Wort – Satz – Sprache: Eine Hinführung zur Sprachwissenschaft
Von Kristian Berg
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Buchvorschau
Wort – Satz – Sprache - Kristian Berg
Vorwort
Dieses Buch soll Lust auf Sprachwissenschaft machen, Werbung für eine faszinierende Disziplin, die sich mit etwas beschäftigt, das für uns alle zentral ist: die Sprache. Auf dem Gebiet der Sprache sind alle Experten und können mitreden. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, können Sie, das ist der Unterschied, fundiert an Debatten über die Sprachverwendung teilnehmen, weil sie die Grundpositionen und Zugriffsweisen derjenigen Wissenschaft kennen, die sich schon seit hunderten Jahren systematisch mit Sprache beschäftigt.
Wer soll dieses Buch lesen? Grundsätzlich alle, die sich für Sprache interessieren; alle, die sich schon immer gefragt haben, ob das Deutsche vor die Hunde geht (kurze Antwort: nein), ob es Samstag heißt oder Sonnabend, oder was so toll an Kafka sein soll. Vorkenntnisse sind nicht notwendig; alle Fachbegriffe und Werkzeuge werden an Ort und Stelle entwickelt.
Dieses Buch richtet sich außerdem an alle, die sich für Sprache interessieren sollten – damit sind Studierende der Germanistik, Anglistik, Romanistik und anderer Philologien gemeint, die ihr Studienfach aus Interesse für die Beschäftigung mit der Literatur gewählt haben. Das Medium der Literatur ist die Sprache, insofern sollte es eigentlich nicht überraschen, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Medium ein Teil des Deals ist. Das ist aber leider genau, was häufig passiert, und die Studierenden kehren vom ersten Zusammentreffen mit der Linguistik halbwegs traumatisiert zurück. Das muss nicht sein. Dieses Buch soll auf die Linguistik vorbereiten, zur Linguistik hinführen, Interesse wecken – und im Idealfall aus angehenden Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern auch ambitionierte Linguistinnen und Linguisten machen.
Die Auswahl der Themen ist eklektisch. Jedes Kapitel behandelt ein Thema, das ich selbst faszinierend finde. Es gibt aber Dutzende andere Bereiche, die ich hier vernachlässigen muss, die aber mindestens ebenso interessant sind wie die hier vorgestellten, z.B.: Wie wird Sprache im Gehirn verarbeitet? Wie funktioniert automatische Autorschaftserkennung? Was macht die Intonation, und in welchem Verhältnis steht sie zur Grammatik? Wie lernen Kinder Wörter, wie lernen sie syntaktische Strukturen?
Die Linguistik besteht aus vielen unterschiedlichen Teildisziplinen. Phonetik und Phonologie kümmern sich um die Lautstruktur der gesprochenen Sprache und ihre Funktion; die Graphematik ist ihr Pendant für die geschriebene Sprache. Die Morphologie untersucht den internen Aufbau von Wörtern, die Syntax den Aufbau von Sätzen. Semantik und Pragmatik beschäftigen sich mit der Bedeutung von Wörtern und Äußerungen. Die Psycholinguistik untersucht, welche Prozesse bei uns ablaufen, wenn wir Sprache nutzen; die Sprachgeschichte beschäftigt sich mit, nun, der Geschichte der Sprache.
Anders als in den einschlägigen Einführungsbüchern werden hier aber nicht die einzelnen Ebenen durchschritten. Schließlich handelt es sich um eine Hinführung zur Sprachwissenschaft, da können wir uns den Luxus leisten, uns interessante Aspekte wie Rosinen herauszupicken und die Disziplingrenzen zu ignorieren. Dennoch kommen alle Disziplinen zu ihrem Recht, und am Ende des Buches haben Sie nebenbei Grundkenntnisse in Phonologie, Morphologie, Syntax etc. erworben. „Nebenbei" deswegen, weil die Vermittlung dieser Grundkenntnisse nur Mittel zum Zweck ist, um die vorgestellten Phänomene besser beschreiben zu können. Und unabhängig davon, ob überhaupt irgendwelche Werkzeuge oder Kompetenzen hängenbleiben – meine Hoffnung ist, dass Sie am Ende verstehen, warum die Linguistik eine spannende Wissenschaft ist, und dass Sie mehr wissen wollen.
Welchen Weg Sie durch dieses Buch wählen, ob Sie es von vorne bis hinten lesen oder kreuz und quer, bleibt Ihnen überlassen. Wenn ein Kapitel zum Verständnis eines anderen Kapitels notwendig oder hilfreich ist, wird das jeweils vermerkt.
An dieser Stelle darf ich auch noch einigen Personen danken, die mir bei diesem Buch geholfen haben. Tillmann Bub vom Narr Verlag hat das Projekt sehr geduldig begleitet; Nanna Fuhrhop, Cedrek Neitzert, Jonas Romstadt, Jan Seifert, Niklas Schreiber, Theresa Strombach und Claudia Wich-Reif haben Teile des Buches freundlicherweise kritisch gelesen und kommentiert.
Bonn, im Januar 2023 Kristian Berg
1 Die Grenzen ausloten: Neue Wörter
Warum brauchen wir neue Wörter, obwohl es schon so viele gibt? Wie wird der Bedarf gedeckt? Was macht ein Wort erfolgreich?
Man könnte den Eindruck haben, dass wir vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Wenn wir sprechen lernen, ist die Sprache schon lange fertig. Wörterbücher und Grammatiken sind gedruckt. Die Sprachgemeinschaft, in die wir geboren werden, hat alles bereits ausgehandelt. Wir haben kaum Mitspracherecht und müssen uns fügen, wenn wir so kommunizieren möchten, dass wir verstanden werden wollen. Natürlich können wir statt Hund auch „Brims" sagen; niemand kann uns das verbieten. Wenn wir allerdings verstanden werden wollen, müssen wir die üblichen Formen nutzen, und die üblichen Formen sind alt – oft sehr, sehr alt.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die meisten Wörter stehen zwar fest; das Deutsche erweitert seinen Wortschatz dennoch. Um solche neuen Wörter geht es in diesem Kapitel: Warum brauchen wir sie überhaupt, und woher bekommen wir sie? Welche neuen Wörter setzen sich durch, welche nicht?
Wortschätze Durchschnittliche erwachsene Sprecherinnen und Sprecher des Deutschen kennen wahrscheinlich zwischen 25.000 und 250.000 Wörter. Das ist der sogenannte passive Wortschatz, also Wörter, die im Gehirn gespeichert sind und die verstanden werden.
Passiver, aktiver und kollektiver Wortschatz
Der Umfang des passiven Wortschatzes variiert aus zwei Gründen so stark. Erstens hängt er entscheidend davon ab, was und wieviel die Personen lesen, was sie beruflich machen usw. Und zweitens ist die Sprachwissenschaft uneins; unterschiedliche Methoden kommen zu sehr unterschiedlichen Inventaren. Was heißt es denn überhaupt, ein Wort zu kennen? Reicht es, ein Wort einmal gehört zu haben? Zweimal? Dreimal? Muss man in der Lage sein, die Bedeutung anzugeben? Je nachdem, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, ist der Wortschatz größer oder kleiner. Wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass das mentale Lexikon (also das „Wörterbuch" in unserem Kopf) keine scharfen Grenzen hat. Wir wissen z.B., dass schon sehr wenige Begegnungen mit einem neuen Wort ausreichen, um eine Spur im Gehirn zu hinterlassen (streng genommen muss schon die erste Begegnung einen Effekt haben; ansonsten wäre die zweite Begegnung die erste, hätte auch keinen Effekt, man bräuchte die dritte etc. – so wäre Lernen unmöglich, vgl. z. B. Goldberg 2019: 13f.).
Der passive Wortschatz ist der Wortschatz einer Person. Wir können aber auch den Wortschatz einer ganzen Sprachgemeinschaft untersuchen; dieser Wortschatz wird der kollektive Wortschatz genannt. Es ist der Wortschatz von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, von Jugendlichen; der Wortschatz der Quantenmechanik und der Kraftfahrzeugmechatronik, der Forstwirtschaft und der Epidemiologie. Kurz: Der kollektive Wortschatz ist die Summe aller einzelnen Wortschätze, die wir in einer Sprache identifizieren können. Das heißt aber auch, dass es niemanden gibt, der alle Wörter des kollektiven Wortschatzes kennt und verwendet. Er ist um ein Vielfaches größer als die passiven Wortschätze einzelner Sprecherinnen und Sprecher. Der kollektive Wortschatz des Deutschen umfasst wahrscheinlich einige Millionen Wörter (vgl. z. B. Ulrich 2011: 33). Der aktive Wortschatz hingegen ist deutlich kleiner und lässt sich viel genauer bestimmen als der passive oder der kollektive Wortschatz. Goethe z.B. hat im Laufe seines langen Lebens in all seinen Schriften etwa 90.000 verschiedene Wörter genutzt (ob er mehr und vor allem andere Wörter gesprochen hat, ist eine interessante Frage – das werden wir aber wohl nie erfahren).
Obwohl wir also als Sprachgemeinschaft über Millionen von Wörtern verfügen, stößt unser Vokabular oft an seine Grenzen und muss erweitert werden. Motivation für neue Wörter Der naheliegendste Grund ist, dass wir etwas Neues benennen möchten. Das kann eine konkrete technische Erfindung sein (wie Mikrochip) oder ein neues abstraktes Konzept, mit dem wir unsere Welt besser beschreiben können (wie Coronakrise oder Gentrifizierung) – oder etwas ganz anderes (z.B. ein neuer Tanzstil wie twerken). In diesen Fällen brauchen wir neue Wörter, weil sich die Welt weiterentwickelt und wir das Bedürfnis haben, alles sprachlich zu bezeichnen und zu gliedern.
Anders liegen die Dinge, wenn es schon etablierte Wörter für Konzepte, Sachen oder Personen gibt, wir sie aber als diskrimierend empfinden. Stattdessen nutzen wir unbelastete neue Wörter wie Haushaltshilfe (statt Putzfrau) oder Migrant (statt Ausländer) und versuchen so, die Benannten sozial aufzuwerten.
Noch häufiger als diese Fälle sind solche, bei denen es um Informationsverdichtung in Texten geht: Es ist deutlich knapper und sparsamer, wenn man von einer Gewinnbeteiligungsstrategie schreibt statt von einer Strategie, um Mitarbeiter an Gewinnen zu beteiligen:
Diese Informationsverdichtung ist charakteristisch für die geschriebene Sprache, vor allem für Fachtexte. Auf die Spitze getrieben wird sie in extrem langen Wörtern wie dem (zu notorischer Bekanntheit gelangtem) Rinderkennzeichnungs- und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, einem der längsten tatsächlich verwendeten Wörter des Deutschen (63 Buchstaben). Hier wird gleichzeitig der Nachteil der Verdichtung deutlich: Je länger die Wörter, desto schwieriger sind sie zu verarbeiten.
Verwandt mit dem Bedürfnis nach Verdichtung ist das Bedürfnis nach Flexibilität: Manchmal passt ein Adjektiv syntaktisch einfach besser und eleganter in den Textzusammenhang als das entsprechende Substantiv, manchmal braucht man eher ein Verb als ein Adjektiv – und dann können wir neue Wörter „erschaffen", die aber eigentlich nicht wirklich neu sind, wie z. B. das Wort Suhrkamphaftigkeit im folgenden Beleg:
Hier wird ein Buch über Popkultur besprochen, das im Suhrkamp-Verlag erscheint, und der Autor bemängelt, dass der Stil der Beiträge zu sehr dem anderer Suhrkamp-Veröffentlichungen ähnele, dass er zu suhrkamphaft sei. Dieses Adjektiv ist bereits 1977 belegt; es scheint also etwas an Suhrkamp-Texten zu sein, das charakteristisch ist und das bezeichnet werden will. Nun hätte der Verfasser einfach dieses Adjektiv verwenden können, z. B. auf folgende Weise: „So ließe sich noch eine Weile weiter herummäkeln, z. B. daran, dass die einzelnen Beiträge aufgeblasen-betulich-suhrkamphaft sind". Mit der Substantivierung Suhrkamphaftigkeit ist der Verfasser aber besser in der Lage, die übrigen Adjektive anzubinden – und außerdem braucht er nicht die etwas umständliche Korrelatskonstruktion daran, dass. Neue Wörter können also auch den syntaktischen Bedürfnissen entgegenkommen, sie schmieren die syntaktische Maschine.
Wir haben also aus ganz unterschiedlichen Gründen einen ständigen Bedarf an neuen Wörtern. Nisten sich neue Wörter in unserem Lexikon ein, werden sie auch als Neologismus Neologismen bezeichnet – zumindest, so lange Sprecherinnen und Sprecher sie für neu halten, solange sie also einen Neuwortgeruch verströmen.
Zum Begriff: Neologismus
Der Begriff Neologismus war selbst mal einer, nämlich eine Übertragung des französischen Neologismus’ néologisme, der wiederum eine Lehnwortbildung aus gr. néos + logos ist, was (wenig überraschend) ‚neues Wort‘ bedeutet. Der Begriff Neologimus war bis ins 20. Jahrhundert negativ besetzt. Es wurde benutzt, um vermeintlich überflüssige Wörter zu bezeichnen, die die schöne deutsche Sprache verwässern.
Wie wird der Bedarf gedeckt, wie kommen wir an neue Wörter? Das kann prinzipiell auf drei Wegen geschehen, durch Wortschöpfung, Entlehnung oder durch Wortbildung.
Mit Wortschöpfung Wortschöpfung ist gemeint, dass ein Wort nicht einfach aus vorhandenen Teilen neu zusammengesetzt wird, sondern dass es komplett neu erfunden wird. Diese Art, den Wortschatz zu erweitern, ist heute extrem selten und vor allem auf Markennamen beschränkt (z.B. Obi, Lanxess, Novartis). Die Markennamen werden dabei tatsächlich am Reißbrett ‚entworfen‘, und mit erfolgreicher Wortschöpfung kann man reich werden. Die Namenskandidaten werden ausgiebig an der Zielgruppe getestet. Sie müssen angenehm klingen und gegebenenfalls an positiv besetzte Wörter erinnern. Gleichzeitig sollte geprüft werden, ob der Name in anderen Sprachen bereits als Wort existiert. Sonst läuft man Gefahr, dass die positiven Aspekte und die Neuheit des Namens überlagert werden, wie beispielsweise beim Audi A3 e-tron: Im Französischen gibt es ein sehr ähnliches Wort (étron) mit einer sehr negativen Bedeutung (‚Kothaufen‘).
Wortschöpfungen muss man im heutigen Deutsch mit der Lupe suchen, so selten sind sie. Aber gehen nicht alle Wörter ultimativ auf Wortschöpfungen zurück, wenn wir nur weit genug in die Vergangenheit schauen? Irgendjemand muss sie schließlich irgendwann zum ersten Mal geäußert haben, und zwar ohne Vorbild. Das mag sein – aber leider wissen wir so gut wie nichts über die Ur-Ursprünge unserer Wörter. Diese Zeit liegt sehr weit vor der Erfindung der Schrift, und damit in einem undurchdringlichen Nebel, und das wird wahrscheinlich so bleiben. Wir können aber viele Wörter sehr weit zurückverfolgen, einige bis etwa 3000 v.Chr. (→ Kap. 9). Und in dem Zeitraum, der dokumentiert ist, sehen wir, dass Wörter ständig ihre Gestalt ändern, und dass neue Wörter durch Kombination existierender Teile und Übernahme aus anderen Sprachen entstehen. Manchmal werden neue Wörter auch an bestehende Wörter angelehnt (so wurde z. B. das bestehende Wort Dreiling im 16. Jahrhundert durch das neuere Wort Drilling verdrängt, weil Zwilling als Vorbild so häufig war). Eine Erfindung von Wörtern ganz ohne Vorbild, eine ‚Urschöpfung‘ also, bleibt dabei stets die Ausnahme.
EntlehnungDeutlich häufiger ist der Fall, dass neue Wörter aus einer fremden Sprache entlehnt werden:
Abb. 1: Tweet mit Lehnwort tweeten
Das Verb tweeten (wörtlich: ‚zwitschern‘) stammt aus dem Englischen. Allerdings ist getweetet so aufgebaut wie andere deutsche Partizipien auch, wenn ihr Stamm auf -t oder -d endet (wie bei gehortet, gesendet; als Stamm bezeichnen wir das Verb abzüglich der Infinitivendung, also hort- und send-; dazu unten mehr). In der Sprachwissenschaft sagt man, das Verb tweeten wird Flexionflektiert wie deutsche Verben. Es verhält sich gerade nicht wie Partizipien im Englischen, sonst hieße es hier Hab seit 24 Stunden nichts mehr tweeted. Der Verbstamm tweet- ist eine Übernahme aus dem Englischen, aber er wird direkt und ohne Zwischenstufen an die Erfordernisse der deutschen Grammatik angepasst. Das ist ein bemerkenswerter Vorgang, der so natürlich und selbstverständlich abläuft, dass er uns gar nicht auffällt. Damit ist das Verb tweeten ein Wort des Deutschen, auch wenn es seinen Ursprung in einer anderen Sprache hat (nicht immer ist die Übernahme so problemlos, → Kap. 3 zu Zweifelsfällen wie gefaket/gefaked/gefakt).
Immer wieder gibt es alarmistische Zwischenrufe, die Anglizismen als Bedrohung für die deutsche Sprache darstellen, wie zum Beispiel vom „Verein Deutsche Sprache":
Die deutsche Sprache wird seit Jahren von einer Unzahl unnötiger und unschöner englischer Ausdrücke überflutet. […]. Wir wollen der Anglisierung der deutschen Sprache entgegentreten und die Menschen in Deutschland an den Wert und die Schönheit ihrer Muttersprache erinnern. Wir wollen unsere Sprache bewahren und weiter entwickeln. Die Fähigkeit, neue Wörter zu erfinden, um neue Dinge zu bezeichnen, darf nicht verloren gehen. (https://vds-ev.de/denglisch-und-anglizismen/denglisch/ag-denglisch/)
Und es gibt tatsächlich Beispiele, bei denen die Dichte von Entlehnungen etwas sehr Affektiertes hat, wie z.B. das berüchtigte Interview, das die Modeschöpferin Jil Sander 1996 der FAZ gegeben hat:
Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, dass man contemporary sein muss, das future-Denken haben muss. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, dass man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. (Frankfurter Allgemeine Magazin, Heft 838, 22.3.1996)
Aber wie groß ist der Einfluss wirklich, abseits von solch anekdotischen Einzelfällen? Dazu wissen wir mittlerweile relativ viel. So hat sich der Anteil von Anglizismen an allen Wörtern in Zeitungstexten zwischen Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts ungefähr verzehnfacht, von 0,04% auf 0,5 % (diese und die weiteren Zahlen stammen aus der Untersuchung von EISENBERG 2013). Geht man von einer Seitenlänge von 500 Wörtern aus, musste man Anfang des Jahrhunderts fünf Seiten lesen, bis man auf einen Anglizismus stieß; Ende des Jahrhunderts liest man auf jeder Seite im Schnitt zwei Anglizismen. (Das sind natürlich nur die Durchschnittswerte; in realen Texten sind Anglizismen viel ungleichmäßiger verteilt. Sie sind an bestimmten Stellen gehäuft, dazwischen liegen längere Textstrecken ohne sie).
Wir müssen an dieser Stelle allerdings etwas differenzieren. Wenn es oben um Wörter ging, müsste es eigentlich genauer WortformWortformen heißen. Wortformen heißen Wörter, wenn sie ganz konkret im Textzusammenhang auftreten (z.B. jobbst, gejobbt, jobbten). Wenn wir von Wörtern reden, meinen wir zum Teil aber auch abstraktere Einheiten, in denen diese Wortformen zusammengefasst werden. Die Wortformen jobbst, gejobbt und jobbten unterscheiden sich zwar, aber sie haben doch etwas gemeinsam – sie sind Formen von jobben, und diese Art Wort wird Lexem genannt. Das Lexem JOBBEN umfasst alle Formen, die in konkreten Texten auftauchen, und die Bedeutung (‚vorübergehend arbeiten, um kurzfristig Geld zu verdienen‘). Lexeme werden in Kapitälchen geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um Wortformen handelt. Und wo wir gerade dabei sind, können wir noch ein paar andere Begriffe einführen: Wortformen bestehen aus Stämmen und (optional) aus Präfixen und Suffixen. Der StammStamm ist der zentrale bedeutungstragende Teil des Wortes; er kann einfach sein (wie in Baum) oder komplex, also aus kleineren Teilen zusammengesetzt (z.B. aus zwei Stämmen wie in Baum·haus – der Hochpunkt zeigt hier und im Folgenden, wo die Teile zusammengefügt sind). Präfixe und Suffixe können den Stamm modifizieren, das Präfix vor dem Stamm, das Suffix danach. In seltenen Fällen treten beide zusammen auf wie in (dein ständiges) Ge·tweet·e; wir sprechen in dem Fall vom Zirkumfix Ge…e. Wenn wir alle drei zusammenfassen wollen, Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe, können wir neutral von Affixen sprechen. Affixe sind Einheiten, die nicht alleine auftreten wie ge-, ent- und ver-, -en, -heit oder -bar (wie in ge·schwor·en, ent·hält, ver·stehen, Frei·heit, trink·bar). Sie brauchen einen Stamm, an den sie sich anheften können. Präfixe, Suffixe, Zirkumfixe und einfache Stämme werden als MorphemMorpheme bezeichnet; das sind die kleinsten sprachlichen Einheiten, die eine Bedeutung (oder eine Funktion) tragen.
In einer Wortform wie unschön beispielsweise ist schön ein solcher Stamm und un- das Präfix. Bei jobbst ist jobb- der Stamm und -st ein Suffix. Der Stamm jobb- ist gebunden, das bedeutet, er kommt nicht frei vor (daher der Bindestrich am Ende). Das ist relevant für fast alle verbalen Wortformen, die uns in Texten oder Gesprächen begegnen: Sie bestehen neben dem Stamm noch aus mindestens einem Suffix. Für Adjektive und Substantive ist die Unterscheidung weniger wichtig.
Der Anteil der anglizistischen Wortformen an allen Wortformen liegt also am Ende des letzten Jahrhunderts bei 0,5%. Der Anteil der anglizistischen Lexeme ist höher: Er stieg von 0,35% am Anfang des Jahrhunderts auf 3,5% gegen Ende des Jahrhunderts. Wenn wir also Pressetexte nehmen und eine Lexemliste daraus erstellen (das Vokabular dieser Texte), dann ist mittlerweile jede 28. Vokabel ein Anglizismus. Das ist auf den ersten Blick ein recht hoher Anteil. Sind also die Sorgen berechtigt? Nicht wirklich, denn den größten Anteil an diesen Anglizismen haben Komposita (das sind Verbindungen von zwei oder mehr Wortstämmen, s. unten), und unter ihnen sind gerade am Ende des Jahrhunderts besonders viele hybride, also Verbindungen zwischen einem Anglizismus und einem nativen Wort wie etwa Anwaltsteam oder Baseballkappe. Sie machen insgesamt fast drei Viertel aller Anglizismen aus. Die anglizistischen Bestandteile im Wortschatz sind also gut integriert: Sie kombinieren wie native (das heißt nicht-fremde) Bestandteile. Fremd bleibt zum Teil die Aussprache, wie z.B. der erste Laut in jobben oder der Vokal in Fake; bei den Substantiven auch die Flexion (der Plural von Star ist Stars und nicht wie beim gleichgeschriebenen Vogelnamen Stare), am häufigsten aber die Schreibung – vor allem die Vokalschreibung wie in Fake, Code, Team, Coach, Clown. Das alles stellt das Deutsche und seine Sprecherinnen und Sprecher aber nicht vor größere Probleme – auch, weil die vielen entlehnten Wörter nicht ihre eigene Grammatik mitbringen, sondern sich ins System des Deutschen einfügen.
Und wenn wir etwas zurücktreten und das ganze Bild betrachten, dann folgen die aktuellen Entlehnungen aus dem Englischen demselben Muster wie die früheren Ent-
lehnungs-
modenEntlehnungsmoden aus dem Lateinischen und Französischen: Sie alle beschreiben eine „Wellenbewegung", die langsam beginnt, dann Fahrt aufnimmt, ab einem bestimmten Punkt aber abflacht. Abbildung 2