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Die Goldquelle
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eBook219 Seiten3 Stunden

Die Goldquelle

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Über dieses E-Book

"Die Goldquelle" ist ein Kriminalroman. Alfred Neumann war ein deutscher Autor historischer und zeitgeschichtlicher Romane. Seine stark dialogisierten Romane sind aus dem Konflikt zwischen tragischem Weltgefühl und optimistischem Lebensgefühl hervorgegangen. Aus dem Buch: "Sie waren auch dazu da, um Betrunkenen den Eintritt zu verwehren; denn gegenüber dem gelben Bau war die »Goldquelle«, ein Bierlokal, mit der gleichen gelben Farbe angestrichen und recht rücksichtslos aus dem grauen Mietshaus herausgestrichen, dessen Erdgeschoß es einnahm. Diese »Goldquelle«, der Straße zu gleicher Zeit entsprungen wie das Finanzinstitut, war die Animierkneipe des "Volkskredits" und schenkte morgens von acht bis neun Freibier aus, also in der Stunde vor der Schaltereröffnung – eine sonderbare Bierstunde. Aber der »Volkskredit« und die mit ihm verbundene »Goldquelle« kümmerten sich nicht um die Zeit oder Unzeit des Durstes, sondern um den Durst schlechthin, und außerdem verabfolgten sie nur einen Liter auf den Kopf. Betrunkenen war der Eintritt in das Bankhaus verboten."
SpracheDeutsch
HerausgeberSharp Ink
Erscheinungsdatum27. März 2023
ISBN9788028299729
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    Buchvorschau

    Die Goldquelle - Alfred Neumann

    Erstes Kapitel

    Inhaltsverzeichnis

    Der Tag begann wie immer, der Lärm überfiel die ehemals stille Straße gegen acht Uhr, ländliche Gefährte polterten grob über das Pflaster und luden laute Menschen ab, laute Menschen zogen zu Fuß heran, ein Aufmarsch krachender Stiefel und Stimmen – und die Anwohner, mittlere Rentner, mittlere Beamte, murmelten ihre allmorgendliche Verwünschung. Die fremdartige und ungehörige Aufführung – ein Schaden, mehr noch, eine Schande für die gutbürgerliche, fast schon patrizische Straße dauerte nun den ganzen Tag, man wußte es zur Genüge, sie begann eine Stunde vor der Schaltereröffnung und versickerte erst geraume Zeit nach Geschäftsschluß. Vor dem Portal eines mittelgroßen Hauses von auffällig gelber Farbe – vor zwei Jahren noch ein Wohnhaus wie die anderen auch, mit grauer ruhiger Fassade – standen schon zwei Schutzleute: und sie gaben dem Bau etwas Amtliches, Respektheischendes und Wohlbehütetes. Aber sie standen doch vor dem Sitz des »Volkskredits Vio«, dem Ziel der Straßenfriedensstörer, und waren dazu da, den Zustrom der sonderbaren Pilger zu regeln, die Angestauten bis neun Uhr in Reih und Glied zu halten und Exzesse der Ungeduld zu verhüten. Sie waren auch dazu da, um Betrunkenen den Eintritt zu verwehren; denn gegenüber dem gelben Bau war die »Goldquelle«, ein Bierlokal, mit der gleichen gelben Farbe angestrichen und recht rücksichtslos aus dem grauen Mietshaus herausgestrichen, dessen Erdgeschoß es einnahm. Diese »Goldquelle«, der Straße zu gleicher Zeit entsprungen wie das Finanzinstitut, war die Animierkneipe des »Volkskredits« und schenkte morgens von acht bis neun Freibier aus, also in der Stunde vor der Schaltereröffnung – eine sonderbare Bierstunde. Aber der »Volkskredit« und die mit ihm verbundene »Goldquelle« kümmerten sich nicht um die Zeit oder Unzeit des Durstes, sondern um den Durst schlechthin, und außerdem verabfolgten sie nur einen Liter auf den Kopf. Betrunkenen war der Eintritt in das Bankhaus verboten.

    Wenn die nahe Ludwigskirche neun Uhr schlug, öffnete der Bankportier, ein ehemaliger Hatschier, also ein stattlicher, schimpffroher und befehlerischer Mann mit goldbetreßter Mütze und blauem Rock, das schmiedeeiserne Portal und ließ die ersten Zwanzig, die er mit dröhnender Stimme und herrschsüchtiger Hand abzählte, eintreten. Das kleine Treppenhaus füllte sich um Nu; denn oben, vor der Eingangstür zum Schalterraum, kam es zu einer neuen Stockung. Dort standen zwei Bankdiener, ein goldgesticktes »VV« im Jackenaufschlag und auf dem linken Ärmel, und teilten Nummern aus, gelbe Kartonstückchen mit schwarzen Ziffern. Da außerdem der Weg von der Tür zu den Einzahlungsschaltern durch gelbe Stricke nicht allein gekennzeichnet, sondern auch eingeengt war, so floß die erste Welle der Bankkunden nur langsam aus dem Vorraum ab. Der Hatschier ließ dann in einem Augenblick, der ganz in seinem Belieben stand – ob nun noch etliche Leute der ersten Gruppe zu sehen waren oder keine mehr –, die nächsten Zwanzig ein, und sein schnauzbärtiges Gesicht sah aus, als sei das Mißfallen an dem Treiben, das zu kommandieren er verpflichtet war, mit jedem neuen Schub im Wachsen. Doch solche unwirsche Lust, hinauszuwerfen, statt einzulassen, zeigte das Hatschiergesicht immer – der Ausdruck hatte also nichts mit diesem Tag zu tun.

    In dem kleinen Treppenhaus hing zur Rechten das Bild des Landesherrn, zur Linken das Bild einer noch jungen Frau, einer rothaarigen Frau mit ganz hellen Augen, die ein wenig schräg gestellt waren. Über dem Eingang zum Schalterraum war in großen schwarzen Lettern auf die gelbe Mauerwand die Hausdevise gemalt:

    Tue Recht und scheue niemand!

    Der Tag begann doch wie immer. Um die gewohnte Zeit, um zehn Uhr, nicht früher und nicht später, verließ Frau Franziska Vio, Inhaberin und Leiterin des »Volkskredits«, ihre Privatwohnung im zweiten Stock des Bankhauses und stieg die eigens für sie gebaute Wendeltreppe hinunter, die vom Wohnungsflur unmittelbar ins Vorzimmer ihres Privatbüros führte. Die Treppe war aus Eisen, Franziska war eine kräftige Frau mit lautem und raschem Tritt, sie liebte keine Leisetreterei, man sollte sie ruhig hören, sie kam wie ein kleines Donnerwetter die Poltertreppe herunter, es klang immer, als nahte sie in rauschender Wut: aber das Sekretariat unten wußte, daß es ihre Art war, ihr Temperament, der allmorgendliche Auftritt, nichts weiter; das Sekretariat wußte, daß die Herrin nicht zur Wut neigte und schlimmstenfalls nur zornig polterte und dann doch schon das schöne Lachen bereithielt, das Lachen aus dem Vollen, mit großem rotem Mund und wunderschönen Zähnen. Frau Vio verstand, lachend zu schimpfen; man ließ es sich gern gefallen, schon deshalb, weil es hübsch anzusehen war. Sie verstand auch, gar zu wilde oder gar zu zahme Klienten lachend vor sich zu warnen, im zugleich derben und anmutigen Dialekt des Landes. Man ließ sich gerne warnen oder locken, man sah sie an, und es kam auf die Lockung heraus oder doch auf den Rausch des Vertrauens. War es der Mund oder waren es die Augen?

    Das Sekretariat hörte sie kommen, wie an jedem Vormittag um zehn Uhr. Die eiserne Wendeltreppe kündigte sie kräftig an, das Poltern setzte sieh mit Erfolg gegen den Betriebslärm durch: Prokurist Leitschuh, der dem weißblonden Fräulein Nebel einen Brief diktierte, unterbrach nicht seine Beschäftigung, sondern trat nur einen kleinen Schritt von der jungen Dame zurück; denn er stand ihr sehr nahe. Noch war alles wie an jedem Tag, auf das Gepolter folgte der gehörige Schlag auf die Türklinke des Vorraums – und nun mußte man die Tür zuschlagen hören; denn Frau Vio, im Schwung, hielt sich nicht mit Türen auf, die erste Tür flog zu, die zweite Tür, zu ihrem Büro, flog auf, und zumeist dann, zwischen Türknall und Klinkenschlag, über allen Ankunftslärm hinweg, ertönte schon ihre dunkle und starke Stimme mit dem Kommando des Namens, entweder »Leitschuh« oder »Nebel«!

    Herr Leitschuh und Fräulein Nebel schauten auf, die Arbeit unterbrechend, und beide blickten auf die Wand aus geripptem, undurchsichtigem Glas, die das Sekretariat vom Vorzimmer des Privatbüros trennte. Denn die erste Tür war nicht zugeschlagen worden, man hörte plötzlich nichts mehr von Frau Vio – es war ungewöhnlich. Herr Leitschuh hüstelte. »Wo waren wir stehen geblieben, Fräulein Nebel?« fragte er, und nannte sie nicht beim Vornamen, wie sonst.

    Frau Vios täglicher und vernehmlicher Schwung brach heute also im Vorraum ab, in der offenen Tür, deren Klinke sie noch in der Hand hielt; und es schien ganz so, als sei sie sich der Stockung wenig bewußt. Sie stand da und lauschte, über der Wurzel ihrer kurzen geraden Nase erschienen zwei angestrengte Falten und ihre schrägen Augen schlossen sich auf einen Spalt. Sie war keine Lauscherin, sie hatte weder Lust noch Begabung dazu, sie trat ja fest auf und machte kein Hehl aus sich – sie hielt auch niemals mit ihrem Urteil über Lauscher und Schleicher hinter dem Berg und gefiel sich in etwas übertriebenen Maximen wie in dieser: daß ihr ein saftiger und krachender Sünder sehr viel lieber sei als ein sanfter frommer Fridolin auf Gummisohlen (eine Sentenz, die sie möglicherweise ihrer Zusammenarbeit mit Herrn Leitschuh unterlegte). Es gab nun auch für eine Lauscherin in der Tür zum Bürovorraum nichts zu erfahren; denn hier überschwemmte die Lärmwoge, die dauerhaft aus der Schalterhalle hereinschlug, jede Äußerung der einzelnen Menschen und selbst die unangenehme Stimme des nebenan diktierenden Prokuristen. Also lauschte die Frau auf den Geschäftslärm, den sie doch kannte wie kein anderer und in dem sie lebte, täglich von zehn bis zwölf und von vier bis fünf, und der ihr in den Ohren saß, wenn sie nachts nicht einschlafen konnte (nun, das geschah nicht oft, es geschah zum Beispiel gestern abend und war vielleicht eine Bosheit des überlasteten Magens, der ihr so die Freude am guten Essen und Trinken heimzahlte) – also war es nur das Rauschen des Betriebes, das sie abhörte, aus plötzlichem Kontrollbedürfnis?

    Die Menschen schieben sich in einer bestimmten Richtung und die Töne sind verworren, sie reden, lachen, sie schimpfen vielleicht auch und fordern die Stimmen der Aufsichtspersonen heraus, die mit ihren Anweisungen und Ermahnungen, mit ihren immergleichen Berufsworten über dem Tongeschwirr schweben: »In der Reihe bleiben! – Nicht drängeln! – Nach der Einlage zu den Zinsschaltern!« –; da man die Worte kennt, vermag man sie herauszuhören – und über dem quirlenden Chor der Wortgeräusche und der betriebstechnischen Kehrreime zucken die hellen scharfen Zahlen der Nummernausrufer.

    Dies also war zu hören. Es unterschied sich für das kundige Ohr in nichts vom täglichen und gewohnten Treiben. Frau Vio warf hinter sich die Tür ins Schloß, sie unterschlug gleichsam mit dem nachträglichen Türschlag die letzten Sekunden der Stockung und des befremdlichen Lauschens, sie war bereits wieder in ihrem täglichen Schwung. Herr Leitschuh nickte mit seinem kahlen Geierkopf, und dann rief Frau Vio auch schon seinen Namen, laut und eilig wie immer.

    Frau Vio saß schon hinter ihrem nüchternen Schreibtisch, auf dem große Ordnung herrschte. Sie saß auf einem sogenannten amerikanischen Bürostuhl mit Rücken- und Seitenlehne, der sich nicht nur drehte, sondern auch, ein wenig wie ein Schaukelstuhl, nach hinten nachgab, wenn sich der Sitzende zurücklehnte. Sonst verzichtete das Privatbüro auf Bequemlichkeit; es wies Regale, Rollschränke und ein paar Stühle aus dem gleichen gelbgebeizten Holz des Schreibtisches und des Drehstuhles auf, doch nicht einmal einen Spiegel. So streng war der Raum.

    Frau Vio sah Herrn Leitschuh an, der vor dem Schreibtisch stand, einen Briefordner unter dem Arm. Sie hatte eine klare Stirn, das Haar war in der Mitte gescheitelt und lief glatt und glänzend und straff am Kopf in den tiefen Nackenknoten. Auch das Gesicht war klar und hatte eigentlich weiche Linien; aber die Haut saß so glatt und straff über den ziemlich breiten Backenknochen und der reizvollen Mulde der Wangen (hier entstanden die Grübchen, wenn sie lachte), daß der Eindruck einer gewissen Härte entstand, gleichsam einer Material-Härte – und dadurch entzog sich das Gesicht auch der Schätzung seines Alters.

    »Na und?« fragte sie und drehte dabei auf der Schreibtischplatte die Hände um, so daß die Handflächen oben lagen, eine sonderbar ungeduldige Bewegung.

    Herr Leitschuh hatte ungewöhnlich tiefliegende Augen und so buschige Brauen, daß die Augenhöhlen im ständigen Schatten lagen oder wie dunkel angetuscht schienen. Vielleicht waren die Lider auch ein klein wenig geschminkt oder mit Ruß geschwärzt; denn seitdem er auf der Hochzeitsreise mit seiner längst verstorbenen Frau, vor zwanzig Jahren etwa, das außerordentliche Erlebnis gehabt hatte, auf Ischia als Jettatore verschrien zu werden und auf sich Korallenhörnchen und beschwörend gegabelte Finger gerichtet zu sehen, kultivierte er seinen dämonischen Blick und verdankte ihm sowohl geschäftliche als auch private Erfolge. Frau Vio gehörte zwar zu den wenigen Frauen, die ihn seelenruhig anschauen konnten, und sie hatte ihm sogar in der Frühzeit ihrer Beziehungen, als er im üblichen Zug seiner Blickdämonie zärtlich wurde, zwei Ohrfeigen gegeben (die zweite mit dem Handrücken): dennoch aber mochte es sein nackter Geierkopf mit dem unterstrichen bösen Blick gewesen sein, der sie bestimmt hatte, ihn zu erwählen – wenn auch nicht als Liebhaber, so doch als Mitarbeiter, zunächst als Einpeitscher ihrer ersten Darlehensgeschäfte und dann als Prokurist des »Volkskredits«. Sie fuhr gut mit ihm; denn er war tüchtig und kundig, ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftemacher und bei aller Kenntnis der menschlichen Schwächen und ihrer Nutznießung doch nur eine subalterne Figur – also nicht zu fürchten und unschwer zu durchschauen. Er war ein wenig zu verteufelt, zu verliebt in seinen bösen Blick, um ganz ohne Schminke auszukommen, er war, wenn man ihn zugleich beaufsichtigte und verachtete, ein ausgezeichneter Schenkkellner der »Goldquelle«, die geheimnisvoll und erfolgreich im gelben Haus des »Volkskredits« entsprang; er war vor allem, als offenbarer Teufelskerl, die beste Folie für Frau Vio selber; denn sie war ja die gute Quellenfee.

    Herr Leitschuh öffnete den Briefordner und sah hinein, so als müsse er sich über das zu Sagende informieren. Er sagte indessen, ohne aufzusehen:

    »Um es vorweg zu nehmen – der Mister von der General-Company ist noch im Hotel Vier Jahreszeiten, er war sehr liebenswürdig …«

    »Die Zuteilung!« rief Frau Vio aufgebracht, »mich interessiert nur die Zuteilung der Neuemission! Gibt er zehn Prozent oder nicht?«

    »Zehn Prozent«, sagte Herr Leitschuh oder er las es von seinen Papieren ab, »zehn Prozent wären sechshundert shares à tausend Dollar. Ich sagte dem Mister, daß wir auf diese Zuteilung rechnen – daß dieser Anteil der Placierungskraft des ›Volkskredits‹ gerade entspräche …«

    »Also gibt er sie oder nicht?« unterbrach Frau Vio und trommelte mit ihren langen polierten Fingernägeln auf die Tischplatte.

    »Einen Augenblick«, sprach der Prokurist höflich und schaute nun auch auf, mit dämonisch verschattetem Blick, »ich sagte dem Mister auch, daß bis vor kurzem die Zuteilungsbereitschaft der General-Company außer Zweifel zu sein schien – bis vor ganz kurzem …«

    Nun geschah es, daß Frau Vio den altvertrauten und gering geschätzten bösen Blick ihres Mitarbeiters nicht aushielt und daß plötzlich auch ihre aufgebrachte Ungeduld zerstob, so schnell wie sie gekommen war. Frau Vio sah auf die Schreibtischplatte, ihre Augen waren ganz schmal, und dann sagte sie recht still: »Und was antwortete er darauf – auf die Anspielung?«

    »Gar nichts«, sagte Herr Leitschuh, »er lächelte etwas verlegen, aber sehr liebenswürdig.«

    »Und wieviel bot er uns an?«

    »Er stotterte etwas von maximal drei Prozent – unverbindlich«, antwortete der Prokurist und zuckte mit den mächtigen Brauen, auf verrucht belustigte Art; und dann fügte er hinzu: »Er ist noch im Hotel, wie gesagt. Vielleicht erreichen Sie mehr.«

    »Ich verzichte«, sagte Frau Vio leise.

    »Es scheint mir das Vernünftigste«, meinte Herr Leitschuh ohne Zögern.

    »So?« fragte sie gedehnt und böse: »und wenn ich gesagt hätte, ich spreche nochmals mit dem Mann, um mehr zu erreichen – was hätten Sie dann geantwortet?«

    »Ich hätte mich im stillen gewundert und Ihnen viel Glück gewünscht«, entgegnete der Unverfrorene; »aber Sie wissen ja genau so gut wie ich, daß es keinen Zweck gehabt hätte und daß selbst seine unverbindlichen drei Prozent nicht zugeteilt worden wären.«

    Frau Vio schwieg eine Weile und zog die schöngeformten Augenbrauen hoch, sie fuhr mit zwei Fingern über die Stirn, als befühlte sie die Falten, die entstanden waren. »Kurz und gut«, sagte sie, »da haben wir schon die erste Wirkung …«

    »Allerdings.«

    »Eine Gemeinheit!« rief sie.

    Herr Leitschuh sah sie belustigt an. »Aber der Staat ist doch nicht sentimental!« lächelte er.

    »Wir etwa?« fragte sie empört.

    »Hahaha!« lachte der Jettatore.

    Herr Leitschuh, ziemlich derb zum Rückzug aufgefordert, ging ins Sekretariat und bewunderte insgeheim die Herrin. Gescheit und munter, dachte er, sie wird's schon schaffen, sie ist kräftig. – Fräulein Nebel sah ihn fragend an. »Röslein«, meinte er, »mir scheint, du bist im Haus die einzige Sentimentale.« – Was das bedeute, fragte sie, leicht beleidigt. Der Prokurist lachte abgründig, ging an ihr vorüber, stockte aber schon, fingerknipsend, so als habe er etwas vergessen, und sprach dann über die Schulter: »Hör mal, Nebel, wenn die Europa-Bank anruft, verbinde gleich mit der Queen – die ist in guter Form.« Dann öffnete er die Tür zum vollbesetzten Wartezimmer und rief mit strengem Gesicht: »Nummer eins!« Damit war die Sprechstunde eröffnet, eine bewährte Einrichtung des »Volkskredits«, des sozialen Unternehmens, das auf die unmittelbare Verbindung der Kundschaft mit der Geschäftsleitung bedacht war. Hier konnte jeder, ob er Klient war oder es erst werden wollte, seine Fragen, Wünsche und Sorgen bei der obersten Stelle anbringen, bei der mächtigen Frau Vio selber, der »Queen«, wie die Angestellten, vom Prokurist bis zum Bankdiener, sie nannten, der guten Fee, die Dialekt sprach und Freibier gab, einer gemütlichen und demokratischen Herrscherin also; und man wird, wie es im Anschlag des Schalterraums zu lesen ist und jeder auch weiß, unter vier Augen mit ihr sprechen können, ohne Anmeldung und peinliche Vorprüfung durch Angestellte: es brauchte nur einer Nummer, einer roten diesmal, und gewiß auch der Geduld, die nun einmal von den Belagerern des gelben Hauses gefordert werden mußte. Denn der Durstigen an der »Goldquelle« war es natürlicherweise die Menge.

    Der Inhaber der sehr begehrten Nummer 1 war ein kleiner, fülliger und dennoch beweglicher Herr, der in der Rechten das rote Nummernschild und in der Linken einen grauen steifen Hut und ein Paar augenscheinlich neue gelbe Lederhandschuhe trug. Der Prokurist mit den tiefliegenden Augen sah dem ersten Besucher, der sich von den gewohnten bäurischen Sprechstundengästen auffällig unterschied, wirkungssicher in das fröhliche Gesicht, das von dicken schwarzen Bartkoteletten zusammengehalten war. »Nanu«, fragte er unfreundlich und auch gegen das Reglement, »was wollen Sie denn hier?«

    Nummer 1 hob heiter die Rechte mit

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