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Toter Biber. Wilde Maus: Dunkle Ecken im Klützer Winkel.    Stasi, Nazis, Mafia, wer zieht die Fäden?
Toter Biber. Wilde Maus: Dunkle Ecken im Klützer Winkel.    Stasi, Nazis, Mafia, wer zieht die Fäden?
Toter Biber. Wilde Maus: Dunkle Ecken im Klützer Winkel.    Stasi, Nazis, Mafia, wer zieht die Fäden?
eBook248 Seiten3 Stunden

Toter Biber. Wilde Maus: Dunkle Ecken im Klützer Winkel. Stasi, Nazis, Mafia, wer zieht die Fäden?

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Über dieses E-Book

Im beschaulichen, lieblichen Klützer Winkel gedeihen schreckliche Strukturen. Eine unheimliche Macht scheint alle Fäden in der Hand zu haben. Nazis versuchen ihr Süppchen zu kochen, Stasi-Akten tauchen auf, und jetzt mischt auch noch die Mafia mit. Hauptwachtmeister Pannwit will Ordnung in seinem Heimatort schaffen, ist aber ganz alleine. Annika und Alexander suchen dort ihr Glück. Da taucht zu allem Unglück ein Toter auf. Was weiß die Hexe? Ist der Apotheker schuldig? Hat der Fischer die Finger im Spiel? Oder gar Annikas Mann? Der Polizist und die junge Frau ermitteln einzeln, lösen den Fall schließlich aber gemeinsam, und erleben Ungeahntes.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. März 2023
ISBN9783347899612
Toter Biber. Wilde Maus: Dunkle Ecken im Klützer Winkel.    Stasi, Nazis, Mafia, wer zieht die Fäden?
Autor

Michael Odo Hauck

Geboren 1951, verheiratet, lebt in Düsseldorf und Mecklenburg. Hobbys: Kochen, Malen, Lesen, Oldtimer, Reisen. Schreibt regelmäßig seit 30 Jahren Glossen, Fachartikel und über verschiedene, gesellschaftliche Themen.

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    Buchvorschau

    Toter Biber. Wilde Maus - Michael Odo Hauck

    I

    Dunkle Wolken

    Maik hatte schlechte Laune. Seit Tagen, aber heute besonders. Alles hatte damit angefangen, dass er mit seiner Familie ausgerechnet in der Hauptsaison an die Ostsee fahren musste. Aber für Mandy musste es immer wieder Boltenhagen sein. Maik bildete sich ein, weil sie sich hier kennengelernt hatten. Maik als Einheimischer, der unbedingt wegwollte, Mandy als Urlauberin, die die Ostsee schon vor der Wende durch die rosarote Brille sah. Und nun dieser Trubel in Boltenhagen, Berliner, die unvermeidlichen Sachsen, aber auch viele Westdeutsche, die das alte Seebad mittlerweile auch entdeckt hatten. Nicht nur, dass sie den Dauerstau auf der Ostseeallee, der einzigen durchgehenden Straße, mit ihren dicken Karren noch verschlimmerten. Im Kontrast zu diesen sah sein Mercedes-SUV aus, wie das, was er war: Eine uralte, abgewrackte, schwarze Karre mit lächerlich breiten, geschmacklosen Rädern. Er hatte vor dem Urlaub einen Kredit dafür aufgenommen und ärgerte sich jetzt über jedes Klappern, jeden wackeligen Schalter und jede lockere Verkleidung.

    Mandy wäre sogar lieber, wie immer, zu Fuß gegangen, oder mit den Leihfahrrädern zum Strand gefahren, aber da hatte Maik sich durchgesetzt, hatte sie und die Kinder standesgemäß zum Strand gebracht, und war dann eine halbe Stunde die Ostseeallee auf und ab gefahren, bis er eine Lücke im Parkverbot entdeckt hatte. Zum Familienstrandkorb war es fast weiter, als wenn sie direkt von der Karl-Liebknecht-Straße gelaufen wären. Nach einer Viertelstunde hatte er schwitzend und schnaufend seine Lieben erreicht, die Cargohose gegen Badeshorts getauscht, sich anschließend „Zur Düne" in den Schatten verzogen, und den Tag dem Bier geweiht. Gegen Mittag gesellte sich Ole, sein Gesinnungsgenosse, noch aus DDR-Tagen, dazu, der mit seinem Schifferklavier vor der Seebrücke offensichtlich genug zusammengedudelt hatte, um sich ebenfalls eine Pilskur zu gönnen. Bald wurde das Gelaber, die Floskeln und Parolen den anderen Gästen zu unangenehm, sodass Maik und Ole allein an der Bar saßen. Es wurde immer schwüler, der Bierschweiß klebrig, erst windstill, dann dunkle Wolken und Böen, und schließlich stand Mandy neben ihrem Mann.

    „Komm, wir wollen noch im Trockenen nach Hause."

    Maik ließ sich vom Barhocker rutschen und trottete seiner Familie hinterher. Mandy schleppte die Strandsachen. Marileen bewegte sich selbst. Marlon zockte. Die ersten dicken Tropfen fielen, als sie am Mercedes ankamen. Im Wind flatterte der Strafzettel.

    „30 Euro. Diese Gauner! Sollen sich lieber um die Bagaluten kümmern."

    „Wir hätten ja zu Fuß gehen können."

    „Halt’s Maul." Mandy tat’s, sonst würde es noch unangenehmer werden.

    Sie kletterten ins Auto, Mandy musste fahren, alkoholbedingt. In dem Mercedes war es ihre Premiere. Mühselig schob, hebelte und schraubte sie am Fahrersitz herum, bis sie ans Lenkrad und an die Pedale kam. Dann war der Gurt außer Reichweite.

    „Marlon, kannst Du mir mal von hinten den Gurt anreichen?"

    Marlon hatte die Kopfhörer auf. „Häh?" Der ausgeleierte Gurt war eingeklemmt. Mandy öffnete die Tür

    *

    Zu sechst waren sie morgens in Berlin losgefahren, um an der Ostsee zu surfen. Den ganzen Tag lang gab es weder Wind noch Welle, erst jetzt, als sie wieder zurück mussten, briste es etwas auf. So war der Tag dann mit Musik, Cocktails und Rauchwaren vergangen. Vier lümmelten sich hinten im VW-Bus auf der Zweier-Sitzbank und zwischen den Surfboards und Luftmatratzen. Vorne rechts schlief Marley, der Chaka geschwängert hatte, weil sie es so wollte. Nun musste sie fahren.

    „Könnt Ihr nicht mal ein bisschen ruhiger sein, die Kiste leiser drehen und still sitzen, wenigstens hier im Ort!" Chaka hatte sich nach hinten gedreht und gegen die Boom-Box angebrüllt. Als sie wieder nach vorne sah, war da plötzlich diese Tür. Mit ganzer Kraft sprang sie auf das Bremspedal. Mangels Antiblockiersystems standen sofort alle vier Räder. Die zwanzig Jahre alten Reifen hatten nicht mehr genug Leben, um noch quietschen zu können. Mit einem schabenden Geräusch rutschte der Bus, wie in Zeitlupe, gegen die Tür des Mercedes, die sich sofort aus den altersschwachen Scharnieren verabschiedete und über die Straße polterte. Der VW-Bus verlor den rechten Scheinwerfer und der Kühler die Kontinenz. Schräg vor dem Mercedes kam der Bus zum Stehen.

    *

    „Pass‘ doch auf, Du dusselige Kuh!"

    „Halt die Fresse, Du fetter, vollgesoffener Schlappschwanz!"

    Marileen fing an, so zu tun, als müsse sie hyperventilieren, wie sie es in den TV-Serien gelernt hatte. Marlon begann mit dem Mobiltelefon zu filmen und wiederholte kichernd ständig: „fetter, vollgesoffener Schlappschwanz". Maik tauchte ab, um im Handschuhfach nach den Papieren zu suchen. Am liebsten wäre er ganz hineingekrochen. Mandy aber hüpfte vom Fahrersitz und stapfte zum VW-Bus.

    Marley hatte sich den Kopf gestoßen, hing schief im Sitz und stöhnte. Die Vier waren ordentlich durcheinander gepurzelt, was zu verstärkter Heiterkeit führte. Chaka sagte ganz ruhig: „Kacke", stieg dann aus und reckte sich zu ihrer ganzen Länge, was den Kugelbauch noch mehr hervorspringen ließ. In diesem Moment bog Mandy um das Heck des Busses und stürmte auf Chaka zu.

    „Du verfickte Öko-Schnalle mit Deinem Scheißkübel! Unser neuer Mercedes! Das wird Dir noch leidtun. Los, Papiere her!" keifte sie Chaka von unten her an.

    „Das ist noch nicht raus, was hier die größere Scheißkarre ist. konterte Chaka mit einem Seitenblick auf den schwarzen Altwagen. „Du bist doch selbst schuld.

    Das war zu viel für Mandy. Sie versuchte Chaka im Gesicht zu treffen, zu watschen oder zu kratzen. Chaka blieb ruhig und wich geschickt aus. Wie Mandy auf und ab hupfte, mit ihrem kugelrunden Leib in dem zu engen, zu kurzen, zu bunten Strandkleid, aus dem die Gliedmaßen wie weiße Rübchen hervorlugten, das ließ die Vier im Bus endgültig vor Lachen kollabieren. Marlon filmte das Video seines Lebens. Marley lehnte am Bus und drehte sich eine, Blut tropfte aus der vordersten seiner Rastalocken. Passanten schritten ein, der Verkehr brach zusammen und staute sich auf der Ostseeallee bald über die ganzen drei Kilometer Länge. Es donnerte.

    *

    Hauptwachtmeister Henrik Pannwit saß im Polizeiposten Boltenhagen. Eigentlich war er dort nur noch Kontaktbeamter für wenige Stunden in der Woche, abwechselnd mit der Kollegin Nicole Slupski. Dazu sollten in der Saison, wenn die Einwohnerzahl von Boltenhagen von zwei- auf fünfzehntausend wuchs, noch zwei Kollegen vom Bäderdienst kommen, aber es herrschte Personalnot, und da blieb’s bei zwei. Immerhin waren dabei zwei alte VW-Passat Streifenwagen abgefallen. Die beiden Polizisten versuchten alles, die Ordnung aufrecht zu erhalten, nahmen jede Gelegenheit wahr, sich vom Polizeirevier Grevesmühlen zu entfernen. Nicole war allein zu einem Nachbarschaftsstreit beim Grillen nach Groß Schwansee gefahren. Das Telefon klingelte.

    „Nein, ich kann hier nicht weg, ich bin allein. Sollen doch die Kollegen von der Inspektion aus Wismar kommen. - Die haben Schwedenfest? Na, gut. Aber dann ist hier niemand mehr. Melde mich ab."

    Henrik setzte sich in den Streifenwagen, fuhr zum Kreisverkehr und dann unter Blaulicht und Sirene auf der Gegenfahrbahn bis zum Unfallort. Offensichtlich keine schwer Verletzten. Erstmal Ordnung schaffen. Er winkte ein paar PKW durch, gebot zwei anderen, über den Bürgersteig weiterzufahren. Alle wollten rechtzeitig nach Hause. Es regnete stärker, Blitze schlugen über der See ein.

    Ich brauche jetzt mal ein paar Leute, die mit anpacken!

    Marlon zwinkerte ihm zu: „Soll ich helfen?"

    „Nee, lass‘ mal." Er griff sich zwei Passanten, die den Verkehr regeln sollten, vier weitere, die den Bus beiseite schoben. Dann begann er mit den Formalitäten. Die Kameraden von der Feuerwehr trafen ein, streuten großzügig ab, und endlich bekam Marley einen Verband. Henriks Mobiltelefon brummte.

    „Ja, Pannwit? Ein Toter am Anleger von Wohlenberg? – Nein, das kann ich nicht auch noch machen. – Wie? Nicole hat sich am Grill verbrannt und krankgemeldet? Dann muss halt die Armee aushelfen. – Jawohl, heute Bundeswehr und keine Polizeigewalt. Aber hört mal, Kollegen, der Klützer Winkel hat zweihundert Quadratkilometer, und ich bin der Einzige, der hier noch Dienst schiebt. Zu Erichs Zeiten wimmelte es hier von Uniformen, vom VEB Horch, Guck und Greif ganz zu schweigen. Ich will ja nix sagen, aber so geht es doch nun wirklich nicht. - Jawohl, ich fahre hin. - Das geht vor. Ja. Ende."

    Er übergab den Unfallort an die Kameraden von der Feuerwehr und setzte sich in sein Auto. Es gab kein Durchkommen. Also fuhr er in den nächsten Weg Richtung See, durch den Küstenwald, auf die Strandpromenade, und schaltete wieder die Sirene ein. Radfahrer, Fußgänger, Mütter mit Kinderwagen und Rentner an Rollatoren wurden in die Büsche gedrängt. Matsch spritzte, wenn er durch die Pfützen pflügte. In Tarnewitz, hinter der Klinik, fuhr er wieder auf die Straße und war nach fünf Minuten in Wohlenberg.

    *

    Henrik war gerade abgefahren, die Feuerwehr kehrte noch etwas, der Verkehr begann abzufließen, da hielt ein alter Lada Niva, dessen dunkelroter Lack den großen Rostflecken schmeichelte, mit zwei gelben Rundumleuchten und einem Schild PRESSE auf dem Dach, in zweiter Reihe, sodass der Verkehr erneut zum Erliegen kam. Ein Männlein stieg aus, kaum einssechzig groß, sechzig Kilo schwer, dafür mindestens sechzig Jahre alt. Sein zu großes, kariertes Sakko roch nach altem Rauch. Gegen den Regen hatte er eine dünne neongelbe Plastikjacke mit der Kapuze über seinen Kopf gehängt. Vor seinem Bauch baumelte eine nutzlose, analoge Spiegelreflexkamera, und eine billige Digitalknipse, die er vor seine dicke Brille hob. Der Wehrführer ging auf ihn zu und rief:

    „Jonny, wobei er das „J wie in Jochen aussprach, „Fahr Deinen Schrotthaufen da weg. Sofort!" Jonny zog einen Presseausweis, von dem niemand wusste, woher er den hatte.

    „Ich mache jetzt hier Pressebilder. Das ist ein freies Land. Ich bin die freie Presse und meine Berichterstattung hat Vorrang vor dem Verkehr. Da lasse ich mich von den Schergen der Macht nicht abhalten!"

    „Jonny! Sofort! Sonst nehm‘ ich Deine Karre an den Haken und stell‘ sie auf den Hof beim TÜV. Die siehst Du dann nie wieder." Jonny fuhr weg. Als er verschwitzt zu Fuß wiederkam, konnte er nur noch zwei beschädigte Altwagen fotografieren. Die Besitzer saßen gegenüber im Café und hatten sich bei caffè corretto auf einen gemeinsamen Unfallbericht geeinigt. Sie hatten keine Lust, mit Jonny zu reden.

    „Wieso ist denn keine Polizei hier?"

    „Der is ssuh eim Toten nach Wohlenberg gefahn. – „Scheiße, wieder zu spät.

    *

    Wohlenberg, das sind drei Dutzend Häuser, manche noch reetgedeckt, schön gelegen, hoch auf dem Rücken der letzten Endmoräne. Dort stand im frühen Mittelalter auch die slawische Wohlenburg, deren Burghügel immer noch sichtbar ist. Das Dorf ist einer der ganz seltenen Orte, wo die Hügellandschaft bis an die Küste stößt, man einen Seeblick ungehindert von Dünen oder Küstenwald hat. Ein Feriendorf mit Hotel und kleinen Bungalows und ein abseits gelegenes Gebiet mit fünfzig Ferienhäusern prägen heute das Ortsbild. Von der erhöhten Warte sieht man auf die Wiek, eine weite, flache, hufeisenförmige Bucht, mit einem kilometerlangen, sehr sanft abfallenden Naturstrand. Im Süden der Wiek liegt am Hang der schon zur Zeit der DDR sehr beliebte Campingplatz, mit dem schönen Namen „Liebeslaube. An beiden Seiten aber gibt es Steilküsten, die nicht so leicht zu erreichen sind. Dort war an der westlichen Landspitze, der Tarnewitzer Huk, die riesige Hotelanlage „Weiße Wiek, am östlichen Pendant, der Wieschendorfer Huk, ein Golfplatz entstanden.

    Der kleine Strandbereich von Wohlenberg wird durch die Ruine eines dreihundert Meter langen Anlegers geteilt, die eigentlich schon seit langer Zeit abgerissen oder saniert sein sollte, aber die Naturschützer, die Stadt und der Investor blockierten einander und versteckten sich hinter Formalien. Trotz Betretungsverbots wurde der gefährliche Klotz aus Beton und rostigem Stahl intensiv von Anglern genutzt. Die Wiek war vor langer Zeit bis zum Anleger ausgebaggert worden, sodass das Wasser dort immer noch tiefer war als im Rest der Bucht. Im Sommer sprangen die Burschen vom Rand, obwohl die schartigen Spundwände unter Wasser lebensgefährlich waren. Jetzt hatten sich dort noch mehr Menschen versammelt, halbkreisförmig, in einem ängstlichen Abstand um die leeseitige Spundwand. Auf dem Wasser standen drei Stand-up-Paddler, die vor dem Gewitter an den Wohlenberger Strand geflüchtet waren, und nun den beschwerlichen Weg zurück zur Liebeslaube vor sich hatten, und gafften. Jemand hatte die Absperrschranke geöffnet, sodass Henrik direkt durchfahren konnte. Hier war der Schauer schon durchgezogen, das Pflaster war nass, im Osten wurde es schon wieder heller.

    „Und, wo ist der Tote – oder die?", fragte er den ersten Besten.

    „Da, im Wasser."

    Henrik trat an die Kante. Im Wasser schwamm etwas Graues, zwei Angler befanden sich in der Nähe. Er ging zu ihnen und sah genauer hin. Ja, das war zweifellos ein Mensch, der da in den Wellen schaukelte. Mit dem Gesicht nach unten, das bleiche, angefressene Gesäß nach oben, die Glieder baumelnd. Ein rotes Seil war nach Art eines Rollbratens um den Rumpf geschlungen, der in Fetzen einer graugrünen Plane gewickelt war. Offensichtlich hatte der Leichnam Kontakt mit den scharfen Spundblechen gehabt. Die Angler hatten ihre Ruten mit starken Sehnen und großen Drilling-Haken benutzt, um die Leiche festzuhalten.

    „Wo kommt die denn her?"

    „Die war plötzlich da", antwortete einer.

    „Na, da habt Ihr wohl gepooft. An so einem Tag gibt es hier doch eh nichts zu fangen. Da habt Ihr bloß geschnackt und geschluckt."

    Das Rote Kreuz war unterdessen auch eingetroffen. „Bekommt Ihr die Leiche aus dem Wasser?"

    „Nee, das ist nichts mehr für uns. Frag doch mal beim Tauchclub."

    Die hatten zwar ein Boot, das musste aber erst aufgepumpt werden, und die Taucher wollten nicht zu der Leiche ins Wasser steigen. Der Wind war immer noch böig, dunkle Wolken nahmen die Hälfte des Himmels ein, ein Gewittersturm drohte. Wenn man die Leiche nicht bergen würde, könnte sie von den Wellen an die rostigen, schartigen Stahlprofile getrieben werden, dann bliebe nicht mehr viel davon übrig. Henrik rief noch zwei weitere Angler hinzu, die ebenfalls die Leiche an ihre Haken nahmen, und so bugsierten sie das Paket zum Strand, wo direkt neben dem Anleger eine kleine, geschützte, flache Stelle war, an der man den Leichnam anlanden konnte. Henrik rief die Feuerwehr – sollten die doch die Drecksarbeit machen – und die Kripo in Wismar an.

    Als der Korpus an Land war, zog Henrik Einmalhandschuhe über und drehte ihn auf den Rücken. Ein Gesicht fehlte fast vollständig, die Schädelknochen lagen blank, alle weichen Körperteile waren kaum noch vorhanden, Fetzen von halblangen Haaren. Mann oder Frau, wer, wie alt, woher, das würde schwierig werden zu klären. Henrik wusste, dass der Anblick des aufgedunsenen, verunstalteten Körpers ihn für Wochen verfolgen würde. Immerhin roch der Kadaver nicht – noch nicht. Mit spitzen Fingern blätterte er in den Resten der Kleidung und der Plane, suchte nach persönlichen Gegenständen, Papieren, einem Telefon. Nichts. Nur, in einer Falte, aufgeweicht und fast durchsichtig, aber unbeschädigt, ein Fetzen Folie oder Papier, darauf mit fettem Permanentmarker: BIBER.

    Henrik ging zu seinem Kombi und holte eine Rolle mit rotweißem Plastikband und der Aufschrift „Polizeiabsperrung". Er zog das Band aus dem Gebüsch einmal quer über den Anleger und forderte alle Gaffer auf, hinter die Absperrung zu treten.

    Die Feuerwehr kam, auch die studierten Kollegen in Zivil aus Wismar. Zeit für Henrik, sich zu verdrücken. Es war ohnehin kurz vor Schichtwechsel – wobei, mangels Personals, dies und Dienstschluss dasselbe waren.

    *

    Annika hatte Feierabend gemacht. Nach dem Regen saß sie in ihrem alten Hausanzug auf der Terrasse des gelben Hauses, genoss den einmaligen Blick auf die Bucht, trank und rauchte. Die Woche war anstrengend gewesen, alles lief zäh und mühsam. Alles blieb an ihr hängen. Auf dem Weg, der direkt an ihrem Grundstück vorbeiführte, liefen die Kinder der Urlauber auf und ab und riefen sich gegenseitig die sensationelle Neuigkeit zu: Im Wasser der Wiek trieb eine Wasserleiche. Annika trank schneller, sog den Rauch tiefer ein und weinte leise. Sie wusste nicht, ob sie hinuntergehen sollte, ob sie wissen wollte, wer die Leiche war.

    Das Gewitter war weitergezogen, die Luft wurde angenehm frisch, ein bisschen Wind kam auf. In ihrem Rücken teilten sich die Wolken, und die Abendsonne schien hindurch auf die sandige Steilküste gegenüber an der Huk, ließ sie orangerot leuchten, und die Fenster der Datschen und Wohnwagen vom Campingplatz durch die Baumkronen blitzen. Darüber der Himmel noch dunkelgrau, fast violett, die See dagegen moosgrün mit einem smaragdfarbigen Saum am Strand. Langsam tat der Wein seine Wirkung. Sie wurde ruhiger, fast schläfrig. Schön war es hier. Sie seufzte und ihre Gedanken kreisten, drifteten ab.

    Eine Achterbahn, ihr Leben war wie eine Achterbahn. Beim Besuch eines Vergnügungsparks in ihrer Kindheit hatte sich ihr das Erlebnis eingeprägt. „Wilde Maus" hieß das historische Fahrgeschäft. Wie man aus einem Gewusel am Boden sich plötzlich in einem der Wagen findet, festgeschnallt wird, und stetig und unwiderstehlich nach oben transportiert wird. Man kennt nur eine Richtung: Aufwärts, vorwärts. Die anderen bleiben zurück, man fühlt sich erhaben. Die Wilde Maus fährt ein paar Schleifen in der Höhe, mit ruckartigen Richtungswechseln, immer andere Ausblicke, das Gefühl der Höhe, aber auch pausenlos durchgerüttelt zu werden, im Bewusstsein des Augenblicks, schon mit dem Wissen, dass der Höhenflug von begrenzter Dauer ist, dass es wieder bergab geht, Fahrt aufnimmt. Für viele beginnt dann erst der Spaß, wenn es richtig

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