Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann?: Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache - Teil 2
Von Jürgen Lang
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Über dieses E-Book
In Teil 1 der Reihe wird der Frage nachgegangen, warum die deutsche Sprache als schwer und schwierig gilt und ob sie wirklich schwer und schwierig ist. Wenn es x Wortarten gibt, machen dann alle Ärger? Im zweiten Teil wird in den Tiefen der deutschen Sprache erkundet, warum die Grammatik so funktioniert, wie sie funktioniert und was passiert, wenn wir die Funktionen und das Funktionieren ignorieren. Auch im dritten Teil ist das Ignorieren ein wichtiger Aspekt und das in mehrfacher Hinsicht. Ignoriert die Sprache wirklich die Geschlechter einiger Mitmenschen oder ignorieren einige Mit-menschen bei den Geschlechtern die Grammatik der Sprache?
Jürgen Lang
Jürgen Lang, Jahrgang 1968, Magisterstudium der Politikwissenschaft, Neueren deutschen Literaturwissenschaft und Germanistik, ist seit nunmehr über 20 Jahren im Bereich der Unternehmenskommunikation und als Autor tätig. Unabhängig. Überparteilich. Kaffeevernarrt. Zöliakiebetroffen.
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Buchvorschau
Warum wandert ein Wanderfalke, wenn er doch fliegen kann? - Jürgen Lang
Aus den (Un)Tiefen der deutschen Sprache
Ein chaotisches Genus, eine Deklination für Kandidaten fürs Irrenhaus, Regeln mit mehr Ausnahmen als Beispiele für die Regel und Satzklammern mit dem Verb auf der nächsten Seite. Nicht nur deshalb hält Mark Twain in seinem Essay »Die schreckliche deutsche Sprache« fest:
„Der Erfinder dieser Sprache scheint sich einen Spaß daraus gemacht zu haben, sie in jeder erdenklichen Weise zu verkomplizieren."
Im ersten Teil der Buchreihe über »Die vergessene Leichtigkeit der deutschen Sprache« habe bereits herausgefunden, dass die deutsche Sprache keineswegs
„derart unordentlich und systemlos daherkommt und dermaßen jedem Zugriff entschlüpft",
wie Twain es darstellt, sie aber auch kein Paradebeispiel für die Leichtigkeit einer Sprache ist, da hier die eine oder andere Zuordnung durch den Sprachwandel verloren geht und dort irgendwelche Kriterien an die menschliche Vorstellung angepasst werden und einige Wortformen sich sogar nur noch mit dem Untergang ihres ursprünglichen Systems im Laufe der Sprachepochen erklären lassen.
Nun ist eine Grammatik immer dann einfach und geordnet, wenn die Bildung der Wortformen einem klar erkennbaren System folgt, mit Regelmäßigkeiten logisch aufgebaut ist und nachvollziehbar hergeleitet werden kann. Nur ist das in der deutschen Sprache – und generell einer Sprache – leider nicht durchgängig der Fall und so ist die Grammatik vor allem dann kompliziert, wenn sich eine Änderung im System oder gar der Untergang eines Systems in der Sprachgeschichte heute auf die üblichen Wortformen auswirkt. Dabei sind die meisten der ständig verwendeten Konstruktionen als etablierte Konventionen der Sprachgemeinschaft allerdings historisch gewachsen und erklärbar. Doch die Bedeutung von Wörtern wandelt sich, ebenso ändern sich Wortbildung, Wortformen und Wortstellung. Deshalb kann ich die Sprache nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachten, ebenso bedeutend ist die historische Entwicklung.
Letztlich ist die Grammatik in ihrer Gesamtheit aber kein großes einheitliches System, sondern vielmehr ein Ordnungsprinzip aus ineinandergreifenden Systemen – wobei zu konstatieren ist, dass das Ineinandergreifen der Systeme nicht immer reibungslos funktioniert, hin und wieder ins Stocken gerät und manchmal auch aus dem Ruder läuft. Das liegt aber weniger am Gesamtsystem der Sprache, als vielmehr an den Anwendern im Hier und Jetzt und in den jeweiligen früheren Sprachepochen.
Zwar lässt sich in der Regel mit der Vergangenheit kaum etwas für die Gegenwart beweisen, die eine oder andere Ursache für eine Ordnung oder scheinbare Unordnung findet sich aber in einer der Sprachen, die als Vorläufer des Deutschen gelten. Mit dem Blick in die Sprachgeschichte und auf die historischen Randbedingungen werden diese Dinge zumindest verständlicher. Wie zum Beispiel die unerklärliche Zuordnung der Genuskategorien. Heutzutage wird hier gern das reine Chaos vermutet, doch das Genus entsteht im Indogermanischen und ist systematisch – und wie sich zeigen wird, funktioniert sein System trotz seines Alters von weit über 4000 Jahren noch heute bestens. Gleiches gilt für die Stammformen der Verben. Am Infinitiv ist scheinbar nicht erkennbar, ob ein Verb schwach oder stark ist, doch der Schein trügt und welches Verb stark ist und seine Stammformen mit welchem Ablaut bildet, ist genau geregelt und im Unterschied zu den Substantiven sogar sehr wohl erkennbar.
Die Grammatik wird schwierig, wenn eine Konstruktion aus einem Konstrukt der eigenen Logik oder Erwartung in die Quere kommt und sie wird komplex – also quasi kompliziert plus schwierig – und kaum mehr erklärbar, sobald wir Anwender etwas für richtig halten oder für falsch erklären, weil es sonst nicht so ist, wie es unsere Erwartung gerne sieht oder gerne hätte. Aus diesem Gedankenkonstrukt heraus sollen Dinge passend gemacht werden, die nicht passen können. Bleiben beim Aufstellen von Regeln und Theorien oder dem Herleiten von Wortformen die Vorgänge zum Entstehen der deutschen Sprache als Ausgleichssprache unberücksichtigt oder werden sie falsch ausgelegt, führt der Weg meist direkt zu einem Denkfehler. Es ist nun einmal so, dass wenn die Ausgangslage falsch ist, jedes auf ihr basierende Resultat ebenfalls falsch sein muss. Dann wird das angesammelte und unbewusst verwendete Sprachwissen bewusst ignoriert und durch eigene Konstrukte quasi überschrieben. So wird beim Genus verzweifelt das Männliche oder Weibliche gesucht, weil wir Männer und Frauen das Wichtigste auf der Welt sein müssen. Und doch sind und bleiben es nur passend gemachte Denkfehler.
Viele Fallen lauern dort, wo die Wortarten wegen der Systeme nicht eindeutig bestimmbar sind oder sich bestimmte Konstruktionen scheinbar ergeben, wie zum Beispiel die Voraussetzungen für eine Substantivierung oder Wortkomposition. Alle Kriterien scheinen erfüllt und schon ist ein Wort zusammengesetzt oder großgeschrieben. Das ist dann Pech, wenn überhaupt keine Substantivierung vorliegt oder eine Zusammensetzung gar nicht möglich ist, weil die Bedeutung der Wörter nicht beachtet oder falsch ausgelegt wird.
Das Sprechen ist – wie auch später das Schreiben – eine Handlung, die wir Menschen erst erlernen müssen, wie das Sitzen, das Gehen oder das Laufen auch. Wenn wir es dann können, das Sitzen, Gehen, Laufen, Sprechen und Schreiben, führen wir es ohne bewusstes Nachdenken aus. Wir machen uns also keine Gedanken über eine Wortart, den Satzbau, eine Schreibweise oder eine Regel der Grammatik.
All die Dinge sammeln und speichern wir als Wissen ab. Erst wenn wir über ein Wort oder eine Wortform stolpern, setzt das Denken – insbesondere in Bezug auf die Grammatik – ein:
Backte die Tochter einen Kuchen oder buk sie einen Kuchen und melkte der Bauer seine Kuh oder molk er seine Kuh und hat das Kind zum Abschied gewinkt oder hat es gewunken?
Obwohl es nur ein Heiligabend gibt, feiern wir nicht Weihnacht, sondern alle Jahre wieder Weihnachten. Ein Buch kaufen wir nicht in der Bücherhandlung, sondern in der Buchhandlung, stellen es nach dem Lesen aber nicht ins Buchregal, sondern ins Bücherregal.
Der leckere Obstverkäufer am Marktstand ist falsch wegen des Bezugs, beim Bürgerlichen Gesetzbuch ist der Bezug ebenso falsch, was uns aber nicht interessiert.
Erst jetzt gilt es, die jeweiligen Zusammenhänge zu erkennen, gegebenenfalls die historischen Abläufe und Entwicklungen nachzuschlagen sowie die Systeme herzuleiten und nachvollziehen zu können. Sonst fragen wir uns, warum ein Wanderfalke eigentlich wandert, wenn er doch fliegen kann.
Eine andere Quelle für einen Denkfehler ist der situativ motivierte Sprachgebrauch. Wir meinen, dass eine Wortform oder eine Formulierung in einer Situation besser klingt. So bestellen wir in einer Pizzeria zwei Pizzen aus dem heißen Steinofen, da die Pluralform Pizzen im Gegensatz zu Pizzas bestimmt viel italienischer und originaler ist und ein Steinofen ebenso bestimmt nie heiß genug sein kann.
Aber auch jede motivierte Verwendung von Wörtern ist in der Regel nicht nur überflüssig, sondern führt letztlich nur zu einem Fehler.
Die Pluralform Pizzen kann nicht richtig sein, weil erstens die Substantive, die auf a, i, o oder u enden, den Plural im Deutschen regelmäßig mit einem s bilden – also Pizzas – und zweitens der Plural von Pizza nur als klassisches Pseudoitalienisch Pizzen lautet, im Italienischen aber Pizze. Nun sind unsere italienischen Mitbürger so nett, unseren Sprachunsinn zu akzeptieren und uns dennoch zwei Pizze oder Pizzas zu servieren. Und dass die nicht in einem kalten Steinofen gebacken werden, ist offensichtlich.
Wie tief also sind die Untiefen der deutschen Sprache wirklich? Wann ist die deutsche Sprache einfach, wann kompliziert und wann schwierig? Und wo kommen die Untiefen her und wie kommen die Schwierigkeiten überhaupt zustande?
Von theodiskus über diutisk zu deutsch
Zunächst schaue ich, wie weit die Tiefen der deutschen Sprache reichen, ihr Sprachraum erstreckt sich immerhin über mehrere Länder mit einer jeweils eigenen Historie. Beginnt alles im Jahr 786, als der Nuntius Georg von Ostia über die Synode – eine Versammlung von Bischöfen – in England berichtet, dass gefasste Beschlüsse in „latine quam theodisce" verlesen werden – auf latein und in der Volkssprache –, damit sie jeder verstehen könne?
Zumindest gilt dieser Bericht als einer der ältesten – für nicht wenige Sprachwissenschaftler auch als der älteste – Nachweis für die Verwendung des lateinischen Wortes theodiscus. Abgeleitet vom indogermanischen Wort teutā – das bedeutet so viel wie eine große Menge Menschen – wird es in der Bedeutung Volkssprache und vermutlich als Abgrenzung zur beim Klerus vorherrschenden lateinischen Sprache verwendet. Ein gut zwei Jahre jüngerer Fund gilt als Beleg für die Existenz der Volkssprache. Der wegen Fahnenflucht in Ungnade gefallene baierische Herzog Tassilo wird 788 von König Karl dem Großen des Hochverrats bezichtigt, in dem lateinischen Text der Anklageschrift heißt es: „… quod theodisca lingua ‚harisliz‘ dicitur … was in der Sprache des Volkes ‚harisliz‘ heißt". Während beim Nuntius Georg von Ostia mit der theodisca lingua wahrscheinlich die altenglische Sprache gemeint ist, ist es bei Karl dem Großen die altdeutsche. Die Annahme ist sehr plausibel, da die altenglische und die altdeutsche Sprache aus der westgermanischen Sprachgruppe entstehen, deren Komplexität ein einzelnes Wort wie das lateinische theodiscus nicht fassen kann. Das wiederum hängt vor allem mit dem Begriff Germanen und dem zu dieser Zeit fast vollständigen Untergang der germanischen Sprachen zusammen.
Um die Zusammenhänge verstehen zu können, muss ich in der Zeit noch ein kleines Stück weiter zurückgehen und in das Jahr 1 unserer Zeitrechnung schauen. An der Schwelle von vor Christus zu nach Christus – oder vor unserer Zeit zu nach unserer Zeit – erstreckt sich das römische Imperium komplett über den westeuropäischen Kontinent, grob gesehen ist der Rhein die Grenze zu den Gebieten in Mittel- und Nordeuropa, die bei den Römern Germania heißen. Vermutlich geht die Bezeichnung auf den bei den Römern bekannten griechischen Philosophen Poseidonius zurück, der 85 vor Christus die Germanoi erwähnt, aber weder die gemeinte Volksgruppe oder deren Gebiet, noch die Bezeichnung ansich genauer definiert. Die erste historisch relevante Beschreibung ist somit Gaius Julius Cäsar vorbehalten, der nicht nur die Römer und die Germanen mit seinen Feld- und Eroberungszügen zu Nachbarn macht, sondern in seinen »Commentarii de bello Gallico Kommentare über den Gallischen Krieg« auch ausgiebig über die Germanen schreibt. Noch ausführlicher ist die Beschreibung des römischen Historikers Tacitus in seiner Schrift »Germania« aus dem Jahr 100. Beide, Cäsar und Tacitus, erwähnen die Germanen sowohl als eine große Gesamtheit, berichten aber auch von verschiedenen Stämmen.
Von den Germanen wissen die Römer spätestens seit dem Jahr 113 vor Christus, als die Kimbern mit den Teutonen auf ihren Wanderungen und Eroberungszügen ein römisches Heer besiegen und in Rom für Angst und Schrecken sorgen. Das wissen wir heute ziemlich genau, weil die Römer zu dieser Zeit bereits seit sechs Jahrhunderten Schriften verfassen und hinterlassen. Viel mehr wissen wir aber nicht, denn es fehlen direkte Quellen, da die Germanen keine Schriftsprache kennen und haben. Zu den verwendeten Runen komme ich gleich.
Vor den Römern siedeln die Kelten im Westen und Nordwesten Europas. Denen sind andere Völker rechts des Rheins bekannt, da sie sich auf früheren Wanderungen nachweislich vermischen. Aber auch die Kelten hinterlassen keine schriftlichen Belege, da auch sie keine Schriftsprache kennen.
Somit ist das Jahr 113 vor Christus das älteste solide Datum zu den Germanen. Es existieren zwar frühere archäologische Funde, die haben aber eine eingeschränkte Aussage- und Beweiskraft und liegen für die meisten Historiker im geschichtlichen Dunkel. Schon die Heimat der Kimbern und Teutonen im Norden Mitteleuropas ist eine Vermutung, ebenso ihr Aufbruch im zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Überhaupt können Historiker mit dem Begriff Germanen nur sehr wenig anfangen, da