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Gefaxt: Dystopia Berlin
Gefaxt: Dystopia Berlin
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eBook395 Seiten4 Stunden

Gefaxt: Dystopia Berlin

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Über dieses E-Book

Berlin 2028 - Charlie Yussuf hat alles, was er braucht: eine erfolgreiche Karriere als Verschlüsselungsexperte und ein Leben mit Sunaia, geniale Physikerin und die Liebe seines Lebens. Doch ein missglücktes Experiment mit ihrem Teleporter wirft ihn zwanzig Jahre in die Zukunft. 
Nicht nur das. Er findet sich im Körper seines verhassten Bruders wieder, dessen bevorstehender Zerfall einen Wettlauf gegen die Zeit startet. Er hat nur wenige Tage, um Sunaia zu kontaktieren, und den Prozess umzukehren. Doch Sunaia hat als CEO eines weltführenden Konzernes ihre eigenen Sorgen und Feinde. Unerwartete Mitstreiter, helfen den beiden in ihrem Kampf gegen politische Intrigen und die russische Unterwelt. Ihr Ziel? Ein gemeinsames Leben im Treibsand einer düsteren Zukunft.
SpracheDeutsch
HerausgeberWortpalast
Erscheinungsdatum3. Apr. 2023
ISBN9783982518794
Gefaxt: Dystopia Berlin
Autor

Thomas Stefflbauer

Der gebürtige Österreicher hat jahrzehntelang in den USA gelebt und wohnt seit 2013 in dem sich ständig verändernden Berlin . Diese Mischung aus kulturellen Lebenserfahrungen fließt eins zu eins in seine Geschichten und seine Erzählungen ein. Spannende Inhalte mit Tiefgang und surrealen Aspekten sind seine Spezialität.

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    Buchvorschau

    Gefaxt - Thomas Stefflbauer

    Kapitel 1

    „Ach, was soll’s, wir nehmen doch die große Flasche."

    Sunaia hüpfte vor mir den Gang im Supermarkt entlang. „Wenn wir’s diesmal richtig anstellen, müssen wir uns nie wieder Sorgen um unsere Finanzen machen."

    Draußen regnete es in Strömen und verwandelte das Kopfsteinpflaster in ein Labyrinth aus Pfützen. Eine Strähne ihres blauschwarzen Haares hatte sich aus dem Pferdeschwanz gelöst und hing ihr ins Gesicht. Doch sie war zu sehr damit beschäftigt, wie ein Kind von Pfütze zu Pfütze zu springen, um sich darum zu kümmern. Leider passierte das dieser Tage viel zu selten. Erst als die Wohnungstüre hinter uns ins Schloss fiel, hatte sich ihr Übermut gelegt. Sie strich sich die triefenden Haare aus der Stirn und hängte ihren Regenmantel neben meinen.

    „Stell den Schampus schon mal kalt", rief sie mir nach, als ich in die Küche ging.

    „Ich kontrolliere noch einmal die Kalibrierung."

    Sunaia war wieder ganz die Alte. Kühl und konzentriert, so wie im Labor am Max-Planck-Institut, wo ich sie jeden Tag pünktlich um fünf Uhr abholte. Manchmal ging ich spät abends noch auf ein Bierchen mit Freunden aus, während sie sich ihren Aufzeichnungen widmete.

    Ich beneidete sie um die Fähigkeit, Arbeit und Vergnügen so strikt trennen zu können. Meine besten Ideen kamen grundsätzlich erst nach Feierabend. Dann sprang ich oft mitten unterm Essen auf, um mir Notizen zu machen. Anfangs hatte Sunaia das verrückt gemacht, doch sie revanchierte sich mit endloser Nachtarbeit, und nach wenigen Monaten fragten wir uns, wie wir jemals ohne einander hatten leben können.

    Ich kam aus der Küche zurück, legte mich mit dem Laptop aufs Bett und widmete mich einem besonders kniffligen Algorithmus. Zwei Stunden später hantierte Sunaia immer noch mit dem Faxgerät herum. Sie nannte es Faxgerät! Von wegen. Es war modernste Technologie. Aber es war genau dieser trockene Humor, in den ich mich von Anfang an verliebt hatte … in ihn und ihre dunklen Augen.

    Erst nach unzähligen Anträgen erhielt sie die Erlaubnis, den Prototyp, dieses Faxgerät, mit in unsere Wohnung nehmen zu dürfen. Sie brannte darauf, es in unkontrollierter Umgebung zu testen. Schließlich war ihr Endziel, die Dinger in jedes Wohnzimmer der Welt zu verkaufen.

    „Ich weiß, dass es auch mit Menschen funktioniert, sagte sie. „Ich muss es nur noch beweisen.

    Wochenlang hatte mich Sunaia angefleht, sie möge mich „faxen". Es bestehe absolut kein Risiko, hatte sie betont.

    Aber selbst nachdem sie meine DNA bis ins letzte Molekül durch analysiert hatte, wusste ich, dass das nicht stimmte. Es gab immer noch zu viele unbekannte Faktoren.

    „Ich würde mich ja selbst faxen, hatte sie gemeint, „aber ich traue keinem Anderen mit der Beaufsichtigung des Prozesses. Nicht einmal dir.

    „Du könntest es mir beibringen, schlug ich vor, doch sie winkte ab. „Nichts für ungut, aber das übersteigt dein Fachwissen. Ich muss die Kalibrierung in Echtzeit einstellen.

    „Also ist es eine Frage des Gespürs?", meinte ich.

    „Nein, es gibt natürlich Sicherheitsvorkehrungen. Wir werden das später genauer einstellen, wenn wir die Ergebnisse analysiert haben. Aber ich will, dass es gleich beim ersten Mal funktioniert."

    Ich sah ihr zu, wie sie das System kalibrierte und die Linsen sterilisierte. Als sie die Einstellungen zum fünften Mal überprüfte, konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich klappte meinen Laptop zu und klatschte in die Hände. „Okay, Liebes. Los geht's!"

    Während sie das Gerät auf ein drei-beiniges Stativ setzte, holte ich die riesige Champagnerflasche aus dem Kühlschrank, nahm zwei Gläser aus dem Kabinett und stellte alles zusammen auf ihren Nachttisch.

    „Ich bin bereit", sagte ich, obwohl ich tief drinnen vor Angst schlotterte.

    Was genau da drin schlotterte, war mir allerdings gar nicht klar. Ich dachte an meinen Therapeuten: „Die Frage ist wer", hätte er gesagt, „nicht was." Und dabei bedeutungsvoll genickt.

    Ich lehnte mich zurück und versuchte, entspannt zu wirken, während sie den kegelförmigen Lauf des „Faxgerätes" auf meinen Bauch richtete. Obwohl ich selbst den größten Teil der Software entwickelt hatte, waren mir die Biologie des Prozesses und sogar die Logik hinter der Hardware völlig schleierhaft. Ich wusste, dass Sunaia tonnenweise Nanotechnologie in den Molekularprozessor gepackt hatte. Trotzdem glich er eher einem Hybriden aus Teleskop und Videokamera mit Dutzenden von Lichtern, Knöpfen und Schaltern. Irgendwo musste die ganze Hardware schließlich hin.

    „Ich werde dich einfach ans andere Ende des Raumes teleportieren, erklärte sie. „In den Stuhl dort drüben. Babyschritte. Nichts Großes.

    „Alles klar", murmelte ich und lehnte mich zurück.

    Klar war natürlich nichts. Alles, was ich mit Bestimmtheit wusste, war, dass ich mich auf eine Panikattacke zubewegte.

    „Mach schnell, bevor ich mir’s anders überlege", sagte ich.

    Sunaias Perfektionismus war der einzige Grund, warum ich mich überhaupt als Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt hatte. Sunaia machte keine Fehler. Aus gutem Grunde, denn ihre Arbeit war brandgefährlich. Völlige Disintegration sei nicht zu hundert Prozent auszuschließen, meinte sie. Doch die Chance liege bei eins zu einer Million. Desintegration war ein Zustand, den ich besser kannte als die meisten. Eine Burnout-Attacke hatte mich vor vier Jahren völlig aus der Bahn geworfen. Wochenlang war ich auf Sunaias Hilfe angewiesen gewesen. Darum hatte ich jetzt einen Therapeuten. Aber es war Sunaia, die mich jeden Tag aufs Neue vor mir selbst rettete. Und ich sie.

    „Irgendwelche letzten Wünsche?", fragte sie.

    „Vielleicht noch ein Kissen auf dem Stuhl?", antwortete ich.

    Sie schenkte mir ein übertrieben süßes Lächeln. „Ich werde dich besonders langsam bewegen. Aber ehrlich, mach dir keine Sorgen. Schließ einfach die Augen und genieße den Trip."

    Und damit drückte sie den Abzug.

    Ich spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Sonst nichts. Nicht die geringste Bewegung.

    ***

    Ich dachte daran, wie sie noch vor einer Stunde von Pfütze zu Pfütze gehüpft war.

    Nun saß sie vor mir im Bett mit bebenden Lippen und feuchten Augen. Doch ich blieb ganz still. Sunaia ärgerte sich nie allzu lange. Sie konnte es sich nicht leisten.

    „Scheiß drauf, schniefte sie und füllte die schlanken Champagner Flöten. „Ich brauch ’nen Drink.

    „Was zum Teufel ist passiert?", mir war immer noch etwas flau im Magen.

    „Es ist kompliziert", seufzte sie und reichte mir mein Glas.

    „Versuch’s einfach", ermunterte ich sie.

    Wir stießen an und tranken schweigend aus. Dann rückte sie näher und schenkte noch einmal nach. „Wenn ich dir sage, dass der Molekularspaltungskompressor eine Anomalie registriert haben muss, würde das die Sache erklären?"

    Das Kribbeln in meinem Magen kam zurück. Diesmal wusste ich warum. In Sunaias Brust wohnten zwei Seelen. Eine davon war kalt und berechnend und durchbohrte mich mit prüfenden Blicken. Es war die andere, in die ich mich verliebt hatte. Nur mit dieser Seite war ich ganz.

    „Klingt gefährlich", knurrte ich und schluckte meinen aufkeimenden Zorn hinunter.

    „Ist es aber nicht, konterte sie. „Betrachte es als eine Art Sicherheitsschloss. Dir ist nichts passiert. Hast du ein leichtes Kribbeln im Bauch gespürt?

    „Hm, ja."

    „Du hast morgen wahrscheinlich einen flauen Magen. Aber das ist alles."

    „Das ist alles? Sag mal, hast du sie noch alle?, mein Zorn hatte die Oberhand gewonnen. „Ich habe deine Aufzeichnungen gelesen.

    Ich sah einen Anflug von Panik in ihren Augen. „Welche Aufzeichnungen? „Die Tierversuche. Nebenwirkungen reichen von Haarausfall bis hin zu inneren Blutungen. Und das ist erst der Anfang.

    „Charlie, sie nahm meinen Kopf in beide Hände. „sieh mir in die Augen. Was du da gelesen hast, das waren die Aufzeichnungen aus den ersten Experimenten. Diese Fehler wurden längst ausgebügelt. Denkst du wirklich, ich würde die einzige Person aufs Spiel setzen, die mir geblieben ist? Ich liebe dich Charlie. Dich. Den einzigen Charlie da drin, den es wirklich gibt. Du weißt das. Sag mir, dass du das weißt.

    Erste Tränen schimmerten in ihren Augen. Ich wusste, wie sehr sie Tränen hasste. Mein Zorn verflog so schnell, wie er gekommen war.

    „Naja, wenn du sagst, es ist ok, dann ist es ok. Vielleicht sollte ich’s mit dem Alkohol etwas ruhiger angehen lassen?"

    Sie wischte sich die Augen und zwinkerte mir zu. „Damit ich die ganze Flasche alleine austrinke? Nee, mein Lieber. Außerdem könnte der Alkohol einen Teil der Wirkung neutralisieren."

    Ich warf ein Kissen nach ihr. „Das hast du dir gerade ausgedacht."

    „Im Ernst, erwiderte sie und klammerte sich an das Kissen, als wäre das alles, was zwischen ihr und der nächsten schweren Depression stand. „Du fühlst du dich morgen vielleicht mies, aber ich bin diejenige, die ganz von vorne anfangen muss.

    „Tut mir leid, sagte ich. „Ich weiß, wie viel davon abhängt. Hat der koreanische Hedgefonds zurückgerufen?

    „Ja. Deshalb muss es ja funktionieren. Ich meine, wenn’s mir nur ums Geld ginge, hätte ich meine Aufzeichnungen schon etliche Male verkaufen können, aber …"

    Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Aber du willst mehr, beendete ich ihren Satz. „Bist du dir sicher?

    Sie warf mir einen fragenden Blick zu.

    „Ich meine, ist es nicht genau das, was sich deine Eltern für dich gewünscht hätten?"

    Sie warf mir das Kissen an den Kopf. „Lass gefälligst meine Eltern aus dem Spiel. Du bist derjenige, der nicht einmal mit seinem eigenen Bruder spricht?"

    Ich verschüttete die Hälfte meines Glases.

    „Das ist was anderes. Er ist ein Arschloch. Und überhaupt, was ist falsch daran, deine Ergebnisse an den Höchstbietenden zu verkaufen? Wir könnten endlich die Wohnung kaufen, anstatt jeden Monat die Miete berappen zu müssen. Sie würden dich wahrscheinlich trotzdem als Beraterin einstellen."

    „Müssen wir das wirklich noch einmal besprechen? Ich will mein eigenes Ding durchziehen. Dafür brauche ich Investoren. Das Institut kann sich meinetwegen mit meinen Lorbeeren schmücken. Das ist mir scheißegal."

    Sie füllte ihr Glas nach und trank es in drei Schlucken aus. „Ich muss nur beweisen, dass das Ding auch mit Menschen funktioniert. Dann kann uns nichts mehr aufhalten."

    Ich warf einen Blick auf die Flasche. Sie war halb leer und ich spürte, wie das Zimmer sich zu drehen begann.

    „Ich glaube, ich weiß, was schief gelaufen ist, flüsterte Sunaia. „Die Halbschleife hinter dem Quantenbeschleuniger. Ich muss sie nur auf fünf NM hochkurbeln, um den Kompressor zu umgehen.

    Sie schüttete ein paar Tropfen Champagner auf meinen Bauch, und schlürfte sie aus der Vertiefung um meinen Nabel.

    „Willst du mich zu `ner zweite Runde überreden?", stöhnte ich.

    „Nein, aber wenn du drauf bestehst?"

    „Du bist verrückt, lallte ich. „Ich habe keine Lust, mich in meine atomaren Bestandteile aufzulösen, nur weil deine verdammte Halbschleife sich verknotet hat. Außerdem bist du sturzbetrunken. Und erzähl mir jetzt bloß nicht, dass du nüchtern bist.

    „Doch. Bin ich", sagte sie mit ernster Miene.

    Sunaia hatte schon immer mehr vertragen als ich. Sie stand auf, zog den Gürtel aus den Schlaufen ihres Bademantels und legte ihn in gerader Linie auf den Boden. Dann machte sie drei kleine Schritte entlang der Linie, drehte am Ende eine kleine Pirouette und trippelte wieder zurück. Alles ohne das geringste Schwanken.

    „Da staunst du, was?", sagte sie mit einem triumphierenden Grinsen.

    Sie ließ sich neben mich aufs Bett fallen und zupfte an meinem Brusthaar herum. „Streng genommen ist das alles sowieso völlig illegal, also können wir`s genauso gut noch einmal versuchen."

    Sie setzte sich auf und schenkte sich ein weiteres Glas ein. „Du bist es mir schuldig."

    „Was meinst du?"

    „Na du verschwindest doch ständig nach der Arbeit mit deinen Kumpels von der Agentur, während ich mich hier ohne Bezahlung abrackere."

    „Das nennt man Networking. Meine besten Jobs kommen so zustande."

    „Nix als Ausreden, grinste sie. „Stell dich nicht so an. Du brauchst dich nur hinzulegen. Die eigentliche Arbeit übernehme ich.

    „Nur über meine Leiche", sagte ich.

    Sie antwortete mit einem verführerischen Lächeln.

    „Das mit der Leiche ist mir verdammt ernst", setzte ich nach, aber ich war zu betrunken, um mir noch ernsthaft Sorgen zu machen.

    Außerdem bekam Sunaia immer, was sie wirklich wollte. Vor allem ohne Gürtel und T-Shirt.

    Kapitel 2

    Ich wachte am Boden im Wohnzimmer auf, mit monströsen Kopfschmerzen und pelziger Zunge. Keine Ahnung, wie ich hierhergekommen war. Plötzlich saß ich kerzengerade auf dem Teppich. Hatte sie mich doch noch teleportiert, oder war es ein Fall von Burnout? Der Letzte lag über ein Jahr zurück, aber ich wusste, worauf ich mich eingelassen hatte. Die Angst, der Sex, der Alkohol …

    Sofort setzten die Kopfschmerzen wieder ein. Diesmal wesentlich kräftiger. Mit rasendem Herzen tastete ich meinen Körper ab. Alles war noch dort, wo es hingehörte. Ich sah mich um. Auf dem Teppich waren keine Spuren von Blut. Sogar das Kribbeln im Bauch war verschwunden. Nur mein Herzschlag machte mir Sorgen, aber das war wohl die Panik. Eine Panik, die bereits verebbte angesichts der Fakten. Denn bis auf die Nachwirkungen des Alkohols schien mir nichts zu fehlen. Innere Blutungen hätte ich wohl kaum überlebt und der atomare Zerfall war offensichtlich ausgeblieben. Es sah nicht danach aus, dass ihr Experiment gelungen war.

    Plötzlich bemerkte ich, dass ich kaum schlucken konnte. Mein Mund und meine Kehle waren wie ausgedörrt. Na klar, ein Blackout nach dem vielen Sekt. Ich musste wohl auf der Suche nach Wasser auf dem Boden gelandet sein. Der Rest war verschwunden in einem schwarzen Loch.

    Stöhnend stolperte Ich ins Badezimmer und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Der Mann im Spiegel war ich. Mein wahres Ich. Daran gab es nichts zu rütteln.

    Ein Geräusch wie das Öffnen einer Tür drang aus dem Flur zu mir. Ich steckte den Kopf aus dem Badezimmer, um sicherzustellen, dass sich niemand in die Wohnung geschlichen hatte. Doch da war niemand. Seltsam. Wahrscheinlich der Wind. Sunaia hatte diese Obsession mit frischer Luft, egal wie kalt es draußen war.

    Ich schüttelte den Kopf, zog mich wieder ins Badezimmer zurück und warf zwei Aspirin ins Wasserglas. Während die Tabletten sich zischend auflösten, spürte ich, wie auch meine Sorgen sich langsam verabschiedeten. Ich war fest entschlossen, Sunaias unausweichlicher Enttäuschung etwas entgegenzusetzen. Vor allem heute, an unserem Hochzeitstag. Fünf Jahre verheiratet und noch immer dieses Kribbeln im Bauch – ähnlich wie gestern, aber aus anderen Gründen. Sunaia war der Stern, um den ich kreiste.

    Ich schlich mich ins Schlafzimmer und warf einen Blick aufs Bett. Sie schlief tief und fest.

    Ja! Ich ballte die Fäuste und tanzte einen kleinen Freudentanz um die vertrocknete Pflanze im Schlafzimmer herum.

    Wenn sie auch nur halb so verkatert war wie ich, sollte es mir gelingen, frische Brötchen zu kaufen und ein ausgiebiges Frühstück vorzubereiten, noch bevor sie die Augen aufschlug. Vielleicht schaffte ich es auf dem Rückweg sogar noch, Blumen zu kaufen.

    Ich ging zurück ins Badezimmer und schüttete das Aspirin in mich hinein. Vor dem Ausgang suchte ich vergeblich nach meiner blauen Jacke und dem Schlüssel. Seltsam, dachte ich. Ich hätte geschworen, dass ich sie gestern an der Garderobe abgehängt hatte. Ich schob es auf den Alkohol und kramte Sunaias Pay-Chip aus ihrer Handtasche. Dann fiel mir ein, dass ich den Schlüssel wohl in der Küche vergessen hatte. Tatsächlich fand ich ihn auf der Zuckerdose und kehrte kopfschüttelnd in den Flur zurück. Mein altes Ich, das vor Sunaia, hatte diese Probleme ständig gehabt. Doch das war Jahre her. Ich schnappte mir eine etwas zu warme Daunenjacke und machte mich endlich auf den Weg.

    Fünf Minuten später erreichte ich die Bäckerei. Verwundert über das brandneue Gasprom Display direkt vor dem Eingang reihte ich mich in die Warteschlange ein. Erst gestern hatte jemand das alte Display mit Brechstangen zertrümmert, und nun stand da bereits ein Neues. Diese Konzerne hatten zu viel Geld, zu viel Macht. Definitiv zu viel Macht.

    Plötzlich fiel mein Blick auf einen Mann, am anderen Ende des Raumes. Er war dabei, das Café zu verlassen. Aber es war seine Kleidung, die meine Aufmerksamkeit erregte. Er trug einen blauen Blazer.

    „Was darf’s sein?", zwitscherte das Mädchen hinter dem Tresen und griff nach einer Papiertüte.

    „Was? Äh, zwei Croissants bitte", murmelte ich und wartete auf meine Bestellung.

    Blaue Blazer gibt’s wie Sand am Meer, dachte ich und genoss den frischen Kaffeeduft. Seit dem neuen Handelsabkommen mit Russland war Kaffee fast unerschwinglich geworden, doch Sunaia und ich würden uns nie wieder Gedanken über den Preis von überteuerten Cappuccinos machen müssen. Der gestrige Tag war nur ein vorübergehender Rückschlag gewesen. Das nächste Mal würde es ganz bestimmt klappen. Wir würden bald reich sein.

    „Ihre Croissants, sagte die Verkäuferin. „Darf es sonst noch was sein?

    Ich bedankte mich, zahlte und verließ die Bäckerei durch denselben Ausgang wie der Mann mit dem Blazer. Doch der Kerl war bereits verschwunden.

    Die letzten zwei Jahre waren nicht einfach gewesen. Sunaia hatte alle Jobangebote ausgeschlagen, egal wie lukrativ. Sie wollte ihre Forschung als unabhängiger Post-Doc um jeden Preis fortsetzen, während ich mich als freiberuflicher Softwareentwickler in einer Stadt voller Freiberufler abmühte. Ich verdiente trotzdem gutes Geld, und das Institut gewährte Sunaia uneingeschränkten Zugang zu ihren Ressourcen. Unser Geheimnis war mein Beitrag als Verschlüsselungsexperte. Mein Code würde es uns erlauben, die Patente unangreifbar zu machen, wenn das Ding endlich funktionierte.

    Vor drei Monaten war es dann endlich so weit. Sie hatte eine Stahlkugel mit zwei Zentimeter Durchmesser teleportiert. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und Investoren standen schon bei dem bloßen Gerücht über eine erfolgreiche Teleportation mit Tieren in der Schlange. Es war nicht einfach, unsere Adresse geheim zu halten.

    Ich bog ums Eck, wo unser Lieblingsvietnamese bereits sein Tagesmenü ins Fenster gestellt hatte. Die Gegend hatte durchaus ihre Vorzüge, trotz Gasprom Displays und Kinderwägen mit schreienden Bälgern.

    Seit dem Ende des Ukrainekrieges im Jänner 2024 und dem Machtwechsel im Kreml hatten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wieder normalisiert. Als amerikanische Investoren noch die Vormachtstellung in Europa hatten, gab es zumindest eine verlässliche Einhaltung von Patentrechten und eine gewisse rechtliche Absicherung des Eigentums. Seit jedoch die östlichen Mächte das Feld übernommen hatten, herrschte ständig die Gefahr von Spionage. Ideendiebstahl in der Forschung stand auf der Tagesordnung. Sunaia profitierte von all dem als die neue, nationale Hoffnung im Transportwesen. Aber nur, wenn sie schnell genug agierte.

    Ich steuerte auf den Blumenladen am Ende unserer Straße zu und erinnerte mich an den Anruf der Polizei, wenige Wochen nach unserer Hochzeit.

    Sunaias Eltern waren bei einem Hausbrand ums Leben gekommen. Der Schock saß so tief, dass sie das Begräbnis mir überließ. Entfernte Verwandte aus Übersee hatten Beileidsbekundungen geschickt, und bis auf ihren ältesten Kumpel Robert erwiesen sich die meisten Freunde als Enttäuschung. Sie war ein Einzelkind. Also gab es nur noch uns, ihr Studium und die dunklen Wolken in ihrem Kopf.

    Lächelnd stieß ich die Tür des Blumenladens auf. „Ein Dutzend Rosen, bitte und die blaue Vase da drüben."

    ***

    Als ich in die Wohnung zurückkehrte, wässerte ich die Blumen ein, warf ein paar Zeilen auf die winzige Grußkarte, die mit den Rosen kam und bereitete zwei Tassen Espresso zu. Dieses Jahr würde ich nicht das Arschloch sein, das auf unseren Jahrestag vergaß.

    Sunaia schnarchte immer noch, als ich das Tablett mit der Karte, dem Espresso und den Croissants auf ihrem Nachttisch abstellte. Ich war nahe dran, ihr Schnarchen aufzunehmen, da sie sich immer über mein „lautes Atmen" beschwert hatte. Aber das hätte unser romantisches Frühstück ruiniert.

    Plötzlich läutete mein Telefon.

    „Hey Charlie. Ich bin’s, Robert. Wenn du morgen Abend vorbeikommst, kannst du mir meine Yankee-Mütze mitbringen? Ich muss sie letzte Woche nach dem Spiel vergessen haben."

    Als Workaholic und Unternehmensberater vergaß er ständig darauf, dass unser Sonntagmorgen tabu war.

    „Charlie? Bist du noch dran?", fragte er nach.

    „Warum sollte ich bei dir vorbeikommen?", gab ich zurück. Einen Moment lang blieb er still. Ungewöhnlich für Robert, der sonst ständig drauflos quatschte.

    „Weil Sunaia mir gestern zugesagt hat."

    „Hat sie das?"

    „Naja, eigentlich wollte ich euch ja für heute einladen. Aber sie meinte, du hättest schon was für sie geplant für heute. Hochzeitstag und so."

    „Äh, natürlich, murmelte ich. „Tut mir leid, Robert. Zu viel getrunken, gestern. Wir werden morgen Abend da sein. Mach dir keine Sorgen. Und deine Mütze bringe ich mit. Ich weiß ja, wie viel sie dir bedeutet.

    „Ohhhhkay, sagte Robert in einem Ton, der das genaue Gegenteil vermittelte. „Grüß mir Sunaia.

    „Mach ich", murmelte ich und legte auf.

    „War das Robert?"

    Ich wirbelte herum und sah Sunaia in die Küche schlurfen. Sie schirmte ihre Augen gegen die helle Morgensonne ab und rieb sich mit zwei Fingern die Schläfen.

    „Ja, das war Robert, sagte ich und schlang meine Arme um sie. „Übrigens, alles Gute zum Jahrestag, du hinterhältige Hexe. Du hast das also alles bis ins Kleinste geplant?

    „Natürlich, lachte sie und nahm mich bei der Hand. „Ich war dir immer schon einen Schritt voraus. Und außerdem hättest du sonst nie zugestimmt, gefaxt zu werden, oder?

    „Wa … was?", stotterte ich.

    Sie unterbrach mich mit einem Schlag auf die Schulter.

    „Wie hast du es eigentlich geschafft, vor mir aufzustehen?"

    Ich zuckte mit den Achseln. „Ist nicht meine Schuld, dass du keinen Alkohol verträgst."

    Einen Moment lang runzelte sie die Stirn, dann beugte sie sich vor für einen langen Kuss.

    „Danke fürs Erinnern, sie hielt den Zettel mit meiner Nachricht hoch. „Der Kaffee war großartig.

    „Ich habe noch etwas anderes für dich", flüsterte ich und strich eine lose Strähne hinter ihr exquisit geformtes Ohr.

    Sie warf mir einen gequälten Blick zu. „Warum funktioniert das Ding nicht mit Menschen?"

    „Mach dir keinen Kopf. Wir können es ja später nocheinmal versuchen, ich deutete auf die braune Tüte auf dem Küchentisch. „Aber erst möchte ich mit dir diese leckeren Croissants knabbern, ich legte eine dramatische Pause ein. „und zwar im Bett."

    Plötzlich läutete es an der Tür. Sunaias Augen spiegelten meine eigene Überraschung.

    „Wer kann das sein?, sie ließ meine Hand los. „Keine Sorge, ich mache das.

    Sie zog den Gürtel um ihren Morgenmantel enger und ging in Richtung Flur. Bevor sie um die Ecke bog, schenkte sie mir ein breites Lächeln.

    „Sei so lieb. Mach mir noch eine Tasse Espresso, ja?"

    Ich hörte zu, wie sie in das Intercom sprach, während ich Kaffee in die Maschine löffelte. „Keine Schlüssel? Was? Wer sind Sie?"

    Panik schnürte mir die Kehle zu. Die Jacke! Der Typ in der Bäckerei. Was, wenn es … unmöglich …

    „Sunaia! Warte!"

    „Da ist jemand, der sich einen Scherz mit uns erlaubt!, rief sie zurück. „Er behauptet, du zu sein!

    Ich rannte durch die Küche und rutschte auf dem glatten Parkettboden in den Flur. Plötzlich rutschte ich nicht mehr. Das Licht hatte sich verändert. Dies war nicht mehr unser hell erleuchteter Flur mit eingebauten Halogenlampen. Das schwache Licht von zwei winzigen Glühbirnen erreichte kaum die schmutzigen Wände, und mein Körper fühlte sich plötzlich ganz falsch an.

    Kapitel 3

    Ich schaute auf meine Füße hinunter. Graue Socken auf rissigen Fliesen. Ich hasste Grau. Woher kamen diese Socken? Ich besaß kein einziges Paar grauer Socken.

    Dann war da dieser Bauch, nicht flach wie meiner, sondern aufgedunsen und labbrig. Er zerrte an den Knöpfen eines weißen Hemdes, aus dem der unangenehme Geruch von frischem Schweiß aufstieg. Was zum Teufel machte ich hier?

    Es gab nur eine Antwort: Der Teleporter. Es hatte funktioniert.

    Nein, eben nicht … Scheiße!

    Panik machte sich breit und schnürte mir die Kehle zu. Mein Herz lief auf Hochtouren. Ich konzentrierte mich auf meinen Atem. Ein, aus, ein, aus.

    „Mach dir keine Sorgen, hatte sie gesagt. „Eins zu einer Million, hatte sie gesagt. Nun ist es doch passiert.

    Nein, warte. Ich war noch am Leben. Ich konnte denken, sehen, atmen, hören, fühlen. Aber dieser Körper …

    Ich hob meine Hände, drehte die Handflächen nach oben. Weich wie die Hände eines Büroarbeiters. Dicke Finger, leicht behaart.

    Ich hatte die Panik wieder im Griff. Trotzdem fiel es mir schwer, zu atmen, als hätte sich ein Ring um meinen Brustkorb gelegt. Etwas stimmte nicht mit diesem Körper. Eine Aufgabe für später. Erst brauchte ich Erklärungen. Wo war ich gelandet? Wer war ich?

    Ich sah mich um. Vier Türen gingen vom Flur ab. Ich setzte mich in Bewegung. Jeder Schritt, eine Anstrengung, als hätte die Erdanziehungskraft sich vervielfacht.

    Die erste Tür führte in ein enges Schlafzimmer mit Blick auf graue Fassaden. Ich schloss die Tür und wandte mich der nächsten zu. Sie führte zu einem winzigen Zimmer mit zwei Schränken, einem Stuhl, einem Schreibtisch. Darauf ein Laptop, dünn wie Papier. Ich stapfte auf den Tisch zu und setzte mich. Der Stuhl knarrte. Vor mir stand ein gerahmtes Foto. Ein fetter Mann in seinen späten Vierzigern grinste mir entgegen. Neben ihm eine übergewichtige, blonde Frau und zwei Kinder. Ein Junge, ein Mädchen. Wahrscheinlich sieben und zehn Jahre alt.

    Es fiel mir schwer, das Alter von Kindern zu schätzen. Das Letzte, worüber Sunaia und ich uns den Kopf zerbrochen hatten, waren Kinder. Ich konzentrierte mich auf den Mann. Sein Gesicht kam mir seltsam vertraut vor, aber ich konnte es nicht einordnen. Das Fischen nach Erinnerungen brachte neue Fragen zum Vorschein. Hinter den Fragen lauerte Panik. Was ich brauchte, waren Antworten.

    Mit zitternden Händen griff ich nach dem Laptop. Ich suchte nach einem Schlitz, einem Knopf … nach irgendetwas, um das hauchdünne Ding zu öffnen.

    „Verdammt", knurrte ich, als es plötzlich hinter mir klopfte. Sofort verkrampfte sich mein Magen.

    „Papa?"

    Ein dicklicher Junge in grauer Latzhose stand in der halb geöffneten Tür und machte einen zögernden Schritt ins Zimmer.

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