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GESETZTHEITEN: Neunzehn Gadgets
GESETZTHEITEN: Neunzehn Gadgets
GESETZTHEITEN: Neunzehn Gadgets
eBook259 Seiten3 Stunden

GESETZTHEITEN: Neunzehn Gadgets

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Über dieses E-Book

Gesetzt den Fall, es gäbe da ein Gadget oder eine sonstige Maschinerie, mit der man viel Gutes tun könnte – was sollte man damit keinesfalls anstellen?

Die Story vom Kleinkriminellen, der ein Gadget zur Beeinflussung des menschlichen Willens findet …
Die Story von der Celebrity, die ihren Körper aufpimpen ließ …
Die Story vom Musikprofessor, der vermutlich von seinem eigenen Haus umgebracht wurde …
Die Story eines Gutachters für Werbung, der nicht der ist, der er zu sein vorgibt …
Die Story von den Detektiven, die einen militärisch bedeutsamen Badeanzug suchen, in dem die Dame allerdings noch drin steckt …
Die Story vom Erholung suchenden Frührentner, der auf seiner Wanderung einem unbesiegbaren Kampfroboter entgegentritt …
Die Story vom Lieferanten, der sich in eine Amorette verliebt …
… und viele Storys mehr!

Diese Sammlung präsentiert eine Auswahl der besten technischen Science-Fiction-Kurzgeschichten von Frank G. Gerigk.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum30. Mai 2023
ISBN9783957657701
GESETZTHEITEN: Neunzehn Gadgets

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    Buchvorschau

    GESETZTHEITEN - Frank G. Gerigk

    Gesetztheiten

    Neunzehn Gadgets

    AndroSF 177

    Frank G. Gerigk

    GESETZTHEITEN

    Neunzehn Gadgets

    AndroSF 177

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: Mai 2023

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild: Klaus Brandt

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

    ISBN der Printversion: 978 3 95765 334 5

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 770 1

    Über dieses Buch

    Nein, keine Scheu, dies ist kein Vorwort.

    Und: Ja, ich gestehe: Die meisten dieser Storys sind schon einmal publiziert worden, und teilweise für viel Geld! Die bemerkenswerteste diesbezügliche Begebenheit betrifft die Story ›Der Gutachter‹: Nachdem das Computermagazin c’t einige Science-Fiction-Storys von mir abgedruckt hatte, war ich beim damaligen Redakteur nicht mehr unbekannt. Diese Redaktion wiederum bekam von der Redaktion einer bekannten Schweizer Wochenzeitung die Anfrage, ob man einige Autoren nennen könne, die zu einem aktuellen technischen Thema eine Story schreiben könnten. Zu den angefragten Autoren hatte auch ich gehört. Normalerweise grübele ich dann gerne lange Tage vor mich hin, erwäge diverse Möglichkeiten, bevor dann alles versandet und ich mich nicht mehr melde – oder ich brauche Wochen, um die richtigen Worte zu finden …

    Diesmal war es anders. Ich wusste, dass in solchen Fällen oft die Geschwindigkeit zählt. In derselben Nacht noch schrieb ich die Geschichte herunter, ging tagsüber meinem Beruf nach, und überarbeitete sie am Nachmittag, bevor ich sie in die Schweiz mailte. Am nächsten Tag schon hatte ich die Zusage erhalten, dass sie nach einer kleinen redaktionellen Überarbeitung abgedruckt würde. Schon waren anderthalb Mietzahlungen finanziert!

    Ja, und ich gestehe auch: So etwas passiert einem viel zu selten. Seither eigentlich nicht wieder. Schade.

    Jene Geschichte, über die ich gerne erzähle, ist die von ›Vormittags‹. Laut Angaben des Redakteurs wusste man in der Redaktion, wo gerade diese Story gelesen wurde, denn aus dieser Richtung kam immer ein Kichern …

    Das Schreiben hat auch mit Freiheitsgraden zu tun, und das besonders bei mir. Gerade wenn man zu viele davon hat, also Thema, Länge usw. alles selbst wählen kann, ufern meine Gedanken in zu viele Richtungen gleichzeitig aus, kommen sich gegenseitig in die Quere und nehmen sich gegenseitig die Kraft. Wird dagegen der Strom kanalisiert, damit gebündelt, und zudem die Richtungen vorgegeben, kann ich oft mehr damit anfangen. Immer vorausgesetzt, dass einem überhaupt etwas einfällt. Ideal ist auch, wenn ein gewisser Druck da ist. Manche Autoren können diesen Druck überhaupt nicht ertragen, manche nur zu einer gewissen Phase in ihrer Arbeit.

    Ich selbst habe vor über zwanzig Jahren gelernt, unter Druck zu produzieren, als ich befristet für kurze Zeit in einer Redaktion arbeitete, in der der alte Chefredakteur nicht mehr und der neue noch nicht da war. Die interne Kommunikation war verbesserungswürdig. Ich wurde beauftragt, einen gewissen allgemein verständlichen, doch nicht zu anspruchslosen Bericht über ein naturwissenschaftliches Thema für ein Magazin im Energiesektor zu schreiben – und besorgte mir zur Recherche in der lokalen Stadtbibliothek meterweise Hintergrundmaterial. (Das Internet war damals noch kaum ausgestattet, Bronzezeit sozusagen.)

    Binnen zwei Wochen schrieb ich den Bericht dann herunter und erntete dafür sogar ein besonderes Lob seitens des Auftraggebers. Dann erst stellte sich heraus, zu meiner Überraschung, dass ich aber auch noch ein ganzes Heft mit anderen, allerdings meist recht kurzen Berichten füllen sollte und dass dafür nicht mehr viel Zeit war. Das gelang mir dann auch – knapp. Seither habe ich Respekt und Nachsicht für jene Redakteure, die schlecht bezahlt Zeitungen und Magazine füllen und über Dinge schreiben müssen, von denen sie Stunden vorher noch gar nichts wussten.

    Schreiben unter Druck also funktioniert teilweise besser. Aber eben nicht immer und auch nicht auf Dauer.

    Der überwiegende Teil der Storys in diesem Band sind ohne Druck entstanden. Die jeweiligen Entstehungsgeschichten sind so unterschiedlich, wie sie nur sein können: ›Frohlocken‹ beispielsweise entstand in Gedanken an einen Running Gag aus meiner Zeit in der Studenten-WG. ›Räumer und Gendarm‹, eine beinahe filmreife Krimigeschichte, entstand aus einer resignativen Empörung nach dem Lesen einer ausführlichen Reportage über Kriegswaffen. ›Share-Ware‹ ist eine klassische Tit-for-Tat-Konstruktion. ›Schneewittchen 2.0‹ ergab sich aus einer rein akademischen Idee, siehe auch den dortigen Anhang. ›Das Geheimnis der Titan-Droiden‹ entwickelte sich über eine längere Zeit mit dem Gedanken, ein typisches Weihnachtsthema in ein technisch-naturwissenschaftlich komplett neues Zukunftsgewand zu kleiden. Die Handlung zu ›Teufel, Messias, Zombie!‹ begab sich so nicht viel anders in einem meiner halbluziden Träume, aus dem ich mit unsäglicher, körperlich schmerzender Trauer und nassen Augen erwachte …

    Dem aufmerksamen Leser entgeht auch nicht, dass ich gerne Gegensätze verwende – je krasser, desto besser – oder die herkömmlichen Erwartungen einfach herumdrehe – nicht nur des Symbolismus, sondern auch der Unterhaltung wegen: Der harmloseste Frührentner tritt gegen einen unbesiegbaren Kampfroboter an, eine Sternschnuppe sollte doch bitte Glück, und Kunst sollte einen nicht umbringen …

    Die Zusammenstellung der Kurzgeschichten erfolgte unter dem gemeinsamen Thema, dass es jeweils um eine technische Vorrichtung oder ein Gadget geht, das es zwar noch nicht gibt, das es aber aus wissenschaftlich-technischen Überlegungen in nächster oder nicht allzu ferner Zukunft einmal geben könnte. Deshalb auch der Titel.

    Und gäbe es den Verleger Michael Haitel nicht, wäre dieser Band wohl nie erschienen. Ich bedanke mich an dieser Stelle herzlich für seine jahrelange freundliche und professionelle Geduld mit mir.

    Frank G. Gerigk

    Mai 2023

    Agnetha läuft wieder

    Agnetha wollte nicht sterben. Das war ihr erster Vorsatz. Der zweite war, dass niemand sie – als vermeintlichen Spitznamen – Agni nennen durfte – nachdem sie in ihrer Jugend einmal gelesen hatte, dass Agni der Name eines männlichen indischen Protzgottes war.

    Agnethas dritter Vorsatz war, möglichst nur Bilder zur Veröffentlichung freizugeben, die sie als junge, hochgewachsene Frau von weniger als dreiunddreißig Jahren zeigten. Damals war sie auf einem Höhepunkt ihrer Popularität gewesen und eine der bekanntesten Frauen im Land. Angefangen hatte es nach der olympischen Goldmedaille im Sprint über hundert Meter sowie der anschließenden Bronzemedaille im Weitsprung; Daraufhin prügelten sich Heerscharen gieriger Agenten mit lukrativen Werbeverträgen um ihre Aufmerksamkeit. Zu ihrer besten Zeit hätte sie sich täglich einen Mittelklassewagen mit Sonderausstattung leisten können, einschließlich Sonn- und Feiertagen. Keine Sendung ohne sie, kein Produkt, das ohne ihr atemberaubendes, leicht asketisches Konterfei oder ihre Streicheleinheiten auskommen wollte, keine Modefirma, die nicht ihren Stil kopierte. Dann begann ihre Krankheit, und Agnetha zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.

    Nun, mit achtundachtzig, hatte sie zahllose, immer gefährlichere Operationen hinter sich, um nach außen jung, attraktiv und möglichst normal zu erscheinen.

    »Sie wissen, dass Sie die ersten Wochen unter starken Schmerzen leiden werden«, sagte der Doktor. Er war der Stabschef der Ärzte für die Auswahlsportler der kommenden Olympischen Spiele und nebenbei auch ihr eigener medizinischer Betreuer. Er hatte ihr ausdrücklich von diesem Eingriff abgeraten: Ihr Körper sei zu alt.

    »Machen Sie’s einfach«, hatte sie dem jungen Mann befohlen, der fast halb so alt war wie sie, »und ich verspreche Ihnen im Gegenzug, bei den hundert Meter Sprint nicht mitzulaufen.«

    Und so hatte sie die ›Reflexe‹ bekommen, wie man intern die synthetischen, muskelverstärkenden Fasern nannte. Ursprünglich für Soldaten entwickelt, die im Nahkampf überlegene Fähigkeiten brauchten, war die Technik mit den Jahren in die zivile Chirurgie übernommen worden, sodass Verletzte, Behinderte oder Versehrte wieder laufen konnten, obwohl ihre Nervenfasern im Rückenmark unwiderruflich gekappt waren. Doch Reizungen bestimmter Nervenleitungen im Lendenwirbelbereich, die durch Signale vom Gehirn ausgelöst und durch mikroskopische elektrische Leitungen übermittelt wurden, stimulierten die Beine zu Bewegungen; Rückkoppelungen zurück ins Kleinhirn brachten einen Lernprozess in Gang, sodass selbst frisch Querschnittsgelähmte nach einigen Monaten Training augenscheinlich normal gehen konnten. Freilich war es damit immer noch nicht möglich, die Fülle an lebendigen Informationen zu übertragen, die die Nervenendigungen weiterhin vermittelten: die Gefühle von heiß oder kalt, oder der Unterschied zwischen einer sanften Berührung und einem schmerzenden Schlag. Immerhin waren es großartige Anfangserfolge. Obwohl Agnetha davon profitierte, verglich sie die neue Technologie mit dem Biologieunterricht, in dem man den Muskel eines sezierten Frosches zum Zucken bringen konnte, wenn man ihn mittels einer elektrischen Ladung reizte.

    Agnetha, deren Krankheit ihre Nerven zunehmend beeinträchtigte, hatte all dies hinter sich gebracht. Sie war dort aktiv, wo sie mit ihrem Namen, weniger mit öffentlichen Auftritten wirken konnte. Noch mit achtzig war sie Sportfunktionärin ihres Landes und an dem beinahe zehn Jahre langen Prozess beteiligt gewesen, die Olympischen Spiele in ihr eigenes Land zu holen. Bislang hatte es nur eine einzige Ausnahme von ihrer Medienabstinenz gegeben: Während der ersten großen Sportveranstaltung zur Einweihung des neuen Stadions hatte sie unter dem Blitzlichtgewitter der Fotoapparate von Zehntausenden von Zuschauern und einer Armada von Fernsehkameras eine Ehrenrunde über die Vierhundertmeterbahn drehen dürfen. Der medizinische Aufwand, diesen Lauf vorzubereiten, hatte sie beinahe zwei Monate ans Bett gefesselt. Das war es aber wert gewesen! Der Beifall hatte nicht aufgehört. Niemand, der nicht auch in diesem Brausen gestanden, konnte dieses nachvollziehen. – Antikes Rom: Direkt hinter dem Triumphator, der den mehrspännigen Kampfwagen durch die menschenumsäumten Straßen der Kapitale lenkte, stand immer ein Sklave, der ihm den Lorbeerkranz über sein Haupt hielt und, gegen den ohrenbetäubenden Jubel und der inneren Überzeugung ständig wiederholen musste: »Vergiss nicht, dass du sterblich bist! Vergiss nicht, dass du sterblich bist!«

    Das alles war vor acht Jahren gewesen. Nun waren die Spiele da, in ihrer Stadt. Agnetha würde wieder laufen.

    Ja, ihre Jugend. Mit dreiunddreißig hatte sie sich aus dem Rampenlicht zurückgezogen. Es folgten eigene ›Kreationen‹, die man ihr aufgedrängt hatte. Sie wurde zu einem Konzern, mit ihr selbst als zurückgezogen lebendem Ausstellungsstück. Hätte sie ihre Hinfälligkeit öffentlich gezeigt, wäre ihr kleines Imperium zerbröselt wie ein nasser Keks. Also beherzigte sie die Überlebenspolitik, die sie von ihrem Vater und ehemaligem Trainer gelernt hatte: Keine Schwäche zeigen! Die ersten Geier schon beim Herannahen abschießen! – Ein Ehepartner, der die Wahrheit hätte herausfinden können, hatte da keinen Platz.

    »Agnetha«, sagte der Arzt, »wenn du einmal stirbst, muss man dich in einem speziellen Hochofen verbrennen. Du hast so viel Biotechnik in dir, dass eine herkömmliche Bestattung an Umweltverschmutzung grenzt!«

    »Nicht ›wenn‹«, korrigierte sie ihn mit liebenswürdiger Bestimmtheit, »sondern ›falls‹! Ich werde dieses Thema mit deinem Nachfolger vielleicht näher erörtern. Hundert Jahre werde ich mindestens!«

    »Den größten Tumor im Hirn können wir entfernen, doch nicht alles. Für die nächsten Wochen ist eigentlich strenge Bettruhe angeordnet, das weißt du!«

    »Und du weißt, mein lieber Doktor, ich bin Agnetha, und ich werde zu den Spielen meine Runde drehen. Irgendwann, wenn die Bahn gerade frei ist. Mein Leben lang habe ich darauf hingearbeitet. Nichts kann mich mehr davon abhalten, nicht einmal so eine Operation.«

    »In den letzten Wochen haben wir im Tomografen bedeutsame Kenntnisse über deine Gehirnstrukturen erhalten. Allein dadurch wirst du schon in die Annalen der Medizin eingehen. Das Areal der Rinde, das wir entfernen, ist recht klein. Wir werden es durch die am höchsten entwickelten programmierbaren Implantate ersetzen, die es gibt. Nur so können wir sichergehen, dass du nichts an deinen motorischen Fähigkeiten einbüßen wirst – oder jedenfalls nur ein wenig für einen sehr kurzen Zeitraum.«

    Agnetha wusste nach zahlreichen Informationsgesprächen im letzten Vierteljahr längst, dass ihr Gehirn auch ohne das Implantat die verloren gegangenen Bewegungsabläufe selbsttätig kompensieren lernen würde – allerdings nicht binnen Tagen, sondern einiger Monate! Zeit, die sie nicht hatte: Denn die Spiele würden bereits in zehn Tagen eröffnet. Die elektronischen Implantate konnten ihr helfen, ein Viertel- oder ein halbes Jahr an Rekonvaleszenz und Reha einzusparen plus ein weiteres Jahr an Übungen. Die Ärzte vermieden es, ›Chips‹ zu sagen, denn mit alten Prozessoren hatte diese Technik kaum noch etwas gemein. Sie brauchten auch keine Batterie mehr, sondern funktionierten irgendwie mit körpereigenem Strom. Agnetha verstand davon nicht viel – doch ihr wurde versichert, dass diese Gummielektronik noch mindestens dreißig Jahre halten sollte. Dann wäre sie hundertzwanzig. Eine reife Leistung!

    Von ihrem zum Schweigen verpflichteten Privatfriseur hatte sie sich bereits den Schädel rasieren und eine Perücke anfertigen lassen. Nicht der Ansatz einer Narbe würde in der Öffentlichkeit zu sehen sein!

    Erinnerungen an die Operation hatte sie nicht, obwohl sie währenddessen bei Bewusstsein gewesen war; Drogen hatten die Schmerzen unterdrückt und ihren Verstand vernebelt; sie sollte erzählen, welches geometrische Objekt auf der Beobachtungsscheibe wo war, welche Farbe es hatte, ob sie es doppelt sah, wo sie an ihrem vierzigsten Geburtstag gelebt hatte, was sie zum Abitur von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte, an welchem Ort sie eingeschult wurde, welche Berührungsreize sie spürte, welche Gliedmaßen sie bewegen konnte …

    Nach fünf Tagen konnte sie eine Tasse in die Hand nehmen, ohne den Inhalt zu verschütten. Nach sieben Tagen ging sie alleine auf die Toilette. Am achten Tag beschimpfte sie die träge Krankenschwester. Am neunten Tag unterzeichnete sie mit ihrer üblichen schwungvollen Signatur die Erklärung, dass sie auf eigenem Wunsch und gegen den Rat der Ärzte die Privatklinik verließ.

    Sie erinnerte sich an eine Talkshow, die sie vom bequemen Fernsehsessel aus verfolgt hatte. Ein Komapatient wurde von seiner liebenden Frau seit einem Jahrzehnt künstlich am Leben gehalten. Wo blieb die Würde?

    »Würde ist das, was man selbst bestimmt!«, rief sie dem auf Quote bedachten Moderator zu.

    Niemand sah, dass sie zu Hause zusammenbrach. Doch sie rappelte sich wieder auf. Sie ging nicht zur strahlenden Eröffnung, sondern verfolgte alles auf dem Wandschirm. Durch das offene Fenster hörte sie das ferne Feuerwerk. Agnetha würde ihre erste und beste Möglichkeit zu laufen nicht wahrnehmen können. Die Pflegerin brachte ihr Taschentücher.

    Endlich, nach zwölf Tagen, ließ sie sich in das Stadion zum VIP-Eingang fahren; jeder kannte sie, man ließ sie ein, jubelte ihr zu; sie winkte zurück. Agnetha hatte sich so in Form bringen lassen, dass sie ihre alte Ausstrahlung wieder spürte. Dass sie ihren Ausweis nicht dabei hatte, kümmerte niemanden; ja, diesen zu überprüfen wäre einer Beleidigung gleichgekommen! Auf ihrem drahtigen, solargebräunten Körper trug sie lockere, modische Sportkleidung aus ihrer eigenen Kollektion. Auf dem Stoff war als Erkennungszeichen die Siegesnummer ihres Olympialaufes von vor beinahe zwei Generationen aufgestickt. Diese hatte ihr bislang immer Glück gebracht. Darüber nur ein leichter, sehr eleganter Überwurf. Es war strahlendes Sommerwetter. Der innerstädtische Stau hatte ihr eine gehörige Verspätung eingebracht: Ihr letztes Aktionsfenster würde sich bereits in wenigen Minuten öffnen. Dann liefe sie den Lauf ihres Lebens, um den schmerzhaft erkauften, doch umso größeren Ruhm zu ernten. Für immer wäre an diesem Ort der Sport mit ihrem Namen identisch. Schnell nun! Sie war sicher, alles würde gut werden!

    Bis sie auf einen Angestellten einer Sicherheitsfirma traf, der von nichts wusste. Ein kräftiger Mann, gewissenhaft und unnachgiebig. Er war wirklich groß und mochte mehr als doppelt so viel wiegen wie sie selbst.

    »Von mir aus können Sie die Kaiserin von China sein«, sagte er mit einem Akzent, der ihn als Ausländer identifizierte. Dies könnte erklären, warum er sie nicht kannte. »Ich darf Sie nicht hinein lassen. Ich habe die Vorschriften nicht gemacht, und ich diskutiere auch nicht darüber. Ausweis heißt: Sie können rein; kein Ausweis: Sie bleiben draußen.«

    Das reichte. Sie hatte keine Zeit mehr für langwierige Erklärungen. Agnetha packte den Kerl am Revers und schleuderte ihn mit einem Judowurf vor die Absperrung. Sie hatte diesen Sport nur einige wenige Jahre betrieben, doch ihre kraftverstärkten Muskeln, zusammen mit dem Überraschungsmoment, dass eine würdige Greisin einen muskelbepackten Hünen attackierte, waren ausreichend, diese Situation zu klären. Befriedigt trabte sie in den Gang. Sie kannte den Weg. Noch wenige Minuten!

    Von hinten traf sie das nur wenige Gramm wiegende Geschoss eines Tasers, das der Sicherheitsmann entsprechend seiner Ausbildung im Reflex abgefeuert hatte – seine allerletzte Option gegen Schläger oder Terroristen. Das nur büroklammergroße Objekt verursachte keine äußeren Verletzungen, doch es trug eine elektrische Ladung, die ausreichte, die Muskeln eines normalen männlichen Erwachsenen annähernd schmerzlos für einige Minuten zu lähmen. Agnethas Körper klatschte kraftlos auf den Beton; ihr Herz jedoch, das von einem Schrittmacher unterstützt wurde, setzte mehrere Male aus. Empörte Rufe.

    »Bist du verrückt, das ist eine alte Frau«, hörte sie noch eine Stimme. Ein Mann brüllte irgendetwas zurück. Sie hörte ihren Namen.

    Binnen Minuten waren Erste-Hilfe-Kräfte da. Agnetha wurde intubiert und künstlich beatmet. Jemand stellte Kammerflimmern fest, ohne den fortgeschrittenen Herzschrittmacher zu erkennen; ein gefühlloser Defibrillator jagte eine so starke elektrische Ladung durch ihren alten Körper, dass durch die gewaltigen Muskelkontraktionen zwei Rippen brachen – doch ihr Herz begann wieder zu schlagen. Anders als bei anderen Säugetieren gibt es beim Menschen eine fast direkte Verbindung zwischen Vorderhirn und Rückenmark – und an diesen Stellen trug Agnetha ihr Implantat sowie ein Relais ihrer ›Reflexe‹, welche ihre Arbeit unter allen Umständen fortsetzen mussten. Schwache Zuckungen ihrer gelähmten Muskeln verwandelten sich in geschmeidige Bewegungen.

    Als Agnetha aufsprang, hatte niemand damit gerechnet. Es schien, als hätte sie all ihre Kräfte mobilisiert. Ihr Herzschrittmacher schaltete einen Gang höher, ihre Muskeln auf anaerobe Verbrennung um. Agnetha stieß die zahlreichen Helfer beiseite, torkelte den Gang entlang, bahnte sich einen

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