien des globalen Nachrichtenflusses
Die Medienvielfalt Europas ist trotz der anhaltenden, wirtschaftlich sehr herausfordernden Rahmenbedingungen nach wie vor groß. Rund 500 Millionen EU-Bürger:innen konsumieren täglich die Angebote von rund 5.000 Zeitungen, 50.000 Zeitschriften und Magazinen sowie von 4.500 Radio- und TV-Sendern. Dazu kommen unzählige Informationssplitter in Social-Network- und Onlinequellen, deren Interaktionen wie Tweets, Posts, Likes, Shares und Kommentare ihren Ausgangspunkt vielfach in den professionellen, originären journalistischen Angeboten haben. Massenmedien prägen damit auch in der Ära der sozialen Netzwerke und der Nachrichten-Aggregatoren stark die Themen, Bilder (Agenda-Setting) und den Diskurs (Framing) über das nationale und internationale Geschehen. Rund die Hälfte bis zwei Drittel dieser enormen Menge an täglichen Informationen und Nachrichten liefern Nachrichtenagenturen an die Medienredaktionen – als Fertigprodukte für die direkte Verwendung von Texten, Bildern, Grafiken, Live-Videos, Live-Blogs,