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Berlin: Magische Knochen (Band 2)
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Berlin: Magische Knochen (Band 2)
eBook531 Seiten7 Stunden

Berlin: Magische Knochen (Band 2)

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Über dieses E-Book

"Ich weiß nicht, ob es je wieder gut wird. Wie könnte es das?"
Die Herbststürme kommen nach Berlin und in den Kaffeeschenken herrscht Aufruhr. Auf den Straßen werden Bücher verbrannt. Die magische Geheimpolizei wittert überall Verrat. Die Stadt steht vor einer schicksalhaften Entscheidung und der Mann, der sie treffen soll, treibt sich im Vergnügungsviertel herum.
Ein Zauberer, der vor seiner Verantwortung flieht, und eine Erfinderin, die bereits zu viel verloren hat, machen sich gemeinsam auf die Suche nach einer verschollenen Geliebten. Ihre Reise führt sie bis weiter über Berlin hinaus, in ein Abenteuer voller Hexen, Luftpiraten und wandelnder Leichen. Und zu einer Frau, die den Tod betrogen hat.
"Berlin: Magische Knochen" ist der zweite, in sich abgeschlossene, Teil der Steampunk-Reihe von Sarah Stoffers.
SpracheDeutsch
HerausgeberAmrûn Verlag
Erscheinungsdatum23. Juni 2021
ISBN9783958694637
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    Buchvorschau

    Berlin - Sarah Stoffers

    1sturmmond

    1. Mathilda

    An diesem Abend ging ein feines Tröpfeln durch die Stadt. Der Wind trieb es gegen die verrammelten Fenster und über das Pflaster. Es sammelte sich in den Rillen zwischen den Kopfsteinen und rann in die Kanäle, wo es mit einem Gurgeln aufschäumte. Das Tröpfeln hüllte die Luftschiffe am Himmel über Berlin in einen silbrigen Schleier, der nur vereinzelt von den Scheinwerfern durchschnitten wurde.

    Es ging im Knattern des Motors unter, als Mathilda Sturm sich tiefer über den Lenker beugte und beschleunigte. Die Straße schlängelte sich fünf Klafter unter ihr durch die Dämmerung. Die wenigen Laternen verschwammen, als sie auf ihrem Gleiter über ihnen vorbeiflog.

    Mathildas wendige Flugmaschine glich einem Motorrad, nur dass sie Schubdüsen statt Rädern hatte, die den Himmelsstürmer in der Luft hielten. Er folgte ihren Bewegungen gehorsam, als sie sich in die Kurve lehnte. Regentropfen rannen ihr das Gesicht hinab und in den Kragen ihrer Lederjacke. Trotz der Fliegerbrille konnte sie bei diesem Wetter kaum zwei Klafter weit sehen.

    Plötzlich tauchte ein Balkon vor ihr in der grauen Dämmerung auf. Mathilda drosselte den Schub und stürzte dem Pflaster entgegen. In letzter Sekunde fing sie den Sturzflug ab und schoss unter dem Balkon dahin. Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie zwischen dem Spalier der Häuser hindurch flog. Unglaublich!

    Sie steuerte ihren Gleiter quer durch Berlin! Nicht heimlich in den Tunneln unter der Stadt oder nachts am einsamen Strand, sondern hier, wo alle sie sehen konnten. Allerdings waren an diesem Abend nicht viele Leute auf den Straßen unterwegs. Sie hatten die Hüte ins Gesicht gezogen und eilten ihren Zielen mit langen Schritten entgegen. Nur an einem Fenster voller Glühbirnengold wurde ein kleines Gesicht an die Scheibe gedrückt. Mathilda nickte dem Kind zu und schoss dann weiter hinauf, dem grauen Himmel entgegen. Sie nahm eine Dachschräge, schlängelte sich zwischen zwei Schornsteinen hindurch und wich gerade noch einem ratternden Windrad aus.

    Sie hätte ewig so weiter fliegen können, aber ein orange blinkendes Lämpchen machte sie darauf aufmerksam, dass der Tank fast leer war.

    Das Dächermeer öffnete sich vor Mathilda und der Fluss tauchte dahinter auf. Er teilte Berlin in zwei Hälften und am anderen Ufer konnte sie die Türme der Zauberer sehen. Sie ragten über der Stadt auf. Ein Mahnmal der Macht, die in den Händen der magischen Gilde lag. Unter dem höchsten Turm hatte sie sich heute Morgen von Rosa verabschiedet.

    Mathilda drosselte die Geschwindigkeit und schwebte für einen Moment reglos in der Luft. Der Regen lief ihr über die Wangen. Der Wind zerrte hier oben viel stärker an ihren Kleidern und ein Teil von ihr wollte immer weiter fliegen. Den Türmen entgegen und an ihnen vorbei bis zur Küste. Doch neben Mathildas Fingern blinkte das orange Lämpchen immer hektischer. Sie drehte widerwillig bei und setzte zu einem letzten Sprint über die Dächer an. Als sie das rostige Herz der Stadt erreichte, wurden die Häuser schiefer. Sie ragten in absonderlichen Winkeln unter ihr auf. Überall war noch ein Stockwerk oder ein Zimmer angebaut worden. Mathilda flog tiefer, streifte eine rostige Leiter und tauchte unter einer wackeligen Brücke hindurch, die zwei Gebäude mit­einander verband. Vor ihr strahlte eine rote Signallaterne durch die Dämmerung und wies ihr den Weg heim. Zwischen den krummen Häusern war nicht genug Platz für eine Landebahn oder einen Hangar. Stattdessen drosselte Mathilda langsam den Schub. Sie sank in die Tiefe. Der Scheinwerfer strich durch den Regen. Er streifte ein krummes Bäumchen und ein vertrautes Eisentor. Im Hinterhof stand eine hünenhafte Gestalt und sah zu, wie Mathilda sicher zwischen dem Gerümpel landete, dass sich in allen Ecken zusammenrottete.

    »Du bist verdammt spät dran!«, rief Ismail Sturm ihr entgegen. »Hast du überhaupt noch Schub übrig? Und wie steht es mit der Kupplung? Ich hab dir gesagt, dass du beim ersten Mal nicht gleich alles ausreizen sollst!« Obwohl er fortwährend mit ihr schimpfte, erhellte ein Strahlen Ismails dunkelbraunes Gesicht. Ihr Cousin trat heran und begrub sie in einer Umarmung.

    »Lass mich erst mal absteigen!«, verlangte Mathilda. Sie zog sich den Helm vom Kopf und eine Flut schwarzer Locken quoll auf ihre Schultern. Auf der anderen Seite des Gleiters drängte ein monströser Hund heran und drückte seine Schnauze gegen Mathildas Oberschenkel. Während sie die Dogge hinter den Schlappohren kraulte, ging Ismail neben der Maschine in die Hocke, um den Motor in Augenschein zu nehmen. Er machte Schnalzlaute, als würde er einen Säugling beruhigen, und sein durchnässtes Hemd klebte an seinen breiten Schultern.

    »Deinem Gleiter geht es gut«, behauptete Mathilda. »Aber du bist klatschnass. Lass uns reingehen.«

    »Gleich!« Ismail strich die Flanken der Maschine entlang und fuhr mit dem Daumen über die Kabel.

    »Der Himmelsstürmer wird morgen noch ganz genauso aussehen!« Der Hund trottete hinter Mathilda her, als sie auf die Tür ihrer Werkstatt zuging. Der Hof wurde von der einzelnen, roten Laterne erhellt, die ihr den Weg zurückgewiesen hatte, und in deren Licht Ismail jetzt eine Plane über den Gleiter zog. Als Mathilda über die Schwelle trat, schlug ihr der vertraute Geruch von Pfeifenrauch und Moder aus dem Kanal entgegen. Sie tastete blind nach einer Faulgaslampe und hörte im Hintergrund ein feuchtes Schmatzen.

    »Maximus, spuck das aus!«

    Schmutziggelbes Licht flammte unter der Glashaube der Lampe auf und der Hund sah sie unschuldig an. Er trug einen Zugriemen zwischen den Lefzen. Mathilda fand ein Handtuch neben der Spüle und setzte Wasser auf. Hinter ihr stapfte Ismail herein.

    »Wie war es? Ließ sich der Schub geschmeidig regulieren? Waren Geschwindigkeit und Höhe stabil? Haben dich viele Leute gesehen?« Die Fragen purzelten über seine Lippen. Er schien gar nicht zu bemerken, dass er die Tür hinter sich offen stehen ließ und auf seinem Weg eine nasse Spur quer durch die Werkstatt zog.

    »Es war großartig!«

    »... gewusst, dass die Bremsen ein bisschen ruckeln. Aber das kriegen wir hin. Und mir gefällt dieses Geräusch beim Anlassen nicht.«

    »Ismail, es war großartig!« Mathilda verstellte ihrem Cousin den Weg und packte ihn bei beiden Schultern. »Du hast es geschafft! Ich bin so unglaublich stolz auf dich.«

    Sein Gesicht schwebte dicht vor ihrem, das eine Lächeln das Spiegelbild des anderen.

    »Wir haben heute Abend Geschichte geschrieben.« Ismails Stimme klang belegt.

    »Das haben wir! In Zukunft wird sich die Welt daran erinnern, dass der erste öffentliche Flug eines Gleiters genau heute stattfand, und jetzt nimm das Handtuch, du zitterst ja!«

    Ismail lachte, ungläubig vor Glück. »Wir gehen jetzt feiern! Im Rotierenden Zahnrad«, versprach er. »Wir könnten sogar mit dem Himmelsstürmer rüberfliegen.«

    »Danke, mir ist heute nicht nach einer großen Runde«, wehrte sie ab, genau wie jedes Mal, wenn er versuchte, sie wieder zum Stammtisch der Rostigen Gilde zu locken oder auf ein Bier in die Arena.

    »Du kannst dich nicht ewig hier verstecken«, schalt Ismail sanft.

    »Aber heute schon. Hast du mal in den Hof gesehen?« Mathilda deutete mit dem Kopf auf die weit geöffnete Tür. Das feine Tröpfeln des Regens war in ein heftiges Prasseln übergegangen und in der Ferne rollte der erste Donner über den Fluss. Maximus fiepte erschrocken.

    »Du bist die beste Pilotin der Stadt. Du könntest uns durch einen Orkan fliegen«, behauptete Ismail.

    »Trotzdem ist die Straßenbahn trockener. Und jetzt mach bitte die Tür zu, es zieht.«

    »Wie kannst du so schrecklich pragmatisch sein?« Ismail war vor dem Werktisch stehen geblieben und sah glücklich auf ein rosa Formular hinab. Es trug mehrere Stempel und lag zuoberst auf einem Stapel anderer Formulare in verschiedenen Farben. Es hatte nicht weniger als drei Anträge bei der Rostigen Gilde und zwei Vorladungen beim Patentamt gebraucht, um überhaupt einen Antrag bei der Gendarmerie stellen zu dürfen, doch jetzt endlich hatten sie die Erlaubnis! Sie durften als erste Werkstatt überhaupt mit einem Gleiter durch Berlin fliegen.

    »Ich werde diesen Schrieb einrahmen! Zusammen mit einer Fotografie von deinem ersten Flug«, sagte Ismail.

    »Wir haben kein Bild gemacht, wegen all des Regens«, erinnerte ihn Mathilda.

    »Das holen wir nach. Ich fülle die Tanks auf. Wir brauchen mehr Daten und mehr Tests, vor allem zur Flughöhe. Was hältst du von einem Nachtflug, sobald der Himmel aufklärt?« Ismail zog bereits die Karte der Stadt hervor und kritzelte mit dem Bleistift eine Strecke hinein.

    »So gern ich Ihnen beiden gratulieren würde, aber Ihre Fluglizenz gilt erst ab morgen!«, gesellte sich eine dritte Stimme dazu. In der offenen Tür, im Gegenlicht der roten Lampe auf dem Hof, stand eine Gestalt, die fast so kräftig war wie die von Ismail. Der Neuankömmling trug einen langen Wettermantel und hatte den Kragen hochgeschlagen.

    »Hauptmann Ahmad«, begrüßte Mathilda ihn. »Verpissen Sie sich!«

    »Es ist mir auch eine Freude, Sie zu sehen, Fräulein Sturm.«

    »Ich habe in letzter Zeit niemanden umgebracht und mir fällt kein anderer Grund ein, der es Ihnen gestatten würde, meine Werkstatt zu betreten!« Mathilda hielt Ismail mit einer Hand am Hemd fest, damit er sich nicht auf den jungen Hauptmann der Wacht stürzte. Im Hintergrund wedelte Maximus vor Wiedersehensfreude mit dem Schwanz.

    »Wissen Sie, wo Sie sich die Fluglizenz hinschieben können?«, grollte Ismail. Mathilda quetschte das rosa Formular vorsichtshalber in die Schublade mit den Rechnungen und drehte den Schlüssel um.

    »Ich bin heute nicht hier, um Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, und ich werde mit Freuden vergessen, dass Sie gerade das Gesetz gebrochen haben, indem Sie einen Tag zu früh auf dieser Höllenmaschine quer durch die Stadt geflogen sind. Können wir bitte reinkommen?«, fragte Hauptmann Karim Ahmad höflich. Jetzt entdeckte Mathilda eine zweite, kleinere Gestalt hinter ihm im Regen.

    »Nein«, sagte Ismail.

    »Ja«, widersprach Mathilda.

    Der Hauptmann trat ein und mit ihm eine Gestalt in einer dunklen Robe. Als sie die weite Kapuze zurückschlug, kam ein rundes zartbraunes Gesicht voller Sommersprossen zum Vorschein. Die Frau trug ihr weiß gefärbtes Haar kurz geschnitten und sie sah übernächtigt aus.

    »Fräulein Knochenmus, nicht wahr?«, fragte Mathilda, die sich vage an das Gesicht und die Frisur erinnerte.

    »Lotte Knochenmus«, bestätigte die Hüterin des Wissens und sah dann neugierig von Mathilda zu Ismail und zurück. »Sind Sie wirklich mit einem Gleiter durch Berlin geflogen?«

    »Ja.« Mathilda grinste.

    »Ist das da draußen der Himmelsstürmer? Ich habe eine Fotografie im Berliner Kurier gesehen. Von dem Tag der Patentanmeldung, aber es ist so unvorstellbar!«, sagte Lotte Knochenmus mit einer Begeisterung, die Mathilda nicht erwartet hatte. Die meisten Zauberer lehnten Erfindungen kategorisch ab. Angeblich gab es im Turm der magischen Gilde nicht einmal Aufzüge.

    »In ein paar Jahren werden über ganz Berlin Gleiter am Himmel zu sehen sein!«, behauptete Ismail.

    »Vorausgesetzt der Rat stimmt diesem Unsinn zu.« Das kam von Hauptmann Ahmad, der im Hintergrund an ihrem Werktisch lehnte und kein bisschen begeistert wirkte.

    »Dieser Unsinn ist die Zukunft!«, rief Ismail.

    »Besenflüge in der Stadt sind aus gutem Grund verboten worden.« Karim Ahmad hatte die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

    »Wollen Sie etwa einen historischen Hexenbesen mit einem modernen Gleiter vergleichen?«

    »Ich will gar nichts, ich weise hier nur auf die Probleme hin.«

    Auf dem Herd begann der Wasserkessel zu pfeifen und Mathilda brühte den Kaffee auf. Der Duft breitete sich im Halbdunkel der Werkstatt aus. Sie stellte eine Dose mit Zimt und die letzten Waffeln vom Frühstück auf den Tisch. Lotte Knochenmus griff verstohlen nach dem Handtuch und Maximus zernagte hingebungsvoll den Dichtungsring.

    Währenddessen warfen sich Ismail und Ahmad über die Waffeln hinweg dieselben Parolen an den Kopf, wie Erfinder und Zauberer bei jeder Sitzung des Berliner Rates.

    »Veränderungen brauchen ihre Zeit!«, sagte der Hauptmann der magischen Geheimpolizei gerade.

    »Ihr Fingerschnipser habt doch nur Angst, dass unsere Technik eure Magie überflüssig macht! Ihr versucht, uns durch Gesetze zu kontrollieren, aber diese Stadt besteht aus neun unterschied­lichen Gilden und wir werden uns die Herrschaft der Magie nicht mehr länger gefallen lassen!«, knurrte Ismail.

    »Die magische Gilde hat im Rat genauso viele Stimmen wie jede andere. Aber eine unkontrollierte technische Entwicklung wäre so gefährlich wie unkontrollierte Magie! Oder was würden Sie sagen, wenn ein Zauberer Sie einfach gegen Ihren Willen verzaubern dürfte?«, fragte Ahmad eisig.

    »Als wäre ein Fingerschnipser jemals dafür verurteilt worden, das Gesetz zu brechen!«

    »Muss ich Sie wirklich daran erinnern, wie oft Sie beide das Gesetz der Stadt schon gebrochen haben?«

    »Sie sind also heute Abend nicht hier, um mich zu verhaften, Hauptmann Ahmad?«, unterbrach Mathilda die beiden Männer. Sie stellte zwei dampfende Kaffeebecher auf den Tisch, einen vor ihren Cousin und einen vor Lotte Knochenmus. Den Dritten behielt sie für sich selbst.

    »Ich bin nicht Ihr Feind, Sturm!«, beteuerte Karim Ahmad. Er schien keinen Kaffee zu erwarten.

    »Sie haben mir einmal einen Feuerball hinterhergeworfen und dreimal versucht, mich zu verhaften, am selben Tag«, erinnerte ihn Mathilda.

    »Da hatten Sie aber auch gerade den magischen Großmeister von Berlin ermordet.«

    »Das Gericht hat entschieden, dass es sich nicht um einen Mord handelte, sondern um die verdammte Rettung Hunderter Menschen!«, sagte Ismail scharf. »Mathilda hat verhindert, dass der alte Himmelsbrück eine Bombe zündet.«

    »Sie hat sogar einen Orden dafür gekriegt«, warf Lotte Knochmus hilfreich ein und lächelte sie über den Kaffee hinweg an. Mathilda schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern, denn in ihrer Erinnerung hörte sie immer noch das Geräusch des berstenden Schädels. Es hätte nicht so leicht sein dürfen, einen Menschen zu töten, mit zwei, drei verzweifelten Schlägen gegen den Kopf.

    Sie sah noch deutlich vor sich, wie August Himmelsbrück vor ihr in die Knie ging und das Blut sich auf den Pflastersteinen ausbreitete. Die Morgensonne war nach dieser längsten aller Nächte über dem Fluss aufgegangen und Mathilda war so unendlich wund und müde gewesen, dass sie zunächst überhaupt nicht begriffen hatte, was geschehen war.

    »Fräulein Sturm!« Hauptmann Ahmad lehnte noch immer an ihrem Werktisch und Mathilda hasste den wissenden Ausdruck in seinen dunklen Augen. »Ich versuche, die Bewohner dieser Stadt zu schützen, und nur deshalb bin ich hier.«

    Ahmad hatte seine Hände in den Taschen des Wettermantels vergraben und musterte sie aufmerksam. Er konnte sich hier unmöglich wohlfühlen, denn all das Eisen in der Werkstatt war für einen Zauberer unangenehm. Es schnitt ihn von seiner Magie ab und löste ein widerwärtiges Gefühl auf der Haut aus, und doch war der Hauptmann der magischen Geheimpolizei zusammen mit einer Hüterin des Wissens in ihre Werkstatt gekommen und benahm sich fast schon höflich.

    »Ich hatte gehofft, dass Fidelio Lafrenz hier ist«, erklärte Ahmad.

    »Den dürfen Sie auch nicht verhaften!«, antwortete Mathilda prompt.

    »Niemand will den obersten Bibliothekar verhaften«, sagte Fräulein Knochenmus müde.

    »Noch nicht«, fügte Ahmad hinzu.

    »Wir können ihn nur nicht finden.«

    »Und es hilft auch nicht, dass er ein Illusionist ist und mit seiner Magie sein Aussehen verändern kann.«

    »Also Fidelio will nicht gefunden werden und Sie beide machen sich Sorgen um ihn?«, fasste Mathilda den Teil zusammen, den sie verstanden hatte. Sie trank den ersten, köstlich heißen Schluck Kaffee. Draußen trieb der Wind immer noch den Regen gegen die Fensterscheiben. Es war so dunkel geworden, dass die einzige, brennende Lampe nicht ausreichte, um den Raum zu erhellen. Sie tauchte nur einen Teil der Apparaturen und Werkzeuge in einen Kreis aus gelbem Licht.

    »Ihr Freund hat ein Talent dafür, sich in Schwierigkeit zu bringen, und er ist in einer besonderen Lage«, sagte Ahmad.

    »Das ist jetzt aber diplomatisch ausgedrückt«, fand Mathilda.

    Der Wind klapperte mit dem Eisentor der Werkstatt und rüttelte in dem knorrigen Aprikosenbaum. Es hätte gemütlich sein können, ohne das nasse Hemd, das ihr immer noch am Körper klebte, und ohne die beiden ungeladenen Gäste.

    Leider ahnte Mathilda bereits, worauf dieses Gespräch hinauslief.

    »Bitte reden Sie mit ihm!«, sprach Ahmad ihren Gedanken aus.

    »Was lässt Sie glauben, dass er auf mich hören wird?«, fragte Mathilda.

    Bevor der Hauptmann antworten konnte, trat Knochenmus vor. Sie reichte Mathilda nur bis zum Kinn und die nasse Kapuze ihrer Robe hinterließ eine Spur aus Tropfen auf dem unverputzten Boden. »Ich weiß nicht besonders viel über Sie oder den obersten Bibliothekar, aber im Kurier stand, dass Sie beide die Frau verloren haben, die Sie liebten. Sie mögen sonst nicht viel gemeinsam haben, aber es ist Ihnen zu zweit gelungen, erst ihre Mörderin zu stellen und danach diese Stadt zu retten.«

    All das war nur eine Woche her. Der magische Großmeister August Himmelsbrück hatte aus Angst vor einer Herrschaft der Technologie versucht, eine Bombe des ersten Zeitalters mitten in der Stadt zu zünden. Doch bevor er Hunderte Unschuldige töten und damit endgültig einen Bürgerkrieg zwischen Zauberern und Erfindern auslösen konnte, hatten Mathilda und Fidelio ihn aufgehalten. Es hatte damit geendet, dass Mathilda über der Leiche von August Himmelsbrück stand, den blutigen Schraubenschlüssel noch in der Hand.

    Der Schraubenschlüssel lag immer noch in der Asservatenkammer der Gendarmerie, aber er sah dem dort drüben zum Verwechseln ähnlich. Mathilda erinnerte sich an das Gewicht in ihrer Hand und hielt den Kaffeebecher ein wenig fester. »Geben Sie Lafrenz einfach etwas Zeit, um seine Probleme zu lösen«, verlangte sie schroff. »Er ist viel klüger, als es den Anschein hat.«

    »Aber wir haben keine Zeit.« Lotte Knochenmus hatte ihren Becher abgestellt. Sie füllte ihre Robe plötzlich mit einem neuen Ernst aus. »Fidelio Lafrenz wurde laut dem Notfallprotokoll zum obersten Bibliothekar und zum ersten Hüter des Wissens ernannt. Wir stehen vor einem großen Haufen Probleme, aber er kommt nicht zu den Sitzungen der magischen Gilde und er ignoriert den Ruf der Großmeister. Er darf sich nicht weiter vor uns allen verstecken. Finden Sie ihn, Fräulein Sturm, und reden Sie mit ihm, bevor der Rat es tut!«

    »Oder ein aufgebrachter Mob in der Stadt«, ergänzte Ismail hilfreich.

    Ein Blitz zuckte über Mathildas Hinterhof und im nächsten Moment rollte ein Donner über die Dächer des Viertels. Maximus fiepte erschrocken auf und floh zwischen die halbzerlegten Maschinen im hinteren Teil der Werkstatt. Mathilda hielt das für eine ausgezeichnete Idee. Sie folgt dem Hund in die Schatten und nahm seinen großen Kopf in beide Hände. Maximus drängte sich zitternd gegen sie und obwohl Mathilda ihr Gesicht gegen sein nasses Fell drückte, spürte sie ganz deutlich die Blicke in ihrem Rücken.

    »Warum sollte eine Erfinderin sich um die Probleme von Fingerschnipsern scheren?«, fragte Ismail in die Stille.

    Das, fand Mathilda, war eine ausgezeichnete Frage! Sie hätte sich gern noch tiefer zwischen den halbzerlegten Automaten verkrochen. All das Eisen war so vertraut wie der stinkende Hund in ihren Armen. Sie könnte erst irgendwann morgen wieder herauskommen, wenn das Unwetter nachgelassen hatte und die Luft wie frisch gewaschen roch. Ismail würde bis dahin drei neue Flugstrecken auf der Karte eingezeichnet haben. Und irgendwann würde Fidelio wieder auftauchen, um über den sabbernden Hund und all das Eisen zu meckern.

    Aber er ist meinetwegen in die Morgenröte gegangen. Ich habe ihn gebeten, mir auf der Suche nach Ling zu helfen.

    »Nenn sie nicht so«, bat Mathilda im Halbdunkel der Maschinen.

    »Was?«

    »Fingerschnipser. Nenn die Zauberer nicht so, ja?« Der nächste Donnerschlag hallte über den Dächern und Mathilda strich ihrer Dogge beruhigend über den Rücken. Sie machte keine Anstalten, aufzustehen. »Ich brauche Wurst für meinen Hund und ich werde warten, bis das Gewitter weiterzieht. Und, Ismail, leihst du mir deinen Gleiter? Ich werde einen Nachtflug machen.«

    2. Fidelio

    Das Luftschiff neigte sich langsam nach Backbord. Ein Glas schoss an Fidelio vorbei die Theke hinab und zersprang mit einem Klirren an der Wand. Über ihm an der Kajütendecke schwankte die Lampe hin und her. Ihr Schein tanzte über die festgeschraubten Tische und erhellte für einen Moment bullige Schultern und Wettermäntel. Das Abzeichen der Sturmgilde blitzte an mehreren Krägen auf, aber es waren auch Luftfahrer aus anderen Städten an Bord der Morgenröte. Menschen in robuster Kleidung, die den ganzen Sommer über von der Sonne ausgeblichen worden war. Mit ledernen Riemen überall am Körper, an denen sie ihre Ausrüstung festzurrten. Fernrohre und Kompasse, kleine Beutel, Haken und Halteschlaufen. Blank polierte Revolver und Messer mit Knochengriffen.

    Keiner von ihnen sah vom Kartenspiel auf, als vor den Bullaugen ein blendend greller Blitz aufflammte und der Donnerschlag jedes andere Geräusch verschluckte. Fidelio hingegen fand, dass er noch nicht genug getrunken hatte, um einem Absturz so gefasst ins Auge zu sehen. Er hob die Bierflasche an die Lippen und leerte sie.

    »Du willst also die Stadt verlassen?«, fragte der alte Luftfahrer, der neben ihm an der Theke lehnte, und stopfte seine Pfeife.

    »Das kommt ganz auf die Möglichkeiten an.« Fidelio klammerte sich an einer der ledernen Halteschlaufen fest, um nicht vom Barhocker zu rutschen. Ein Grammophon hinter der Theke spielte eine muntere Tanzmusik und aus den Kabinen drangen atemloses Gelächter und genüssliches Stöhnen.

    »Es gibt hier mehr Möglichkeiten als Wolken am Himmel. Die Landetürme sind voller Luftschiffe mit Kabinen für jeden Geldbeutel. In wenigen Tagen bist du in Praha, in Vienna oder Paris«, sagte der Luftfahrer.

    »Verlockend, aber auf jedem Landeturm kontrollieren Beamte, wer die Stadt betritt und verlässt.« Fidelio gab dem Barkeeper ein Zeichen, damit er die nächste Runde brachte. Zwei braune Bierflaschen wurden vor ihnen in Halterungen aus glänzendem Messing abgestellt.

    »Verstehe«, sagte der Luftfahrer gelassen und bediente sich. Seine Wange war narbenverkrustet und irgendetwas hatte ein Brandloch in den Ärmel seiner speckigen Lederjacke gerissen.

    »Ich habe gehört, dass Sie auf Ihren Routen manchmal unregistrierte Gäste im Frachtraum mitnehmen?«, fragte Fidelio beiläufig. Er hatte an den Spieltischen mehrere Runden Dynastie verlieren müssen, um diesen Tipp zu bekommen.

    »Möglich.« Der Luftfahrer kratzte sich am Kinn. »Aber in den nächsten Tagen wird das nichts. Ich bin gerade erst von den Grönlandweiden zurückgekommen. Lange Tour, ganze zwei Wochen.«

    Mist!

    »Natürlich will sich die Mannschaft jetzt die Beine vertreten und ich muss neue Ladung an Bord nehmen. Zucker für Marrakech, magische Siegel für Sevilla. Hey, hörst du mir noch zu?«

    »Danke, aber das ist nicht, wonach ich suche.« Fidelio krallte sich mit beiden Händen in die Halteschlaufe, als das fliegende Bordellschiff vom Sturm angehoben wurde wie ein Spielzeugdrache im Wind. Sein Magen machte einen Salto und vermischte das Bier mit saurer Galle und Enttäuschung. Der alte Mann war der dritte Fehlschlag heute Nacht.

    »Falls du deine Meinung änderst, ich bin gleich dort drüben.« Der Luftfahrer hangelte sich am Halteseil zu den Kartentischen hinüber. Der nächste Donner rollte ohrenbetäubend über die Morgenröte hinweg und Fidelio merkte erst, dass er den Atem angehalten hatte, als plötzlich wieder das Klirren der Flaschen zu hören war, vermischt mit Wortfetzen und Musik. Eigentlich hätte er jetzt an einen anderen Spieltisch gehen müssen, um absichtlich ein paar Runden knapp zu verlieren und ein paar vorsichtige Fragen zu streuen, doch stattdessen blieb er sitzen.

    Mit der nächsten Sturmböe stolperte jemand gegen ihn. Ein weicher Busen presste sich gegen seine Brust und eine Hand blieb auf seiner Schulter liegen. Fidelio schloss instinktiv einen Arm um die rundliche Frau. Er atmete Jasmin, Rum und Schweiß ein. Die Morgenröte kehrte zurück in die Waagerechte, doch die Hure blieb, wo sie war.

    »So allein?« Ihr Lächeln wärmte ihm die Brust und Fidelio war versucht, es ihr von den Lippen zu küssen. Er lehnte sich vor, ihr Atem streifte seine Wange und dann lag statt der Luftdirne Rosa tot in seinen Armen. Sie sah ihn aus leeren Augen an. Seine ermordete Geliebte war schwer und plump gewesen, als er sie fand. Manchmal schreckte er nachts mit dem Gewicht ihres Leichnams auf der Brust aus dem Schlaf.

    »Was ist los?« Die Hand der Frau auf seiner Wange holte ihn zurück und Fidelio atmete gierig ein. Sie roch nicht wie Rosa und fühlte sich auch ganz anders an. Da war ein schlagendes Herz in ihrer Brust und ein sehr lebhaftes Paar Augen in ihrem Gesicht. Vielleicht konnte er mit ihr in eine der Kabinen gehen und vergessen, warum er hier war. Er musste nur von diesem Barhocker aufstehen und die letzten Groschen zusammenkratzen, doch stattdessen lief ein Zittern durch seinen Körper, so heftig, dass sie ihn noch fester hielt.

    »Hey Hübscher, nicht zusammenbrechen!« Sie strich ihm eine Locke aus der Stirn und ließ ihre Hand auf seiner bärtigen Wange liegen. Die Berührung war so warm wie ihr Busen und das Lächeln, nur dass dies weder sein echtes Haar noch sein echtes Gesicht war. Fidelio hatte sich vor dem Aufbruch mit einem Illusionszauber getarnt, um von den Luftfahrern nicht als oberster Bibliothekar erkannt zu werden. Jetzt seufzte er leise und entzog sich der Berührung.

    »Vielen Dank.« Er fing ihre Hand ein und legte seine letzten Groschen hinein. »Aber nicht heute Nacht. Trink ein Glas auf die Toten für mich.«

    »Ich trinke nur mit den Lebenden«, sagte sie und behielt gleichwohl das Geld. Fidelio sah ihr nach, als sie sich auf der Suche nach Kundschaft mit wiegenden Hüften durch den Raum treiben ließ. Ihre Schritte passten sich an den Takt des Sturms und der Musik an, und sie erwiderte einen zotigen Witz mit einem glucksenden Lachen. Vielleicht würde er irgendwann in die Morgenröte zurückkommen, wenn er wieder bereit für Gesellschaft war.

    Doch diese Bierflasche leerte er allein, während das Schiff auf den Sturmböen tanzte und das Gewitter seine Last über der Stadt entlud und dann langsam weiterzog. Fidelio wollte die Nacht schon als Verschwendung abtun, als eine zierliche Frau zwischen den Tischen hindurchtrat. Sie glich das Schwanken des Schiffes routiniert aus, obwohl aus ihren Knickerbockern ein mechanisches Bein herausragte. Kinnlanges, schwarzes Haar umschloss ihr Gesicht wie ein Helm und ihr maßgeschneiderter Anzug stach aus der Menge von Wettermänteln, Lederjacken und Leinenhemden wie ein Fremdkörper heraus. Trotzdem griff der Barkeeper routiniert zu einer Flasche mit goldschimmernder Flüssigkeit und schenkte der Dame ein hohes Glas mit Schnee und einer kleinen, weißen Blüte ein.

    »Ich könnte auch einen Schluck davon vertragen.«

    »Das können Sie sich nicht leisten!« Die Frau legte einen Gulden auf den Tresen, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

    »In diesem Fall könnten Sie mich gern einladen, Fräulein Huber. Quasi als Revanche für die Flasche Katzengold auf Rosas letzter Party.«

    Jetzt ruckte ihr Kopf zu ihm herum. Ihr forschender Blick glitt über die prächtigen roten Locken und die dichten Koteletten, über die sonnenverbrannte Haut und die Augenklappe. Es war ein Gesicht, das sie nicht kennen konnte, doch Luise Huber war schon immer eine Frau schneller Schlussfolgerungen gewesen, und Fidelio konnte ihr die Erkenntnis ansehen.

    »Eine Augenklappe? Ernsthaft, Lafrenz?«, fragte sie.

    »Ich wollte mich dem Etablissement anpassen.«

    »Vielleicht erklären Sie das dem Schiffsmechaniker dort drüben, der seinen halben Arm bei einer Plasmaexplosion verloren hat, zusammen mit seinem hübschen Gesicht«, schlug Huber kalt vor.

    Fidelio pulte am Etikett seiner leeren Bierflasche.

    »Oder der Steuerfrau, die seit derselben Explosion auf beiden Ohren taub ist!«, setzte sie nach.

    »Schon gut, ich habe es begriffen!«, beteuerte Fidelio. »Ich werde die Augenklappe in Zukunft streichen. Zufrieden?«

    »Halbwegs.«

    »Ihre Nase sieht übrigens hervorragend aus«, sagte Fidelio liebenswürdig. Als er Luise Huber das letzte Mal getroffen hatte, war ihre frisch gebrochene Nase noch monströs angeschwollen gewesen, doch im Gegensatz zu abgetrennten Gliedmaßen war ein Knochenbruch mit Magie leicht zu heilen.

    »Und ich habe Sie immer für charmant gehalten.«

    »Sie machen sich keine Vorstellung«, sagte Fidelio mit einem strahlenden Lächeln.

    Huber zog ungerührt ein Mundstück aus Stahl aus ihrer Tasche und steckte eine Zigarette darauf. Der Barkeeper gab ihr Feuer. In einer der Kabinen schwang sich ein lustvolles Stöhnen zu neuen Höhen auf.

    »Ich nehme an, ein Bordell am Boden hätte es nicht getan?«, fragte Fidelio.

    »Sie haben mich in Ihrem Brief nach dem Treffpunkt der besten Schmuggler von Berlin gefragt.« Luise Huber sog an ihrer Zigarette und atmete den lila Rauch aus.

    »Da dachte ich aber auch noch, Sie wären die beste Schmugglerin von Berlin.«

    »Unsere Firma ist schrecklich ehrlich geworden.« Huber lächelte ihn durch den lila Rauch hindurch an, während hinter in der Kabine das heisere Stöhnen in ein seliges Stammeln überging.

    »Wie konnte Ihnen das passieren?«, fragte Fidelio nur halb im Scherz.

    »Der Zuckerhandel hat seit der Rübenfäule immer größere Gewinne abgeworfen. Wir haben inzwischen mehrere ordentlich registrierte Schiffe und nirgendwo lässt sich ein Vermögen so ehrenwert unterschlagen wie im freien Handel.«

    »Ihr Vater muss so stolz auf Sie sein!«

    »Sie machen sich keine Vorstellung«, schoss Luise zurück, und dann: »Warum wollen Sie sich bei Nacht und Nebel davonstehlen?«

    »Haben Sie in letzter Zeit einen Blick in die Zeitung geworfen?«

    »Ja und mir ist aufgefallen, dass Sie Rosas Tod aufgeklärt und die Stadt gerettet haben. Zusammen mit Mathilda Sturm, aber was ist schon perfekt?« Sie grinste schief. »Sie wurden zum obersten Bibliothekar ernannt und halten den Schlüssel zu einem verborgenen Archiv voll unbekannter Wunder in der Hand. Mit gerade einmal vierundzwanzig Jahren. Die ganze Stadt steht deswegen kopf. Ich dachte, das würde Ihnen gefallen?«

    »Das dachte ich auch.« Fidelio klaute Hubers Glas und stürzte den Inhalt hinunter.

    »Falls Sie ein schnelles Schiff brauchen, lässt sich bestimmt etwas arrangieren, aber ist das wirklich klug?«

    »Keine Sorge, das Schiff ist nicht für mich. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der spurlos verschwunden ist.«

    »Jeder hinterlässt Spuren. Reisepapiere, Fahrkarten, Hotelrechnungen, geprellte oder bezahlte.« Huber beugte sich routiniert über die Bar und griff nach der Schnapsflasche, ohne, dass der Barkeeper Einspruch erhob.

    »Diese Frau nicht. Also angenommen, Sie würden untertauchen wollen und wären wirklich clever, an wen würden Sie sich wenden?«

    »Glücklicherweise bin ich wirklich clever. Haben Sie schon mit Huo gesprochen? Oder mit Friedhelm Passig?« »Kommt beides zeitlich nicht hin. Huos Schiff liegt zur Reparatur in den Docks und Friedhelm ist gerade erst von den Grönlandweiden zurück.«

    »Also ist Ihre Freundin in den letzten zwei Wochen verschwunden? Mal überlegen, Böhmer fliegt nur noch tote Ware, seit ihm eine versteckte Ladung Passagiere im Zwischendeck erfroren ist, und Lemaire ist gerade über dem südchinesischen Meer verschollen.« Huber spitzte nachdenklich die Lippen. »Aber ich glaube, ich habe die richtige Person für Sie. Und Sie haben Glück, das hier ist ihr Stammbordell.«

    Zwei Runden Schnaps und ein fernes Donnergrollen später trat eine hagere Frau aus der Kabine. Sie trug einen Wettermantel und ihr Hemd war nur nachlässig zugeknöpft.

    »Das ist sie«, sagte Huber. »Kapitänin Raid.«

    Die Schmugglerin verabschiedete sich an der Kajütentür mit einem langen Kuss von einem hübschen jungen Mann und beantwortete die Pfiffe im Schankraum mit einer unflätigen Geste. Fidelio drängte sich zwischen den Tischen hindurch und fing die Frau an der Tür ab. »Kapitänin Raid, auf ein Wort?«

    »Kennen wir uns?« Raid musterte ihn forschend aus einem dunklen Paar Augen. Sie war eine Frau, der man die vielen Jahre an Deck eines Luftschiffes ansah. Sonne und Wind hatten sich tief in ihre Haut gegraben und Spuren von Grau durchzogen die vielen dünnen Zöpfe.

    »Noch nicht!« Fidelio setzte sein bestes Lächeln auf.

    »Danke, aber ich hatte heute schon Gesellschaft«, sagte Raid.

    »Dann ist es ja ein Glück, dass ich nur auf Ihr Schiff möchte und nicht in Ihre Koje. Ich habe gehört, dass Sie regelmäßig die Route nach Praha fliegen?«

    »Wer behauptet so etwas?«, fragte Raid.

    »Eine Freundin«, sagte Fidelio sanftmütig. »Hübsches Ding. Schwarzes, glattes Haar. Zierlich. Die Arme voller Tattoos. Sie arbeitet als Artistin.«

    Jetzt entspannte sich ihre Haltung etwas. »Sie hätten sagen können, dass die Fische Sie schicken.«

    »Sie haben mir vielleicht einen Tipp gegeben«, sagte Fidelio und log dabei nicht direkt. Die Fliegenden Fische hatten ihm sehr nachdrücklich geraten, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern, wenn er keine Prügel kassieren wollte. »Also haben Sie Chén Ling nach Praha gebracht?«

    »Vor etwas über einer Woche.«

    »Eine einfache Fahrt, ohne Kontrolle an den Hangars?«, frage Fidelio.

    »Das ist meine Spezialität. Was ist jetzt? Wollen Sie eine Fahrt?« Raid sah ihn ungeduldig an.

    »Gewiss.« Fidelio hob die Hand und zeichnete mit den Fingern einen Zauber in die Luft. Die Magie richtete die feinen Härchen auf seinen Unterarmen auf und rieselte als Funken von seinen Fingern. Dann schlüpfte er so mühelos in Raids Verstand, als würde er mit dem Gesicht durch eine Wasseroberfläche tauchen. Ihre Gedanken schwappten in kleinen Wellen über ihn hinweg. Zuerst trieben ihm die frischen Erinnerungen der letzten Stunden entgegen. Kräftige Arme legte sich um seinen, nein, um Raids Hals und der Freudenbursche schmiegte sich an seine Kundin, ganz sehnige Muskeln und warme, glatte Haut. Fidelio wischte das Bild fort und suchte nach älteren Erinnerungen. Ein Lufthafen blitzte vor ihm auf und dann die geblähten Segel ihres Schiffes, als Nächstes die Rechnung für einen defekten Gastank, eine Messerstecherei in einer Hafenkneipe und dort eine junge Frau, die in Praha mit der Mannschaft von Bord ging. Ling!

    Fidelio lief ihr über die Planken des Luftschiffs hinterher und überholte sie auf dem Landungssteg. Er streckte den Arm nach ihr aus, ganz so, als könnte er die Erinnerung tatsächlich berühren, aber da ging sie schon durch ihn hindurch. Eine Frau mit dunklen Augen und glattem, schwarzen Haar. Ein paar Tattoos schlängelten sich unter ihrem Hemd hervor und dies hätte die Artistin sein können, aber das Gesicht passte nicht. Es war lediglich eine Frau, die Ling hätte sein können. Aber es war nur noch eine falsche Spur. Schon wieder!

    Die Enttäuschung zerrte an dem Zauber wie eine Angelschnur, die ihn zurück an Land holte. Reiß dich zusammen! Sie darf nichts merken. Fidelio wollte seine Konzentration bündeln und den Zauber sauber abschließen, bevor Kapitän Raid entdeckte, dass er einfach in ihren Verstand eingedrungen war, als ihm der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Wortwörtlich. Der Zauber wurde mit einem harten Aufprall beendet, als Fidelio auf den Planken landete. Der Sturz riss ihn zurück in seinen eigenen Körper. Er stieß sich den Kopf an und biss sich auf die Zunge. Unter ihm neigte sich die Morgenröte weiter zur Seite. Ihre Kundschaft klammerte sich an den Halteseilen fest. Ein einzelner Stiefel rutschte an Fidelio vorbei und verschwand unter einem Tisch. Irgendwo zersprang ein Glas. Kapitän Raid sah verblüfft auf ihn herab. »Du hast mich verzaubert!«

    Das war keine Frage und Fidelios Antwort bestand aus einem frohgemuten Lächeln. War das Blut in seinem Mund? Irgendwie war ihm immer noch ganz schwindelig.

    »Du verdammter Funkenfurzer hast mich verzaubert!« Jetzt war ihre Stimme sehr viel lauter und ihre hübschen Augen funkelten vor Wut.

    »Aber nur ein bisschen.« Fidelio versuchte, den Kopf anzuheben, und bereute es sofort. Eine Welle von Schmerz und Übelkeit schwappte über ihn hinweg. Deshalb war er fast dankbar, dass die Gespräche an den Tischen auf einen Schlag verstummt waren. Hinter der Bar spielte noch immer das Grammophon und als Fidelio langsam den schmerzenden Kopf herumwandte, erkannte er, dass alle Spielrunden innegehalten hatten.

    »Es gibt Gesetze gegen so etwas!«, sagte eine dürre, wettergegerbte Steuerfrau der Sturmgilde ernst.

    »Ihr Fingerschnipser glaubt wohl, dass ihr euch alles erlauben könnt?«, rief eine raue Stimme aus dem Hintergrund. Zorniges Gemurmel brauste auf. Und dann erhoben sich nacheinander alle Spielenden von ihren Stühlen. Jemand begann mit den Fingern zu schnipsen, dann noch einer und plötzlich breitete sich das Fingerschnipsen überall um ihn herum aus. Fidelios Magen krampfte sich zusammen und obwohl er doch eigentlich jetzt um sein Leben reden sollte, brachte er keinen Ton hervor. Raid beugte sich zu ihm hinunter, packte ihn bei der Hemdbrust und zog ihn unsanft auf die Füße.

    »Es ist nicht so, wie es aussieht«, krächzte er endlich. Verflucht, er hatte doch gewusst, dass die Sturmgilde im ewigen Streit zwischen Magie und Technik auf der Seite der Rostfresser standen.

    »Für mich sah es danach aus, dass du mich gegen meinen Willen verzaubert hast«, sagte Raid scharf.

    »Nun ... ja«, gab Fidelio zu und kämpfte gegen die Übelkeit an. »Ich hätte fragen sollen, aber es war wichtig. Und wirklich nur ein kleiner Zauber.«

    Das schien sie nicht besonders zu beeindrucken. »Weißt du, was wir hier mit Fingerschnipsern machen?«

    Jetzt war die ganze Kajüte von einem rhythmischen Schnipsen erfüllt, aber mehrere Leute fühlten sich berufen, auf Raids Frage zu antworten. »Windelweich prügeln.«

    »Kopfüber an den Mast binden.«

    »Über Bord werfen.«

    Raid lächelte, doch Fidelio war dazu nicht mehr länger imstande.

    »Es wäre wirklich freundlich, wenn Sie mich loslassen könnten und ... ist das dort etwa eine Kaiserin?« Bei den letzten Worten wendete er den Kopf zur Seite und sah verblüfft einen der Spieler an. Das Schnipsen verstummte, als alle in dieselbe Richtung blickten, auf eine schmächtige Gestalt mit einem Kartenblatt in der Hand. Eine Sekunde genügte Fidelio, um verstohlen einen kleinen Zauber in die Luft zu zeichnen. Jetzt lugte aus dem Ärmel des überraschten Spielers eine Spielkarte heraus. Gerade weit genug, um das purpurne Band am Rand zu erkennen. Jemand fluchte ehrfürchtig. Eine Luftfahrerin hauchte einen Kuss auf ihren Taschenkompass. Alle traten näher heran und reckten neugierig die Hälse.

    »Hast du schon einmal eine gesehen? Am Kartentisch, meine ich?«

    »Vor ein paar Jahren einmal ...«

    »Es gibt nur eine einzige pro Deck. Tausend Karten - und eine Kaiserin.«

    »Hey Leute, das ist nicht meine! Die wurde mir untergeschoben«, beteuerte der Spieler und versuchte, nach der Karte zu greifen, aber ein schmutziger Heizer war schneller. Er packte den Pechvogel beim Handgelenk und schob ihm den Ärmel zurück. Fidelio machte eine kleine Geste mit den Fingern, um den Zauber zu verstärken. Eine Illusion, die sich auch real anfühlte, war viel schwerer zu erschaffen als ein reines Trugbild. Der pochende Kopfschmerz zerrte an seiner Konzentration, genau wie das Eisen des Schiffes, doch Fidelio vollendete den Zauber in letzter Sekunde.

    »Das hier ist eine Kaiserin!«, sagte der Heizer anklagend und hielt die Karte, die in Wahrheit gar nicht da war, in die Höhe. Wieder zorniges Gemurmel, dieses Mal ohne Fingerschnipsen. »Ich habe nichts gegen ein bisschen ehrbares Falschspiel hier und da, Kumpel. Haben wir alle schon gemacht! Aber nicht mit der Kaiserin!«

    Zustimmende Rufe reihum. »Die Kaiserin ist heilig!«

    »Es gibt Regeln für so was!«

    »Werft ihn über Bord!«

    Fidelio versuchte, nicht allzu erleichtert auszusehen, als der Mob sich um den vermeintlichen Falschspieler zusammenrottete. Er wollte einen Schritt zurücktreten, aber Raid hielt ihn immer noch am Hemd gepackt und sah ihn aufmerksam an.

    »Du warst das!«, stellte sie fest. »Du bist ein Illusionist.«

    Zwischen den Kartentischen brach eine Prügelei los, als eine andere Spielerin es wagte, auf ein Schlupfloch im mehrbändigen Regelwerk für Dynastie zu verweisen, und damit die Kaiserin beleidigte.

    »Und ein wirklich guter Kartenspieler«, bestätigte Fidelio Raids Festellung.

    »Arschloch!« Sie holte mit der Faust aus, erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre Augen waren noch

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