Jules Verne – Die neuen Abenteuer des Phileas Fogg (4): Die Söhne des Abgrunds
Von Marc Freund
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Rezensionen für Jules Verne – Die neuen Abenteuer des Phileas Fogg (4)
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Buchvorschau
Jules Verne – Die neuen Abenteuer des Phileas Fogg (4) - Marc Freund
- 1 -
„Fahren Sie in die Schweiz! Holen Sie sich Ihre Erinnerungen zurück!"
Dieser Satz hämmerte durch Foggs Kopf wie ein immer wiederkehrendes Mantra. Es wurde eins mit dem Rattern des Zugs auf den Schienen. Die Geräusche vermengten sich und ließen den Abenteurer Phileas Fogg unruhig im Halbschlaf vor sich hinmurmeln.
Nur wenige Tage war es her, dass er tief unterhalb des Atlantiks auf seinen härtesten Widersacher gestoßen war: Victor Frankenstein.
Der Mann hatte ihm in dem unterirdischen Labyrinth, in dem sie auf eine bewohnte Stadt gestoßen waren, ein erstaunliches Geheimnis offeriert. Sie beide kannten sich bereits, als sie noch Kinder waren.
Fogg, der damals durch den Verlust seines Bruders Aaron regelrecht in eine Schockstarre verfallen war, wurde von seinen Eltern in die Schweiz gebracht. Ein anerkannter Nervenarzt sollte sich seiner annehmen. Und dieser Mann handelte. Er versetzte den jungen Fogg in einen tranceartigen Hypnosezustand und stahl ihm nicht nur seine Erinnerungen an das entsetzliche Ereignis, sondern auch an die Existenz seines Bruders. Fogg vergaß für viele Jahre, dass es einen älteren Jungen an seiner Seite gegeben hatte.
Erst Frankensteins Erscheinen hatten die Erinnerungen wieder heraufbeschworen. Wie ein Blitz hatten sie Foggs Gehirn durchzuckt.
Und doch gab es noch zu viel, das im Dunkeln lag. Zu viele Dinge verwirrten Foggs Geist. Wie viel von dem, was Frankenstein ihm erzählt hatte, konnte er glauben?
Immer wenn er seine eigenen Erinnerungen bemühte, stieß er gegen eine unsichtbare Barriere. Ein Hindernis, das sich in seinem Kopf befand und dass es nun zu überwinden galt. Mit Hilfe des Mannes, der als einziger dazu in der Lage war: Alphonse Frankenstein, der Vater des Mannes, der ihm schon so oft nach dem Leben getrachtet hatte.
Möglicherweise gab es da auch noch mehr, das bis zum heutigen Tag im Verborgenen gelegen hatte. Ja, diese Reise an den Genfer See war unausweichlich gewesen, egal, ob Victor Frankenstein möglicherweise eine erneute Falle aufgestellt hatte oder nicht.
Sie waren bereits am Vortag von London aus aufgebrochen. Die Fähre von Dover hatte sie nach Calais, Frankreich, übergesetzt. Von Paris aus hatten sie schließlich den Zug bestiegen, in dem sie sich jetzt befanden und der die Nacht an ihnen vorbeirattern ließ, in jenem geheimnisvollen, ratternden Rhythmus, dem sie alle verfallen waren.
Neben Fogg saß seine junge Frau Aouda. Sie hatte ihre Hände auf Foggs Arme gelegt. Hin und wieder beugte sie sich zu ihm herüber und betrachtete sorgenvoll sein Gesicht. Dabei entstand zwischen ihren unergründlichen dunklen Augen eine tiefe Stirnfalte, die ihr ein umso bezaubernderes Aussehen verlieh.
Ihnen gegenüber saß ihr gemeinsamer Freund und Diener Passepartout, mit einer auseinandergefalteten Zeitung und übereinandergeschlagenen Beinen, verzweifelt um eine halbwegs bequeme Sitzposition bemüht.
In Kürze würden sie die französisch-schweizerische Grenze passieren. Vor ihnen lag in jeder Hinsicht eine Reise ins Unbekannte. Niemand von ihnen wusste, was sie erwarten würde, am allerwenigsten Fogg selbst.
Er träumte. Unruhige, düstere Bilder wechselten sich vor seinem inneren Auge in immer schnellerer Reihenfolge ab. Er sah noch einmal seinen Bruder Aaron, der mit seinem selbst entwickelten Fluggleiter Anlauf nahm und direkt auf den Rand der Klippen zusteuerte. Ein plötzlich aufkommender Sturm hatte den Jungen und sein Fluggerät plötzlich davon getrieben, bis nichts mehr von ihm zu sehen gewesen war.
Wie viel von dem war wirklich geschehen und wieviel hatte ihm seine Fantasie hinzu fabuliert? Fogg sah sich selbst am Rand des Abgrunds stehen. Von hinten näherte sich langsam und siegessicher ein Schatten. Eine dunkle Gestalt, die beide Hände nach ihm ausstreckte. Fogg spürte einen heftigen Stoß im Rücken, der ihn nach vorne taumeln ließ.
Sein rechter Fuß trat ins Leere. Fogg strauchelte, kippte vornüber und fiel ins Bodenlose. Er öffnete den Mund zu einem langgezogenen Schrei.
Etwas traf ihn im Gesicht. Und noch einmal.
Eine Stimme drang aus weiter Ferne zu ihm her.
„Phileas, Liebster, wach doch endlich auf."
Fogg blinzelte.
Aus der dunklen Schlucht, in die er eben noch gestürzt war, wurde das stickige Eisenbahnabteil. Er blickte Aouda in die Augen. Währenddessen spürte er seinen Herzschlag, der in einem entgegengesetzten Rhythmus zum Zug zu funktionieren schien.
Fogg atmete tief ein und wischte sich mit der rechten Hand den Schweiß von der Stirn. Er sah Aouda dankbar an und lächelte.
„Verzeih, Liebes. Ich muss eingeschlafen sein. Ich habe schlecht geträumt."
Aouda legte ihm die Hand um den Nacken, zog ihn ein kleines Stück zu sich heran und küsste ihn.
„Besser?"
Fogg nickte eifrig und brachte sich in eine aufrechte Position. „Sehr viel besser. Wie weit noch?"
Der smarte Engländer versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen, doch da draußen war nichts als tiefschwarze Nacht.
„Wir dürften die Grenze gleich erreicht haben, antwortete Passepartout mit einem Augenzwinkern. „Vielleicht sollten Sie versuchen, sich eine Weile damit abzulenken, Sir.
Der Franzose bot seinem Herrn die ausgelesene Zeitung an, die dieser dankend ablehnte.
Fogg streckte sich, als plötzlich von nebenan ein polterndes Geräusch zu hören war, so als hätte jemand mit voller Wucht gegen die dünne Wand des Abteils geschlagen.
Die drei Reisenden tauschten einen fragenden Blick miteinander.
Dann ertönte von nebenan ein unterdrückter Schrei, und im nächsten Augenblick befanden sich Phileas Fogg und seine Freunde inmitten eines neuen, haarsträubenden Abenteuers.
*
Phileas Fogg war aufgesprungen. Vergessen war plötzlich die bleierne Müdigkeit. Mit einem einzigen Satz war er bei der Abteiltür und zog sie geräuschvoll auf.
Von nebenan drangen inzwischen weitere Leute an sein Ohr. Stimmen wurden laut. Dann ein erneutes Poltern.
Passepartout folgte seinem Herrn auf den Fersen. Im nächsten Moment waren die beiden Männer auf dem Gang, der leer und verlassen vor ihnen lag.
Fogg riss die Tür des Nachbarabteils ohne zu überlegen auf. Ein schneidender Wind fegte ihm ins Gesicht, der die Vorhänge vor der Tür durcheinander wirbelte.
Im Innern des Abteils herrschte ein trübes Dämmerlicht, was auf die teilweise erfolgte Demolierung der Innenbeleuchtung zurückzuführen war.
Zwei Männer waren dabei, einen dritten gegen das halb geöffnete Fenster zu drücken. Der Oberkörper des armen Teufels befand sich bereits im Freien, während der Mann verzweifelt versuchte, sich gegen den Angriff zu wehren.
Ohne zu zögern trat Fogg entschlossen auf den linken Angreifer zu und packte ihn im Nacken. Mit einer kraftvollen Bewegung riss er den Mann herum und drückte ihn auf die Sitzbank herunter.
Der dunkelhaarige, kräftige Kerl wurde von dem Angriff überrascht. Er riss ungläubig die Augen auf und starrte Fogg aus einer Mischung aus Irritation und Zorn an.
Gleichzeitig stürmte Passepartout von hinten heran und ging auf den zweiten Mann los, ein hagerer, hochgewachsener Mann mit fast schulterlangem, blonden Haar, das ihm in struppigen Strähnen vom Kopf hing und auf diese Weise unweigerlich an Stroh erinnerte.
Der Mann schrie auf, als Passepartout ihn packte und nach hinten zog. Stoff knirschte dabei. Die Jacke des Angreifers war eingerissen.
Fogg registrierte aus den Augenwinkeln, dass sich der junge Mann, dem der Überfall gegolten hatte, in Sicherheit brachte.
Keine Sekunde zu früh, wie sich zeigte, denn in diesem Augenblick schoss auf dem benachbarten Gleis wie aus dem Nichts in entgegengesetzter Richtung ein Zug an ihnen vorbei.
Phileas Fogg war für einen kurzen Moment abgelenkt. Er stieß einen überraschten Laut aus, als er mit einem Mal einen derben Tritt in die Bauchgrube kassierte, der ihn nach Luft ringend zurücktaumeln ließ.
Sofort sprang der Dunkelhaarige auf und setzte nach. Er schwang seine rechte Faust nach dem Engländer, der dem Schlag in der Enge des Abteils mehr durch Glück als durch bewusstes Handeln entging.
Fogg hatte seinen Oberkörper nach vorne gekrümmt, da ihm der heimtückische Tritt noch immer schier den Atem raubte.
Hinter ihm schrie jemand auf. Der Blonde hatte einen Faustschlag von Passepartout kassiert und schlug hart gegen Fogg, der damit gegen die Fensterscheibe katapultiert wurde.
Sofort sprang der Dunkelhaarige heran und wollte den Abenteurer am Jackenaufschlag packen. Doch dieses Mal war Fogg vorbereitet. Er sprang nach vorne, griff in derselben Bewegung nach dem Arm seines Gegners und drehte ihn auf den Rücken.
Der Mann ächzte, stieß einen wütenden Laut aus und ging im nächsten Augenblick in die Knie.
Auch Passepartout war es gelungen, seinen Gegner in Schach zu halten. Der Blonde blutete heftig aus der Nase, als der Franzose ihn mit einem Fuß gegen den Brustkorb auf der rechten Sitzbank regelrecht festnagelte.
„Was ist hier los?", wollte Fogg wissen, der noch immer den Arm seines Gegners festhielt und ihn bei dem kleinsten Versuch der Gegenwehr noch ein Stück weiter nach hinten drehte.
„Die beiden Kerle haben mich überfallen, sagte der junge Abteilnachbar plötzlich. „Sie wollten mich ausrauben.
Der dunkelhaarige, glattrasierte Mann, der kaum älter als Mitte zwanzig sein mochte, war noch immer damit beschäftigt, seine Kleidung zu richten.
Mit einer beiläufigen Bewegung schloss er das Fenster. Die Vorhänge beruhigten sich nahezu auf der Stelle und gaben ihr gespenstisches Eigenleben auf.
„Ist das wahr?", fragte Fog den auf dem Boden knienden Mann.
„Glauben Sie dem verlogenen Dreckskerl kein Wort, stieß dieser hervor. „Und jetzt lassen Sie mich endlich los, oder …
„Oder was?", hakte Fogg nach. „Ich werde Sie nur loslassen, wenn Sie mir auf der Stelle schwören, mit