Soziale Netzwerke für Nachrichtenjournalisten
Von Daniel Bouhs
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Buchvorschau
Soziale Netzwerke für Nachrichtenjournalisten - Daniel Bouhs
Warum soziale Netzwerke für Journalisten wichtig sind
So schockierend dieser 22. Juli 2011 auch gewesen sein mag, so sehr war er zugleich ein markantes Beispiel für den Wandel im Nachrichtenjournalismus: Es dauerte gerade einmal 13 Minuten, bis erste Fotos und Videos der Explosion im Netz kursierten, die das Osloer Regierungsviertel an jenem Freitag erschüttert hatten. Verwackelte und pixelige Aufnahmen von Amateuren waren das zwar, die aber in nie dagewesenem Tempo dokumentierten, wie das Grauen in den Alltag einziehen kann. Flugs füllten die Nachrichtensender BBC und CNN mit dem Amateurmaterial aus Oslo ihre Live-Strecken. Online-Portale griffen ebenso auf die Aufnahmen zurück. Nachrichtenagenturen wiesen – mit der gebotenen Vorsicht – auf sie hin. Das Netz, wird es später im Rückblick heißen, war wieder einmal schneller als die Profis der etablierten Medien. Klassische TV-Teams und Fotografen mussten eben erst noch zum Unglücksort eilen und ihre eigenen Aufnahmen dann an ihre Zentralen senden. Die griffen bis dahin erst einmal auf die Aufnahmen des Norwegers Christian Aglen zurück. Ein regelrechter Glücksfall für den Journalismus war dabei, dass Aglen selbst Journalist ist. Zwar berichtet er sonst über die Finanzmärkte. Doch weil er weiß, wie Medien ticken, war er nicht nur schnell und präzise. Fragen von Agenturen und Sendern, ob sie sein Material verbreiten dürften, beantwortete er zugleich wie ein Profi. Nachdem Aglen die ersten Aufnahmen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter über sein Profil @chaglen in die Welt hinaus gesendet hatte, schaltete er eine Webseite frei und notierte dort: Medien dürfen seine Fotos und Videos für ihre Berichterstattung nutzen, wenn sie ihn als Quelle ausweisen. Viele kamen dem nach.
Nach dem Anschlag in Oslo kursierten im Netz binnen weniger Minuten erste Fotos.
Wer soziale Netzwerke bis dahin in die Bedeutungslosigkeit verbannt hatte, den belehrte dieser 22. Juli 2011 gleich ein zweites Mal eines Besseren: Als derselbe Täter, der Rechtsextremist Anders Behring Breivik, nach dem Bombenanschlag auf der 30 Kilometer entfernten Insel Utöya als Polizist verkleidet damit begann, in einem Ferienlager ein Massaker anzurichten, setzte einer der Jugendlichen prompt eine Nachricht auf Twitter ab: „Er skutt pa Utöya. Mange döde" – Schüsse auf Utöya. Viele Tote.
Adrian Pracon, der Jugendliche, überlebte das Blutbad. Auch das teilte er per öffentlicher Kurznachricht mit. Findige Journalisten wie eine Reporterin des britischen Senders Sky News schrieben ihm daraufhin: Man wolle mit ihm sprechen, erreiche ihn aber leider nicht. Pracon notierte schließlich seine Durchwahl, wiederum auf Twitter und damit für all jene sichtbar, die sich für ihn interessierten. Journalisten, die damals die Nummer anwählten, was auch viele taten, erreichten den jungen Mann noch am Krankenbett direkt in der Klinik.
Jedem, der fragte, stand der 21-Jährige Rede und Antwort. Demnach blickte Pracon dem Täter nicht nur in die Augen, sondern auch in dessen Flinte. Bloß weil er um sein Leben gefleht habe, sei er verschont worden. Einige derer, die ins Wasser flüchteten, hätten hingegen mit ihrem Leben bezahlt. Die Medien hatten ihren Augenzeugen. Reporter, die das Netz gezielt beobachteten, bekamen ihn sogar wie auf dem Silbertablett serviert.
Auch diese Szene macht das Attentat in Oslo zu einem Musterbeispiel für das Potenzial, mit dem soziale Netzwerke aufwarten, nicht zuletzt für Nachrichtenjournalisten. Dabei hätte sich Pracon all das freilich auch ausdenken können. Allein: Journalisten prüften umgehend beim Krankenhaus, ob Pracon zu den Angelieferten zählte, die in Utöya gerettet worden waren. Die angegebene Nummer führte zudem tatsächlich in das angegebene Krankenhaus.
Es sind Entwicklungen wie diese, die klassische Berichterstatter nicht zuletzt auf eine harte Probe stellen. Die Frage dabei lautet stets: Bleiben sie in ihrer alten Arbeitswelt verhaftet oder hören sie die Signale und begreifen soziale Netzwerke als eine Chance, die den Journalismus schneller, reichhaltiger und damit deutlich besser machen kann? Für Reporter wie Brian Stelter von der „New York Times" steht das bereits außer Frage.
Stelter berichtete im Mai 2011 aus Joplin. Die Stadt im Bundesstaat Missouri im Herzen der USA war damals von einem Hurrikan quasi dem Erdboden gleichgemacht worden. Der Reporter beschränkte sich im Wesentlichen darauf, über Twitter Kurznachrichten zu senden. Seine Redaktion ergänzte damit die Berichte der „New York Times", während sich ihr Mann vor Ort darauf konzentrieren konnte, frische Eindrücke zusammenzutragen.
Zum anderen stießen Betroffene auf Stelters Mitteilungen, als sie die Plattform nach Neuigkeiten durchforsteten. Sie erfuhren also allein durch seine Tweets, dass er dort war und spielten ihm sodann Hinweise für seine Recherchen zu. Stelter, der diese Erfahrung anschließend völlig verblüfft notierte, sagte unter dem Eindruck seiner Arbeit in Joplin: „Twitter macht uns schneller und eleganter. Das soziale Netzwerk beeinflusse die Art, wie ihn Nachrichten erreichten. „Twitter sorgt dafür, dass ich schneller reagiere.
Mit Plattformen wie Twitter, Facebook, den deutschen VZ-Netzwerken (StudiVZ etc.) und dem noch jungen Google+ kommt auf Journalisten ein Wandel ihrer Arbeitsweise zu. Augenzeugen und nachrichtlich relevantes Material finden sich zunehmend auch im Netz. Meist ist dieses Material dort frei verfügbar. Medien, die es über Jahrzehnte gewohnt waren, der Umschlagplatz für Exklusives zu sein, degradiert diese Entwicklung. Reporter werden dabei mitunter auf einen ungewohnten Platz verbannt: die Zuschauerreihen.
Soziale Netzwerke helfen ihnen dabei, Entwicklungen zügig zu erfassen. Die Einträge auf diesen Plattformen können Recherchen auslösen und für all jene, die nicht am Ort des Geschehens sein können, als Backup dienen – vor allem, aber nicht allein für Redakteure in den Zentralen. Twitter und Co. bieten einen neuen Einblick in das Geschehen der Welt, wie er in den Jahrzehnten zuvor allein technisch noch gar nicht möglich war.
Ein Ersatz für klassische Recherchen sind diese Meldungen dabei nicht, wohl aber eine umfangreiche Ergänzung, ein zusätzliches Angebot mit neuen Quellen. Sie erweitern die journalistischen Möglichkeiten. Sie zu ignorieren, wäre ohne Frage fahrlässig.
So wie Journalisten einst gelernt haben, mit Menschen zu reden, in Archiven zu wühlen, im Vertrauen Kontakte aufzubauen, andere Berichte auszuwerten, mit E-Mails und schließlich dem klassischen Internet umzugehen, so müssen sie jetzt lernen, auch in sozialen Netzwerken mit anderen Menschen zu kommunizieren, sich neue Quellen und Kontakte zu erschließen und Themen nicht mehr nur „auf der Straße" aufzuspüren. Es gilt also, Neues auch aus Twitter, Facebook und Co. zu schöpfen. Dieser Weg ist für Medien alternativlos – so anstrengend er dem Einzelnen anfangs auch erscheinen mag. Alles in allem erweitert sich das Berufsbild von Journalisten in die digitale Welt. Ihre Recherchefelder werden komplexer und unübersichtlicher, aber zugleich auch reichhaltiger und vielfältiger.
Zum ganzen Bild zählt allerdings auch dies: Soziale Netzwerke fressen zusätzliche Zeit. Immerhin fällt im Gegenzug die Recherche vor Ort, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht und nicht zuletzt das Abarbeiten der riesigen Informationsberge aus E-Mails, Faxen und Briefen nicht weg. Der journalistische Ertrag wiegt dies indes immer deutlicher auf.
Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für die Kraft, die