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Erinnerungen an Anna
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eBook382 Seiten5 Stunden

Erinnerungen an Anna

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Über dieses E-Book

Diese Erinnerungen sind eine Liebeserklärung und zugleich eine Lebensgeschichte: sechsundfünfzig Jahre meines Lebens mit Anna, die der Zufall mir beschert und das Schicksal mir genommen hat. Ich erzähle von einem Leben in guten, aber auch in schlimmen Zeiten, immer jedoch von einem Leben voller Zuwendung, Liebe und Erfüllung. Was mir bleibt, ist an Anna als jenen wunderbaren und einzigartigen Menschen zu erinnern, der sie für mich, aber auch für andere gewesen ist. Nie ist mir ein liebenswerterer Mensch begegnet.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. Juni 2023
ISBN9783757842673
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    Buchvorschau

    Erinnerungen an Anna - Rinus Ritter

    Es kommt nicht darauf an, wohin du gehst.

    Es kommt darauf an, wer mit dir geht.

    Es gibt viele Wunder auf dieser Welt.

    Welches ist das größte?

    Es ist die Liebe.

    Was ist eine große Liebe?

    Ich habe es nicht gewusst.

    Ich habe sie erlebt.

    Diese Erinnerungen sind eine Liebeserklärung und zugleich eine Lebensgeschichte: sechsundfünfzig Jahre meines Lebens mit Anna, die der Zufall mir beschert und das Schicksal mir genommen hat. Ich erzähle von einem Leben in guten, aber auch in schlimmen Zeiten, immer jedoch von einem Leben voller Zuwendung, Liebe und Erfüllung. Was mir bleibt, ist an Anna als jenen wunderbaren und einzigartigen Menschen zu erinnern, der sie für mich, aber auch für andere gewesen ist. Nie ist mir ein liebenswerterer Mensch begegnet.

    RiRi

    Inhaltsverzeichnis

    Intro

    Teil 1

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Teil 2

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Anhang

    Intro

    Jetzt ist alles, wovon ich erzählen kann, Vergangenheit, und ich frage mich, auf welche Weise ich von Anna erzählen kann, von jenem wunderbaren Menschen, der mit mir gegangen ist - oder sollte ich sagen: mit dem ich gehen durfte? Kann ich einen Weg finden, auf angemessene Weise von ihr zu schreiben, sie, die mein Leben nicht nur so sehr bereichert hat, nein, die mein Leben gewesen ist? Wenn sie noch bei mir sein könnte: Wie würde sie das finden, was ich über sie und über unsere Liebe erzählen möchte? Ich weiß es nicht, bin aber davon überzeugt: sie würde wie so oft in unserer Beziehung erst stutzen, dann nachdenken, dann mitspielen. Spielen – dieser Ausdruck für die Art, für den Charakter unserer Beziehung wird in meiner Erzählung oft vorkommen. Er wird in einem scharfen Gegensatz zu dem stehen, was uns das Schicksal beschert hat. Denn ich werde auch von Ereignissen erzählen, bei denen uns wahrlich nicht nach Spielen zumute gewesen ist. Bei allem Ernst des Daseins und bei aller Tiefe unserer Liebe ist unsere Beziehung jedoch immer von einer spielerischen Leichtigkeit erfüllt gewesen, einer Leichtigkeit, zu der Anna fähig gewesen ist, nachdem sie Vertrauen zu sich selbst und zu mir hat finden können. Diese Leichtigkeit, die ihren Ausdruck in einer herrlichen bis zu ihrem Lebensende andauernden Sexualität gefunden hat, ist für mich immer ein Wunder geblieben, obwohl Anna der Meinung gewesen ist, diese Art der Liebe gehöre wie selbstverständlich dazu.

    Als geneigte Leserin, als interessierter Leser haben Sie den Umschlagtext gelesen, der auf der Seite zuvor nochmals abgedruckt ist. Vielleicht werden Sie diesem Text zustimmen, wenn Sie diese Erinnerungen gelesen haben. Sie werden Anna als durchaus gewöhnlichen, zugleich aber auch ungewöhnlichen Menschen kennen lernen. Das eher Gewöhnliche an ihr ist das gewesen, was Fremde im Vorübergehen empfunden haben. Das Ungewöhnliche an ihr haben jene erlebt, die sie gekannt haben. Und ich bin der Glückliche gewesen, dem sie ihre Liebe geschenkt hat. Anna lebt nicht mehr. Sollten Sie beim Lesen den Eindruck haben, manche Erinnerung des Erzählers scheint vergoldeter zu sein als das, was wirklich geschehen ist, dann wird das hier und da wohl stimmen. Das ist so, versucht man, viele Jahre später von längst vergangenen Zeiten zu erzählen. Wahr und so geschehen sind jedoch alle Ereignisse, an die hier erinnert wird.

    Meine Erinnerungen an Anna sind in zwei Teile und einen Anhang gegliedert: einen ersten Teil, überschrieben mit ‚Glück‘, einen zweiten Teil, überschrieben mit ‚Trauer und Glück‘, und einen Anhang mit Auszügen aus einem Tagebuch Annas. In den fortlaufenden Text dieses Buches sind kursiv gedruckte Abschnitte eingestreut, die sich meistens auf den Einfluss jener Zeit beziehen, in der die geschilderten Geschehnisse sich abgespielt haben; andere Erläuterungen beschreiben unsere damaligen Ansichten dazu. Der erste Teil meiner Erinnerungen ist auf einen engeren Zeitraum von sechs Jahren beschränkt, sechs keineswegs problemloser Jahre, aber Jahre voller Glück und Zuversicht in eine sichere Zukunft. Sechs Jahre, in denen zwischen Anna und mir ein festes Band, eine große Liebe entstanden ist, die geholfen hat, das, was danach geschehen ist, gemeinsam durchzustehen. Der zweite Teil umfasst einen großen Zeitraum von etwa fünfzig Jahren, in dem sich Zeiten des Unglücks und des Glücks abgewechselt haben. Die Unglücke sind von außen in unser Leben eingebrochen; ich werde diese Unglücke in meinen Erinnerungen deshalb als Schicksalsschläge bezeichnen. Der Zeitpunkt eines solchen Einschlags ist im fortlaufenden Text durch eine einzeln stehende und fett gedruckte Zeile erkennbar.

    Anna, meine Geliebte, die die Zeiten des Glücks wie auch die des Unglücks mit ihrem Wesen und ihrer seelischen Kraft gestaltet und geformt hat und an die dieses Buch erinnert, ist in vielfacher Hinsicht ein ganz besonderer Mensch gewesen. So hilfebedürftig und zerbrechlich sie zu Beginn eines unglücklichen Zeitabschnitts erschienen ist, so entscheidungsfreudig und stark ist sie zu allen anderen Zeiten gewesen. Auf einen Fremden hat sie eher unscheinbar gewirkt, weil sie so bescheiden gewesen ist. Sie hat sowohl als Mädchen wie als attraktive Frau nie angestrebt, im Mittelpunkt stehen zu wollen, weder in ihrer äußeren Erscheinung noch in ihrem Verhalten. Wer jedoch das Glück gehabt hat, sie zu kennen, hat sie von weitem betrachtet nur verehren oder wie ich, der ich ganz nahe bei ihr sein durfte, nur lieben können. Vom Entstehen, Wachsen und von einer lebenslangen Dauer dieser Liebe in ereignisreichen sechsundfünfzig Jahren möchte ich erzählen.

    Als der zweite Weltkrieg endete, war Anna noch keine sieben Jahre alt. Sie wuchs wie auch ich in einer Nachkriegszeit auf, einer Nachkriegszeit, die von vielen Entbehrungen geprägt war. Aus dieser Zeit sind mir von ihr nur diejenigen Erinnerungen gegenwärtig, die ich aus den wenigen Erzählungen ihrer Eltern und aus ihren eigenen Berichten im Gedächtnis behalten habe. Wenn ich nach den Wurzeln ihrer Fähigkeit zu einer großen Liebe forschen wollte, würde ich sie in ihrem Wesen, in ihrer Persönlichkeit suchen, nicht jedoch in den Umständen, unter denen sie aufgewachsen ist. Denn ihr Elternhaus ist im Gegensatz zu meinem nicht von einer harmonischen Beziehung der Eltern untereinander geprägt gewesen. Sie ist als jüngstes Kind unter drei Geschwistern aufgewachsen, ihr älterer Bruder ist dreizehn Jahre vor ihr geboren, er hat als Kriegsteilnehmer fast schon einer älteren Generation angehört und ist in ihrer Kindheit im Studium und daher meist abwesend gewesen. Der vier Jahre vor ihr geborene jüngere Bruder ist zeitlebens ein schwieriger Mensch gewesen und hat der Familie etlichen Kummer bereitet. Bei Anna ist schon früh zu erkennen, wie intelligent sie ist und wie gern sie gelernt hat. Ihr zum Zeitpunkt ihrer Geburt sechsundvierzigjähriger Vater hat sich weitgehend aus ihrer Erziehung und ihrer Schulzeit heraus gehalten („wenn du willst, kannst du auf das Gymnasium gehen, klappt das nicht, gehst du eben wieder ab). Ganz anders ihre vier Jahre jüngere Mutter, die sich ihr gegenüber sehr viel bestimmender und ihre Zuneigung und ihre Mithilfe im Haushalt einfordernd verhalten hat („Hausaufgaben kannst du später machen). Dennoch ist ihr der gewünschte Besuch des Gymnasiums leicht gefallen. Dort hat sie Kontakte zu Klassenkameradinnen knüpfen und damit etwas Abstand zu ihrem Elternhaus, der Mutter und der Missstimmung zwischen ihren Eltern gewinnen können.

    Nach allem, was ich im Lauf der Zeit erfahren konnte, ist ihre Mädchenzeit bis in ihr erstes Studienjahr hinein mit einer Ausnahme, ihren Tanzstundenpartner, ohne erste Begegnungen mit Jungen vergangen. Sie hat mir später erzählt, die Schäkereien mit Jungen seien ihr immer zu oberflächlich gewesen, das Verhalten jener sich als Draufgänger benehmenden jungen Burschen habe sie nicht interessiert. Diese Zurückhaltung in ihrer Mädchenzeit ist mir später, als wir uns kennen und lieben gelernt haben, und nachdem ich ihre aufbrechende Sexualität als junge Frau miterlebt habe, durchaus erstaunlich vorgekommen. Obwohl wir zur selben Zeit und an derselben Universität immatrikuliert waren und dasselbe Studienfach gewählt hatten, habe ich von ihren ersten Studienjahren wenig mitbekommen. Wir haben uns selten gesehen und nur oberflächlich gekannt. Welche Achterbahnfahrten ihres Gefühlslebens sie in dieser Zeit erdulden musste, ist mir lange Jahre unbekannt geblieben. Ihre im Anhang befindlichen Tagebucheintragungen aus dieser Zeit geben einen Eindruck davon. Die Existenz dieses Tagebuchs war mir allerdings unbekannt, erst nach ihrem Tod habe ich davon erfahren. Einzig ein paar Andeutungen aus diesen Jahren hat sie mir im Verlauf unseres gemeinsamen Lebens zukommen lassen. Ihre Tagebucheintragungen machen deutlich, wie sehr es in der Tiefe ihrer Seele brodeln konnte und noch gebrodelt hat, als wir aufeinander getroffen sind.

    Meine Erinnerungen an Anna beginnen mit unserem ersten wirklichen Kennenlernen und dem Anfang, Entstehen und Wachsen unserer Liebe. Im weiteren Verlauf des ersten Teils geht es um die mit unserer Liebe aufbrechende Sexualität und die Rolle, die sie in unserer Liebesbeziehung immer fester eingenommen hat. Denn diese herrliche Sexualität im Verein mit ihrer Klugheit, ihrer Intelligenz und ihrem so außerordentlich lieben Wesen ist die Grundlage unserer Liebesbeziehung geworden, einer Beziehung, die bis zu ihrem Tod in unverminderter Stärke angehalten und uns beide befähigt hat, einige Schicksalsschläge zu ertragen. Davon handelt der zweite Teil dieses Buches. Auch im zweiten Teil werden unsere Liebesbegegnungen und deren Schilderungen eine entscheidend wichtige Rolle spielen. Denn ich bin zutiefst überzeugt, ohne diese von uns immer wieder gesuchten wunderbaren und beglückenden Begegnungen wäre es uns nicht gelungen, unser Schicksal gemeinsam in die Hände zu nehmen und neben Lebensabschnitten mit Niederschlägen und Sorgen im Übrigen ein sehr glückliches Leben zu führen. Den Beitrag, den ich zu diesem Leben einzubringen vermochte, mögen andere beurteilen. Den für mich entscheidenden Beitrag Annas zu dieser Gemeinsamkeit in Glück und Unglück, den kann und möchte ich in diesen Erinnerungen allerdings beschreiben, so gut ich vermag.

    Jetzt, zu Beginn meiner Erinnerungen, frage ich mich, auf welche Weise ich vom Charakter unserer tiefen Beziehung einen ersten Eindruck vermitteln kann. Nichts erscheint mir dafür geeigneter als die Schilderung unserer letzten Begegnung vor und meines inneren Zustands unmittelbar nach ihrem Tod.

    ***

    Du hast gehen müssen. Jetzt bin ich allein. Allein mit meiner Trauer, mit meinen Gefühlen und mit meinen Erinnerungen, Erinnerungen an dich, an die Liebe meines Lebens. Das Alleinsein ist neu für mich. Erst in zwei Wochen, wenn meine Familie hier sein und deine Urne beigesetzt wird, wird unser Haus wieder etwas belebt sein. Doch bis dahin, Anna, muss ich begreifen, was es bedeutet, ohne dich leben zu müssen. Sechsundfünfzig Jahre lang bist du für mich da gewesen, sind wir füreinander da gewesen. Und jetzt? Wie soll ich ohne dich weiterleben? Unsere ältere Tochter hat wieder abreisen müssen, nachdem dein Leichnam vom Bestatter abgeholt worden ist. Jetzt sitze ich im Wohnzimmer vor dem leeren Krankenbett, in dem du die letzten Wochen deines Lebens zugebracht hast. Noch brennt auf der Fensterbank die von unserer jüngeren Tochter gezogene große Kerze, die ich aufgestellt und angezündet habe. Morgen würde das Bett abgeholt, hat man mir gesagt. Zusammen mit dem Rollstuhl.

    Dein Tod ist nicht überraschend gekommen. Er hat seit über vier Jahren gedroht, nachdem deine Krebsdiagnose vorgelegen hat. Und nachdem immer deutlicher geworden ist, dass dieser Krebs nicht aufzuhalten ist. Dennoch ist der erste Tag, an dem du nicht mehr da bist, überraschend schnell gekommen. Vorher habe ich mir nicht vorstellen können, was es bedeutet, du bist nicht mehr da. Denn du bist immer da gewesen, ein ganzes Leben lang. Unvergesslich wird mir jene Stunde bleiben, die du wenige Tage vor deinem Tod noch bei vollem Bewusstsein mit mir hast teilen können. In der du mir gesagt hast, ich sei die Liebe deines Lebens. Was für eine wunderbare Liebeserklärung angesichts deines kommenden Todes! Und wie töricht bin ich gewesen, nicht sogleich auf deine Liebeserklärung reagiert zu haben! Warum nur habe ich geglaubt, die Gelegenheit dafür käme noch, warum nur habe ich mich derart von meiner Sorge ablenken lassen, wie es mit dir weitergehen wird! Denn es hat keine Gelegenheit mehr gegeben, dich allein und bei vollem Bewusstsein anzutreffen, um mich in gleicher Weise dir gegenüber erklären zu können. Dabei hätte ich jeden Anlass und jeden Grund dafür gehabt. Wir beide haben in den vergangenen sechsundfünfzig Jahren unglaublich viele wunderbare und intime Begegnungen erlebt, Begegnungen, deren Beschreibung etliche Bücher füllen könnte. Doch die Begegnung vor wenigen Tagen ist die letzte gewesen. Trotz deines kommenden Todes ist auch diese Begegnung von einer Intimität geprägt gewesen, einer Intimität und einem Vertrauen, die sich wie ein roter Faden durch unser gemeinsames Leben gezogen haben.

    Es ist ein herbstlicher Morgen. Du hast etwas geschlafen, ich habe dich mit deinem Morgenkaffee versorgt. Du möchtest nichts essen. Ich habe dann geduscht, habe wie früher den Bademantel übergeworfen, bin wieder ins Wohnzimmer heruntergekommen und habe mich an dein Krankenbett gesetzt. Ich habe dein Bild noch vor mir, wie du mich mit einem Lächeln begrüßt hast. Denn du hast mich schon erwartet. Ich spüre, wie unter uns ein über viele Jahrzehnte gewachsenes Vertrauen und Einverständnis herrscht. Wir wissen, was gleich geschehen wird, wir mögen und wünschen es uns beide. Wir kennen uns in- und auswendig, alles, was zwischen uns geschieht, bedarf keiner weiteren Erklärung. Ich stelle das Kopfteil deines Krankenbettes etwas höher und setze mich dir gegenüber so neben das Bett, dass du mich ohne Anstrengung sehen kannst. Ich nehme deine Hand und führe sie an meine Lippen. Eigentlich möchte ich wie noch wenige Tage zuvor deinen Mund küssen. Doch wegen des Endzustands deiner Erkrankung möchtest du das nicht mehr. Als ich deine Hand halte, merke ich, dass du nicht mehr in der Lage bist, deinen Arm und deine Finger so zu bewegen, wie du das in diesem Augenblick sicher gern tun würdest. Deinen Augen jedoch kann ich ablesen, was du wünschst: mich wie früher nach der Morgendusche zu sehen. So zu sehen, wie ich geschaffen worden bin und wie mein Körper sich im Lauf der vielen Jahre, die wir zusammen gelebt haben, verändert hat. Mein Bademantel ist ohnehin schon leicht geöffnet. Als dein Blick über meinen kaum verhüllten Leib wandert, schlage ich den Bademantel so weit auf, dass du meinen ganzen Körper bequem betrachten kannst. Ich bin mir sicher, dass du mein Verhalten angesichts deines Zustands nicht als unangebracht empfinden wirst. So ist es, du lächelst, während deine Blicke über meinen Körper gleiten, hier und dort ein Weilchen verbleibend. Uns beiden kommen Erinnerungen an frühere Begegnungen in den Sinn. Ich schaue in dein Gesicht und genieße es wie immer, wenn du mit warmem Blick alle für dich sichtbaren Teile meines Körpers betrachtest. Ich lasse dir eine Weile des Anschauens, bevor ich dich frage, ob es recht ist, wenn ich dir etwas vorspiele. Ich weiß, dass meine Frage dich in keiner Weise überraschen wird. Denn das gegenseitige Zuschauen während aller Arten unserer Liebesspiele hat immer wie selbstverständlich zu unseren Begegnungen gehört. Obwohl das, was ich dir jetzt vorführe, in deiner Gegenwart schon sehr oft geschehen ist, fühle ich mich auch jetzt besonders erregt, weil du mir dabei zusiehst. In diesen Minuten befinden wir uns mit unseren Gefühlen wieder in unserer früheren Welt, als du noch gesund warst. Ein Traum! In die Wirklichkeit zurückgekehrt suche ich deinen Blick und finde ein offenes Lächeln deiner Freude, meiner Lust zugesehen zu haben. Nach einer kurzen Zeit der Ruhe versuchst du, meine Hand zu ergreifen, vermagst sie ganz leicht zu drücken und fragst, ob es schön für mich gewesen sei. Auf diese Weise teilst du mir mit, dass es dich freut, mich glücklich und befriedigt zu sehen. Wir können noch eine Weile der Stille genießen, in der meine Gedanken und Gefühle wieder in die Gegenwart zurückkehren, in die grausame Gegenwart deines bevorstehenden Todes. Ich bewundere dich, meine geliebte Anna. Gerade jetzt, wo es dir so sichtbar schlecht geht, und du dennoch wie auch früher für mich da sein willst. Und dann spüre ich, wie sehr ich dich liebe. Und versäume es, dir meine Gefühle in diesem Augenblick mitzuteilen. Ein schlimmes Versäumnis! Denn es wird keinen weiteren Augenblick mehr geben, in dem das möglich ist.

    Jetzt bleibt mir nur noch das allmählich verblassende Bild unserer letzten intimen Begegnung wenige Tage vor deinem Tod. Jetzt muss ich ohne dich weiterleben. Jetzt gibt es nur noch Erinnerungen. Erinnerungen an dich und an unser gemeinsames Leben, an ein Leben, das auf so herrliche Weise mit wunderschönen Gefühlen und intimen Liebeserlebnissen angefüllt gewesen ist. An eine Gemeinsamkeit, die alles in allem sechsundfünfzig Jahre gewährt hat, nachdem wir uns ineinander verliebt haben. Ein Leben, das in diesem großen Zeitraum wunderbare Höhen, aber auch furchtbare Tiefen gesehen hat. Ein Leben, das jedoch in einer ganz wichtigen und für mich entscheidenden Hinsicht immer gleich geblieben ist: in der Art und der Intensität unserer Gefühle füreinander. Denn unser Liebesleben ist die Folge einer großen Liebe, die vor vielen Jahren aus dem Nichts heraus entstanden ist und sich als so stark erwiesen hat, dass ihr auch schlimme Nackenschläge nichts anhaben konnten. Du bist ein ganz besonderer Mensch gewesen, in mancher Hinsicht auch ein ganz besonders starker. Ich habe nie einen liebenswerteren Menschen kennen gelernt. Zur Erinnerung an dich möchte ich von unserem gemeinsamen Leben berichten. Ich darf mir sicher sein, dass du es billigen wirst, wenn meine Erinnerungen auch sehr persönliche und intime Erlebnisse enthalten werden; wenn ich neben Unglücken auch von sehr glücklich machenden Begegnungen berichte, die unser Leben ausgefüllt haben. Ich kann mir deshalb sicher sein, weil ich dich anfangs zwar als einen sich vornehm zurückhaltenden, später jedoch als einen selbstbewussten, seiner Gefühle sicheren und in Liebesdingen völlig freien und souveränen Menschen erlebt habe. Du bist eine Frau, eine Partnerin, eine Geliebte gewesen, die in einer mich immer wieder überraschenden Weise unser Leben zu gestalten gewusst hat. Und du bist eine Ehefrau, Mutter und Großmutter gewesen, die ihre sonstigen Pflichten darüber nie vernachlässigt hat. Ich habe dich geliebt wie sonst nichts auf dieser Welt.

    Teil 1

    Glück

    1

    Als ich Anna kennengelernt habe, haben unsere Familien zwar in verschiedenen, jedoch nicht allzu weit voneinander entfernten Gegenden Deutschlands gelebt. Beide haben wir uns nach unserem Abitur 1958 zu einem Studium entschlossen. Damals existierten viel weniger Hochschulen als heute. Zufälligerweise haben wir beide ein Physikstudium an derselben, von unseren Elternhäusern allerdings weit entfernt liegenden Universität aufgenommen. Für mich ist die Wahl dieser Universität keineswegs zufällig gewesen, denn mein Vater hatte dort schon studiert. Wie ich später erfahren habe, ist für Anna wichtig gewesen, ihr Studium genügend weit vom Wohnsitz ihrer Eltern entfernt aufzunehmen. Für sie hätte es nämlich die eine oder andere Universität gegeben, die ihrem Elternhaus deutlich näher gelegen hat. Zum ersten Mal sind wir uns zum Vorlesungsbeginn im Hörsaal des mathematischen Instituts der Universität begegnet. Ich habe mich allerdings nicht mehr daran erinnern können. Anna hat mir später berichtet, dass es sie durchaus beeindruckt hat, als ich ihr meinen Sitzplatz anbot, nachdem alle Plätze im Hörsaal besetzt gewesen waren. Andere als vollbesetzte Hörsäle haben wir damals gar nicht gekannt, denn wir haben zum ersten großen Schwung neuer Studenten der geburtenstarken Vorkriegsjahrgänge gehört, die damals die wenigen Universitäten überflutet haben. Dazu ein Zahlenbeispiel: Der damalige Hörsaal der anorganischen Chemie hat knapp zweihundert Sitzplätze umfasst, die Anfängervorlesung haben jedoch sechshundert Studentinnen und Studenten belegen müssen.

    In der Folgezeit haben Anna und ich uns in Vorlesungen, Übungen und Praktika gesehen, haben uns aber nicht weiter füreinander interessiert. Von meiner Seite aus ist das nicht verwunderlich gewesen, denn ich hatte zu Anfang meines Studiums noch Kontakt zu einer engen Freundin am früheren Wohnort meiner Eltern. Wie ich später von Anna erfahren habe, hat auch für sie am Wohnort ihrer Eltern noch eine Freundschaft bestanden. Beide Freundschaften haben die ersten Studiensemester jedoch nicht überlebt. Daran sind nicht nur die durch die großen Entfernungen verursachten längeren Trennungszeiten schuld gewesen, dazu haben auch die vielen neuen Eindrücke und Kontakte beigetragen, die mit der Aufnahme des Studiums an einer Universität verbunden sind. Ich erinnere mich, dass mir nach der ersten Verliebtheit in meiner Schulzeit, bei der nicht gerade zu meiner Freude durch Lehrer von zarten Querverbindungen zwischen der Oberprima und der Obertertia geredet worden ist, während der ersten Studienjahre die eine oder andere kleine Freundin oder Bekanntschaft über den Weg gelaufen ist. Es hat jedoch nichts Ernstes daraus werden können. Soweit ich das aus der Ferne betrachtet mitbekommen habe, ist es auch bei Anna nicht viel anders gewesen (was sich sehr viele Jahre später allerdings als unzutreffend herausgestellt hat, siehe ihre Tagebuchauszüge im Anhang). Was mir jedoch bald aufgefallen ist: bei etlichen Kommilitonen und später in den Praktika auch bei dem einen oder anderen Hilfsbremser ist ein gewisses Interesse an Anna zu beobachten. Das habe ich zwar bemerkt und mir gedacht, an dieser jungen Frau ist vielleicht etwas dran, doch weil sie in den ersten Studienjahren kein über das bloße Grüßen hinausgehendes Interesse an mir hat erkennen lassen, hat mich das nicht weiter berührt. Ich habe ja auch genug mit den Schwierigkeiten meiner Studienfächer zu tun und mit der Erkenntnis fertig zu werden, zu Beginn meines Studiums zu jung und zu unreif gewesen zu sein. Wegen der sogenannten Kurzschuljahre und des in meiner Schulzeit durch Wohnungswechsel der Familie bedingten Besuchs von drei Gymnasien in drei verschiedenen Bundesländern ist das bei mir auf ein Abitur als Jüngster hinausgelaufen. Das hat mir aber nicht zu einem Vorsprung verholfen. Was man sich heute kaum noch vorstellen kann: Zu Beginn meines Studiums hat es wegen der noch geringen Anzahl von Universitäten und der aus den geburtenstarken Vorkriegsjahrgängen folgenden Überfüllung naturwissenschaftlicher Studiengänge bei der Zuteilung der wenigen Praktikumsplätze keine Leistungs-, sondern Altersentscheidungen gegeben. Und da bin ich entschieden zu jung gewesen, habe Älteren den Vortritt lassen und auf das nächste oder übernächste Semester hoffen müssen.

    Als Folge meiner Jugend und meiner Unreife ist die erste Studienzeit in einer Weise vergangen, die ich später als eine Zeit erkannt habe, in der Perlen vor die Säue geworfen worden sind, wie man sagt. Wäre ich ein, zwei Jahre älter gewesen, hätte ich manches Studienangebot ganz anders nutzen können. Nach sechs Semestern oder drei Jahren habe ich alle Übungsscheine und Praktikumszeugnisse beisammen und kann die Prüfungen zum Vordiplom Physik antreten. Dazu ist eine Anmeldung beim zuständigen Dekanat erforderlich. Dort hat sich am Anmeldetag für die bevorstehenden Zwischenprüfungen aller mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer durchaus eine kleine Schlange gebildet. Ich habe das Bild noch lebhaft vor mir: nicht weit von mir entfernt hat Anna in dieser Schlange gestanden. Ich habe Zeit genug gehabt, sie zu beobachten und dabei festzustellen, dass sie offenbar allein ist, denn sie hat sich mit keinem ihrer Nachbarn unterhalten. Das hat mich erstaunt. Nachdem ich eine Weile unschlüssig zu ihr hinübergeschaut habe, habe ich mir einen Ruck gegeben und mich zu ihr gesellt. Zwei Gründe haben mich dazu veranlasst: Zum einen hat ihr bleicher, ja fast schon mutloser Gesichtsausdruck mein Herz berührt, und zum zweiten hat mich die Tatsache angetrieben, dass ich noch keinen Kopiloten für meine Prüfungsvorbereitungen habe. Wie sich schnell herausstellt, hat auch sie niemanden, mit dem zusammen sie sich auf die Prüfungen vorbereiten kann. Für sie ist es ohnehin schwer, eine Kommilitonin zu finden, denn es hat damals nur wenige junge Frauen gegeben, die Mathematik oder eine Naturwissenschaft bis zu den Examina studieren (den wenigen Studentinnen hat man nachgesagt, sie wären nicht hier, um Chemie zu studieren, sondern hier, um sich einen Chemiker zu angeln). Wie es dann dazu gekommen ist, uns für die Bildung eines Vorbereitungsteams zu verabreden, ist mir jetzt gar nicht mehr erinnerlich. Hauptsächlich ist es für uns beide wohl die blanke Not gewesen, jetzt kurz vor den Zwischenprüfungen noch ohne Partner für das gemeinsame Lernen dazustehen. Wie Anna mir später erzählt hat, ist unser Treffen vor dem Dekanat auch ein Glück für sie gewesen, denn so beliebt, wie sie bei den Kommilitonen aus den Anfangssemestern gewesen ist, so allein hat sie nachher vor ihrer Vordiplomprüfung dagestanden.

    Unsere ersten Vorbereitungstreffen haben bei besserem Wetter draußen, bei kaltem oder schlechtem Wetter in Übungsräumen im mathematischen Institut stattgefunden.

    Dort ist es uns aber zu voll und zu laut geworden. In die Lesesäle haben wir nicht gehen können, weil wir zu diskutieren hatten. Daran, uns in unseren Studentenbuden zu treffen, haben wir zunächst gar nicht gedacht. Nicht nur, weil das unseren jeweiligen Freunden vorbehalten war; auch deshalb, weil das damals nicht üblich gewesen und von den Vermietern gar nicht gern gesehen worden ist. Meine weiter außerhalb gelegene Studentenbude ist zudem winzig, primitiv und nicht vorzeigbar gewesen. So haben wir unter Bedingungen üben müssen, die nicht gerade als günstig zu bezeichnen sind. Bis Anna sich gegen Ende unserer Vorbereitungszeit erbarmt hat. Weil sie im Stadtzentrum eine gemütliche Studentenbude hat mieten können, die räumlich getrennt von der Wohnung ihrer Vermieterin liegt, hat sie mich zum Üben zu sich eingeladen.

    Schon nach den ersten Übungstreffen habe ich bemerkt, welche mir sympathischen menschlichen Eigenschaften sie hat: auf der einen Seite ihre Furcht vor einer schweren Prüfung, auf der anderen Seite ihr Mut, eine solche Prüfung anzugehen. Wir beide haben uns zwar bei verschiedenen vorherigen Veranstaltungen gesehen, nie jedoch einen persönlichen Kontakt aufgenommen. Deshalb hat die Zeit unseres ersten wirklichen Kennenlernens ausschließlich unter dem Diktat: gemeinsames Üben für die Vordiplomprüfung gestanden. Diese Prüfung ist eine rein mündliche Prüfung, bestehend aus vier Einzelprüfungen, für uns beide in den Fächern experimentelle Physik, theoretische Mechanik, Mathematik und anorganische Chemie. Uns beiden ist bewusst: Vor dieser Prüfung sind wir zwei nicht Existierende aus dem Niemandsland, nach einer erfolgreichen Prüfung sähe das ganz anders aus, denn dann dürfen wir uns Kandidaten der Physik nennen. Entsprechend klar sind uns die Bedeutung dieser Prüfung und der Ernst gewesen, mit dem wir uns vorbereitet haben. Mein Studienziel ist das Physikdiplom. Da ist die Vordiplomprüfung der erste notwendige Schritt. Mit welchen Erwartungen Anna in diese Prüfung gegangen ist, habe ich erst später erfahren. Heutzutage wohl völlig unüblich, damals aber Gewohnheit: Alle vier mündlichen Prüfungen sind Einzelprüfungen und finden am selben Tag statt. Daher muss man genau an diesem Tag fit sein.

    In der Zeit unserer gemeinsamen Vorbereitungen auf diesen Prüfungstag habe ich Anna von ihrer offiziellen Seite her kennen gelernt, also jenen Menschen in ihr, der sachlich arbeitet. Und das hat mir sehr gefallen. Hinzu kommt mein Empfinden, dass sie gern mit mir zusammenarbeitet. Zu den letzten Übungseinheiten vor dem Prüfungstag haben wir uns schon so gut kennengelernt und aufeinander eingestellt, dass ich mir erlaubt habe, sie während eines Erholungsspaziergangs an der Hand zu halten. Für mich ist das irgendwie selbstverständlich gewesen, ich habe mir auch gar nichts dabei gedacht, sie allerdings schon (siehe ihre Tagebucheintragung vom 29.09.1961). Sie hat mir ihre Hand jedoch nicht entzogen. Dann ist der Prüfungstag da. Am Morgen dieses Tages haben wir beide noch recht mitgenommen ausgesehen. Ganz anders jedoch am Ende dieses Tages. Beide haben wir die Prüfungen in allen Fächern bestanden und sind mit den Prüfungsergebnissen, die wir erreicht haben, zufrieden. Noch bevor wir uns zum Feiern für den Abend verabreden, versichern wir einander mit einer kurzen Umarmung, wie sehr uns unsere gemeinsamen Vorbereitungen auf diese Prüfungen geholfen haben.

    Es versteht sich von selbst, dass wir uns in diesen Wochen nicht nur besser kennengelernt haben, sondern auch dem Menschen auf der anderen Seite näher gekommen sind. Das zeigt sich am Abend des Prüfungstages während unserer Feier zusammen mit Freunden im damals einzigen Tanzlokal der Universitätsstadt. Mit dem Hochgefühl eines erfolgreichen Zwischenexamens tanzen wir miteinander wie auf Wolken schwebend. Nie zuvor in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen! Anna vermutlich auch. Es bleibt nicht bei einem kurzen Glückwunschküsschen, das wir zuerst austauschen. Im Verlauf des Abends haben wir uns im Rausch unseres Erfolges zum ersten Mal wirklich geküsst. Womöglich haben wir uns nach diesem ersten Kuss überrascht angesehen, doch dann müssen wir uns noch einmal küssen. Und dann noch einmal. Wie herrlich das ist! Nicht nur ich, auch sie scheint Gefallen daran zu finden. Wie ich im weiteren Verlauf des Abends

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