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Tausche Eis gegen deine Gedanken
Tausche Eis gegen deine Gedanken
Tausche Eis gegen deine Gedanken
eBook346 Seiten4 Stunden

Tausche Eis gegen deine Gedanken

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Über dieses E-Book

Für David steht ein Familienurlaub mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester an. Ein Albtraum für den Fünfzehnjährigen, der lieber mit seinem besten Freund Micha nach Barcelona geflogen wäre. Auch Elli hat sich die Ferien anders vorgestellt. Statt mit ihrem Vater nach Tunesien zu reisen, fahren sie nach Süddeutschland – zusammen mit Vanessa, der neuen Freundin ihres Vaters, von der Elli erst zwei Wochen vor Urlaubsantritt erfahren hat.
Es dauert nicht lange, bis David und Elli sich in dem kleinen Feriendorf begegnen. Genervt von der Situation, in der beide feststecken, entsteht zwischen ihnen zunächst eine Zweckgemeinschaft, um ihren Familien zu entkommen. Allerdings stellen sie bald fest, dass sie gerne Zeit miteinander verbringen, und langsam wächst ihre Freundschaft. Diese könnte sogar zu mehr führen, wenn David nicht ein großes Problem hätte: Er will um jeden Preis vermeiden, dass Elli von seiner Depression erfährt. Und während der Sommer an ihnen vorüberzieht, werden Davids Tage immer dunkler.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Feb. 2023
ISBN9783347763883
Tausche Eis gegen deine Gedanken
Autor

Britta Heinemeyer

Britta Heinemeyer wurde 1986 in Gladbeck geboren. Nach dem Abitur zog sie nach Bückeburg, wo sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin absolvierte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits mehrere Notizbücher mit Ideen und Bruchstücken von Romanen gefüllt. Die Arbeit in der Apotheke ließ ihr jedoch kaum Zeit, an diesen Ideen weiterzuarbeiten. Unzufrieden mit der Situation, entschloss sie sich zu einer Veränderung. 2010 schrieb sie sich an der Ruhr-Universität Bochum für ein Studium der Komparatistik und Medienwissenschaften ein. Gegen Ende des Studiums stellte sie die Rohfassung ihres ersten Romans fertig (dieser wird voraussichtlich Ende 2022 veröffentlicht). Nach dem erfolgreichen Studienabschluss zog sie mit ihrem Mann nach England und lebte dort in der Nähe von Cambridge. Sie überarbeitete den ersten Roman und schrieb zwei weitere Romane, bevor sie sich Ende 2021 dazu entschied, ihre Bücher selbst zu publizieren. Im gleichen Jahr verließen sie und ihr Mann England und wohnen nun in den Niederlanden, wo sie an ihrem nächsten Roman arbeitet.

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    Buchvorschau

    Tausche Eis gegen deine Gedanken - Britta Heinemeyer

    Spätsommer

    Australien, denkt Elli und schließt die Augen. Auch wenn dort die Sonne so heiß brennt. Berlin. Die Chinesische Mauer, zumindest ein Teil davon. Dublin. Der Eiffelturm. Finnland, Heim von guten Metalbands. Die Pyramiden von Gizeh. Würde auch für P gehen, aber ihr sind sie zu G eingefallen.

    Sie öffnet die Augen und sieht aus dem dreckigen Zugfenster, das den Staub des Sommers mit sich trägt. Es hat schon seit Tagen nicht geregnet und normalerweise würde sie sich über diese besonders langen, warmen Sommertage freuen. Aber nicht heute, denn was ist schon noch normal?

    Hong Kong, führt sie in Gedanken die Liste weiter. Island, um den schwarzen Strand zu sehen und auf einem Island-Pony zu reiten. Japan, das Land der aufgehenden Sonne. Die Katakomben von Paris. London mit dem Big Ben und dem Tower und all den anderen Sehenswürdigkeiten. Machu Picchu, Rechtschreibung beachten. Die Niagarafälle. Auf kanadischer oder amerikanischer Seite?

    Ein entgegenkommender Zug rast unvermittelt vorbei, aber Elli zuckt nicht einmal mit der Wimper. Sie sieht die Liste vor sich, nur die Liste. Sie könnte nachts aus dem Schlaf gerissen werden und diese trotzdem fehlerfrei aufsagen. Sogar rückwärts. Die Aufzählung ist zu ihrem Anker geworden. Sie wird alle diese Städte und Sehenswürdigkeiten und Länder besuchen. Eins nach dem anderen. Und am Ende wird alles gut.

    Oslo. Prag. Quebec, weil sie eine Stadt mit Q brauchten. Rom. Stonehenge. Tokio, obwohl das mit Japan eigentlich doppelt gemoppelt ist. Ein Urwald, wie der Amazonas-Regenwald. Venedig. Washington, D.C. und von dort vielleicht noch ein Trip nach New York City, auch wenn N schon vergeben ist.

    Elli holt das Skizzenbuch aus ihrer Umhängetasche und blättert zu einer bestimmten Seite. Im gleichen Moment klappt sie das Buch resolut zu und fragt sich, warum sie sich selbst so quält. Sie blinzelt, als ihr die Sonne genau ins Gesicht fällt. Die ganze Zeit ist es hell, ein ewig langer Sommer, und dennoch hat Elli das Gefühl, von einer Dunkelheit umgeben zu sein, die sie nicht freigeben will.

    Xanten, der Yellowstone Park und Zürich, denkt sie. Hätte sie etwas ändern können? Sie würde viel dafür geben, um die Zeit zurückdrehen zu können und aus den finsteren Tagen wieder sommerhelle zu machen. Aber so sehr sie sich dies auch wünscht, die Zeit läuft unbarmherzig weiter.

    Plötzlich kann sie nicht mehr richtig atmen, ein Gefühl, das ihr in den letzten Wochen allzu vertraut geworden ist.

    Australien, beginnt sie erneut und hält ihre Tränen zurück.

    Freitag

    »Freust du dich auch schon so auf morgen?«, fragt Nele, während sie auf dem Bett auf und ab hüpft.

    »Klar doch«, antwortet David und ringt sich seiner kleinen Schwester zuliebe ein Lächeln ab. »Aber jetzt hör auf mit dem Springen.« Wie immer ignoriert Nele ihn und hüpft weiter.

    »Mama hat schon alle meine Sachen gepackt, aber sie sagt, ich darf nur eins von meinen Kuscheltieren mitnehmen, und Papa sagt, Mama hat recht!«, berichtet sie empört.

    David zuckt mit den Schultern und tut so, als würde er sich einem Stapel Comics zuwenden. Da endlich hört seine Schwester auf zu springen und lässt sich theatralisch aufs Bett fallen, um seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen. Sie seufzt tief. »Ich kann mich einfach nicht entscheiden!«

    Nele liebt große Stofftiere, deshalb ist David nicht verwundert darüber, dass seine Mutter bestimmt hat, sie könne nur eins davon mit in den Urlaub nehmen. Er ist darüber dankbar, da er sich schon die ganze Fahrt lang eingequetscht zwischen riesigen Kuscheltieren gesehen hat.

    »Wen hättest du denn am liebsten dabei?« Nicht, dass es ihn interessiert. Alles, was David will, ist etwas Ruhe zum Nachdenken, aber er bringt es nicht übers Herz, Nele aus dem Zimmer zu werfen.

    »Entweder Herrn Kuschel oder Schnuffeline.«

    Wenigstens hat sie es bereits geschafft, die Auswahl auf zwei einzuschränken.Das überrascht ihn dann doch.

    »Soll ich einen von ihnen auswählen?« David hat noch gar nichts gepackt. Wenn seine eigenen Probleme bloß so simpel wären wie die von Nele, auch wenn es für sie natürlich eine wichtige Entscheidung ist, welches Stofftier mitdarf.

    »Ja. Aber such den aus, den ich will«, verlangt sie, während sie wackelnd aufsteht, bereit dazu, mit ihrer Hopserei fortzufahren.

    »Du weißt doch gar nicht, wen du willst.«

    »Doch. Herr Kuschel soll mit.«

    »Wenn das so ist, dann wähle ich …« Er zieht seine Entscheidung in die Länge und Nele schaut ihn gespannt an. Darüber vergisst sie sogar, mit dem Springen zu beginnen. »Herrn Kuschel. Am besten gehst du sofort in dein Zimmer und sagst es ihm.«

    Erleichtert darüber, endlich zu einer Entscheidung gekommen zu sein, hüpft Nele vom Bett und läuft hinaus. David schließt hinter ihr die Tür, die sie wie immer offengelassen hat, und lehnt sich dagegen. Er fühlt sich erschöpft, dabei hat er an dem Tag gar nicht viel gemacht. Er weiß, dass er damit anfangen muss, seine Tasche zu packen. Und sein Leben in den Griff zu bekommen. Stattdessen läuft er langsam zum Bett und fällt mit dem Gesicht voran darauf. Er bleibt so lange liegen, bis er keine Luft mehr bekommt und den Kopf drehen muss. David lässt seinen Blick durch das chaotische Zimmer schweifen, dann schließt er die Augen und blendet es aus. Nur ein paar Minuten, bis er aufstehen und alles erledigen wird, was noch gemacht werden muss. Ganz sicher.

    Eigentlich müsste er froh sein. Sechs Wochen lang keine Schule und damit ohne die Leute aus seiner Klasse. Zeit genug, positive Erfahrungen zu sammeln, um endlich die Erinnerungen an den Beginn des Jahres zu ersetzen. In den kommenden Wochen kann viel passieren, nein, muss viel passieren, weil es so für ihn nicht weitergeht.

    »Positiv denken. Ab jetzt ändert sich alles«, sagt David still zu sich selbst, glaubt sich jedoch kein Wort.

    Draußen schlägt eine Autotür zu. Nele singt lauthals in ihrem Zimmer. Die Nachbarskinder spielen Ball auf der Straße. Alles ist immer so laut. David rollt vom Bett, um Musik anzumachen, in der Hoffnung, damit die anderen Geräusche zu übertönen. Er steht im Chaos seines Zimmers, findet jedoch keine Motivation zum Aufräumen. Die eigentlich leicht zu bewältigende Aufgabe baut sich drohend vor ihm auf und verlangt nach Energie, die er am Ende des Tages nicht übrighat.

    Sein Vater wirft ihm stets Faulheit vor, aber er versteht nicht, wie es in David aussieht. Oftmals verbraucht David seine gesamte verfügbare Energie eines Tages darauf, zu existieren. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt daher häufig unerledigt. Es stört ihn selbst, aber er kann es nicht ändern.

    Als seine Mutter zum Abendessen ruft, hat er weder seine Tasche gepackt noch sein Zimmer aufgeräumt, was in ihm ein schlechtes Gewissen auslöst.

    Er schlurft in die Küche, wo er sich auf einen Stuhl fallen lässt, froh darüber, es bis dahin geschafft zu haben. Seine Eltern und Nele sitzen bereits am Tisch und zuerst läuft alles gut. Abgesehen davon, dass David keinen Hunger hat und lustlos an einem Brot herumkaut. Er isst nur, um zu verhindern, dass es wieder eine Diskussion über sein Essverhalten gibt, denn davon hatte er in der letzten Zeit mehr, als er ertragen kann. Er ist dankbar darüber, dass Nele aufgedreht von ihren Kuscheltieren erzählt und seine Mutter nicht darauf achtet, wie viel er isst. Das ist ungewöhnlich, da sie sonst auf alles einen Blick hat, was er oder seine Schwester machen. Vermutlich ist sie mit ihren Gedanken bei der bevorstehenden Reise. David kann das nur recht sein.

    »Ich nehme Herrn Kuschel mit!«, verkündet Nele die Wahl ihres Stofftieres.

    »Das klingt gut«, antwortet ihre Mutter, sichtlich erleichtert darüber, dass anscheinend keine weitere Diskussion über die Anzahl von Plüschtieren ansteht.

    »Habe ich ihm auch schon gesagt. Herr Kuschel ist schrecklich aufgeregt.«

    David starrt auf das Brot in seiner Hand, von dem noch viel zu viel übrig ist, als sein Vater beginnt, über die Abendplanung zu sprechen. Er will am nächsten Tag früh losfahren, um dem Ferienverkehr zu entgehen, daher möchte er nach dem Essen bereits Koffer und Taschen ins Auto bringen, damit es morgens schneller geht. Als er mitbekommt, dass David seine Sachen noch nicht gepackt hat, wird er ungehalten und schickt ihn auf sein Zimmer, damit er es sofort erledigt.

    David legt die Reste seines Brotes auf den Teller und verlässt die Küche, ohne über Widerspruch nachzudenken.

    »Willst du nicht wenigstens aufessen?«, ruft ihm seine Mutter hinterher, aber David tut so, als hätte er sie nicht gehört.

    Durch den Flur, die Treppe hinauf und zurück in sein Zimmer. Der Weg hat sich für das, was er gegessen hat, überhaupt nicht gelohnt.

    Er holt seine Sporttasche aus dem Schrank und stellt sie in die Mitte des Zimmers, nachdem er einige Shirts mit dem Fuß zur Seite geschoben hat. Sie ist zum Füllen bereit. Nur er ist es nicht. Unschlüssig dreht David sich im Kreis. Seine Mutter hat eine Liste mit Sachen geschrieben, die er auf jeden Fall einpacken soll. Als ob er das allein nicht könnte! Frustriert durchsucht er das Zimmer nach Klamotten, die sauber genug sind, um mit in den Urlaub zu können, und die ihm zumindest noch einigermaßen passen.

    Es kommt ihm vor, als bräuchte er eine Ewigkeit, bis alle Dinge von der Liste in der Tasche und seinem Rucksack verstaut sind. Er geht sie noch einmal in Ruhe durch, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hat. An die Zahnbürste wird er am nächsten Morgen noch denken müssen. Er schultert seine Tasche und tritt auf dem Weg zur Tür auf ein Comicheft. Seufzend hebt David es auf und legt es auf den Schreibtisch, bevor er das Chaos für den Moment hinter sich lässt.

    Im Flur schlüpft er in seine ausgetretenen Sneakers und verlässt das Haus. Das Auto steht vor der Garage und sein Vater ist bereits damit beschäftigt, einen Haufen Zeug einzuladen. Er wirkt genervt und David möchte sich so schnell wie möglich wieder aus dem Staub machen. Sein Vater besteht jedoch darauf, dass David ihm hilft, also muss er bleiben, Taschen und Koffer anreichen, annehmen und sich anhören, wie sein Vater darüber schimpft, dass seine Mutter immer zu viel einpackt. Eine ähnliche Rede hat David vor dem letzten Sommerurlaub gehört. Er würde seinen Vater gerne darauf hinweisen, dass dieser das nächste Mal packen kann, wenn ihn das alles so stört, aber er verkneift sich den Kommentar.

    Sein Vater wechselt das Thema und plötzlich wünscht David sich, dass sie noch übers Gepäck sprechen würden. »Ich verstehe nicht, warum du deine Tasche nicht eher packen konntest. Dieses ewige Aufschieben bis auf den letzten Drücker führt doch nur zu mehr Stress. Und dass es beispielsweise beim Lernen überhaupt nicht funktioniert, haben wir ja an deinem Zeugnis gesehen.«

    »Ich weiß«, murmelt David. Er hat gehofft, dass dieses Gespräch nicht kommen würde, aber natürlich kann sein Vater das miserable Zeugnis nicht ignorieren.

    »Ich verstehe ja, dass dieses Jahr schwer für dich war. Aber«, fährt sein Vater fort und David zuckt innerlich zusammen, als er das Aber hört. Gar nichts versteht sein Vater. Für diesen ist es an der Zeit, dass David wieder mit dem Leben klarkommt. Als wenn das so einfach wäre! »Ich hoffe sehr, dass du dich im nächsten Schuljahr mehr bemühst. Du weißt doch, wie wichtig eine gute Schulbildung für dein gesamtes Leben ist.«

    David nickt. Früher ist ihm das Lernen leichter gefallen, aber in den letzten Monaten war in seinem Kopf kein Platz für neue Informationen. Da ist schon genug, worüber er nachdenkt, ohne sich auch noch mit Matheproblemen herumschlagen zu müssen.

    »Versprichst du mir, dass das nächste Zeugnis wieder besser wird?«, fragt sein Vater, während er mit aller Macht einen Jutebeutel zwischen zwei Koffer zu stopfen versucht.

    »Versprochen.«

    Sein Vater fragt nicht, wie es ihm geht. Warum auch? Viel wichtiger als Davids Geisteszustand sind seine schulischen Leistungen.

    Was für eine riesige Enttäuschung ich für ihn sein muss, denkt David, während er seinem Vater eine Tasche anreicht. Zumindest ist das Gespräch fürs Erste beendet und sein Vater hat gar nicht geschrien, was David dann doch als kleinen Erfolg ansieht.

    Endlich ist alles eingeladen und der Kofferraum lässt sich sogar schließen, als sein Vater die Heckklappe mit Schwung zuknallt. Während dieser den Wagen in die Garage fährt, geht David zurück ins Haus. Bleibt ihm noch das Chaos in seinem Zimmer. Über das in seinem Kopf möchte er nicht nachdenken müssen.

    Oben an der Treppe begegnet er seiner Mutter, die eine weitere Tasche in der Hand hält. Er hofft, dass diese nicht auch noch ins Auto soll, denn langsam wird der Platz zum Sitzen knapp. Mit Grauen denkt er an Neles großen Teddy, der noch in ihrem Zimmer ist.

    »Ich freue mich, dass wir morgen alle zusammen in den Urlaub fahren«, sagt seine Mutter betont fröhlich. David bemüht sich um ein Lächeln. »Möchtest du gleich einen Film mit uns schauen?«

    Aber er will lieber allein sein und seinem Vater aus dem Weg gehen, bevor diesem noch weitere Punkte einfallen, über die er dringend vor dem Urlaub mit ihm sprechen muss. David ist sicher, dass das Gespräch über seine Zensuren noch nicht ganz vom Tisch ist.

    Zurück in seinem Zimmer betrachtet er resigniert das Chaos und wägt ab, was schlimmer sein wird: der Zorn seines Vaters, wenn David nicht aufräumt, oder das Aufräumen selbst. Seufzend beginnt er damit, Ordnung zu schaffen.

    Zwischendurch stürmt Nele herein, um ihm gute Nacht zu sagen. Er trägt sie huckepack in ihr Bett. Sie möchte noch etwas vorgelesen bekommen, aber das übernimmt glücklicherweise ihre Mutter. David ist nicht sicher, ob er die Geschichte vom kleinen Biber einen weiteren Abend aushält.

    Endlich ist sein Zimmer aufgeräumt und er lässt sich aufs Bett fallen. Es kommt ihm vor, als hätte er Stunden für die Arbeit gebraucht. Kurz überlegt er, noch ein wenig zu zocken, bevor er ins Bett geht, entschließt sich dann jedoch dagegen. Seine Müdigkeit ist zu groß und am nächsten Morgen muss er früh aufstehen.

    Sobald er allerdings im Bett liegt, ist er wieder hellwach, während seine Gedanken wie Autos beim Autoscooter wild durch seinen Kopf rasen und von Zeit zu Zeit gegeneinanderstoßen, um das Durcheinander noch zu vergrößern.

    Obwohl er das Fenster geöffnet hat, ist es unangenehm warm im Zimmer. Lange dreht David sich hin und her, versucht zu zählen, um sich zu beruhigen, nur um vom nächsten Gedankenautoscooter aufgerüttelt zu werden. Es ist spät, als er endlich Schlaf findet.

    Samstag

    Als der Alarm seines Handys klingelt, hat David das Gefühl, er wäre erst vor wenigen Minuten eingeschlafen. Am liebsten würde er sich noch einmal umdrehen und die Augen fest geschlossen lassen. Er überlegt, ob er sich erlauben kann, weitere fünf Minuten im Bett liegen zu bleiben, als seine Mutter klopft. Sie ruft durch die Tür, dass das Frühstück fertig ist. Während er sich aus dem Bett rollt, tröstet ihn der Gedanke daran, dass er im Auto weiterschlafen kann. Morgens aufzustehen ist das Allerschlimmste. Das und den Rest des Tages überstehen.

    Beim Frühstück sitzt er still auf seinem Platz und hofft darauf, dass niemand ihn in ein Gespräch verwickelt. Zum Reden ist er um diese Uhrzeit nicht in der Lage, zumindest nicht, wenn er zusammenhängende Sätze bilden soll, die dann noch Sinn ergeben. Glücklicherweise plappert Nele fröhlich drauf los und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich.

    »Gehen wir heute schwimmen? Wie weit ist der See weg? Darf ich jeden Tag schwimmen?« Sie löchert ihre Eltern mit Fragen, ohne auf Antworten zu warten. Zwischendurch stopft sie sich munter Brot und Früchte in den Mund.

    David isst einen Toast und lehnt einen weiteren ab, was seine Mutter zwar mit einem Blick, aber nicht mit Worten kommentiert. Er hätte am liebsten gar nichts gegessen. Dafür ist es nach seiner Auffassung viel zu früh, aber seine Mutter besteht jeden Tag darauf, dass er das Haus nur mit Frühstück im Magen verlassen darf.

    Nachdem alle noch einmal im Bad gewesen sind, die letzten Sachen im Auto verstaut sind – was für David an ein Wunder grenzt – und seine Mutter dreimal zurück ins Haus gelaufen ist, um zu kontrollieren, ob alle Fenster geschlossen sind, der Herd aus ist und was sonst noch überprüft werden muss, fahren sie los. Nele hat Herrn Kuschel auf dem Schoß und winkt dem Haus zum Abschied. Die Aufregung steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

    David schließt die Augen und lehnt den Kopf zurück, aber obwohl er schlecht geschlafen hat, ist er jetzt hellwach, wenn auch todmüde. Er holt sein Handy aus dem Rucksack, stöpselt Kopfhörer ein und lässt seine Lieblingsband laufen, während er versucht, alles um sich herum auszublenden. Als das nicht funktioniert, öffnet er die Augen und starrt aus dem Fenster. Es dauert nicht lange und sie haben die Autobahn erreicht. Er linst zu seiner Schwester, die für ihre Verhältnisse erstaunlich ruhig ist. Nele scheint in ein ernstes Gespräch mit ihrem Teddy vertieft zu sein.

    Davids Handy vibriert. Es ist eine Nachricht von Micha, seinem besten Freund. Die beiden kennen sich seit dem Kindergarten und waren zusammen in der Grundschule, aber nachdem Davids Familie ans andere Ende der Stadt gezogen war, konnten sie nicht zusammen aufs Gymnasium. Micha fand neue Freunde an seiner Schule, während David, der von Natur aus still und zurückhaltend ist, damals in der neuen Klasse keinen Anschluss fand. Das hat sich bisher nicht geändert und David bezweifelt, dass es zukünftig besser wird. Halt. So will er doch nicht mehr denken! Schließlich kann sich nach den Ferien einiges wandeln. Vielleicht kommen neue Mitschüler dazu und manchmal ändern sich Leute schließlich auch. Wie Lina. David seufzt, weil er darüber absolut nicht nachdenken will.

    Lieber studiert er das Selfie, das Micha von sich und Julius am Flughafen gemacht hat. Die beiden grinsen breit in die Kamera, während sie auf ein Flugzeug im Hintergrund deuten. Sie sind auf dem Weg nach Barcelona und eigentlich hätte David derjenige sein können, der da vor dem Flieger steht. Michas Cousin ist zum Studieren in Barcelona, hat Micha für die Sommerferien zu sich eingeladen und gesagt, dieser könne ruhig einen Freund mitbringen.

    Natürlich hat Micha als erstes David gefragt, aber seine Eltern haben abgelehnt. Das war sogar noch vor dem Vorfall und David kann nicht nachvollziehen, was seine Eltern dazu bewegt hat, ohne eine Diskussion Nein zu sagen. Daraufhin hat Micha ihren gemeinsamen Freund Julius gefragt und dessen Eltern hatten nichts einzuwenden.

    David mag Julius, aber in diesem Moment im stickigen Auto ist er sauer auf ihn, weil Julius nach Barcelona fliegt und er nicht. Da er nie Selfies macht, kommentiert er das Bild nur mit einem grinsenden Smiley.

    Es ist eng auf der Rückbank mit ihm, seiner Schwester, ihren Rucksäcken und dem riesigen Teddy. Zudem scheint auf Davids Seite die Sonne ins Auto, daher dauert es nicht lange, bis ihm unangenehm warm wird. Er bittet seinen Vater, die Klimaanlage kühler zu stellen, aber sofort protestiert Nele, dass ihr das zu kalt ist, also muss er sich mit der Hitze abfinden.

    Nele schmiegt sich an Herrn Kuschel und ist in wenigen Minuten eingeschlafen. David beneidet sie darum, immer und überall schlafen zu können. Erneut schließt er die Augen und konzentriert sich auf seine Musik. Nicht an Micha denken, der jetzt im Flugzeug sitzt und auf die Welt hinabsieht. Nicht an Lina denken.

    Nie wieder an sie denken. Einfach nur der Musik lauschen.

    Obwohl sie früh losgefahren sind, geraten sie bald in stockenden Verkehr und kriechen langsam über die Autobahn. David ist froh, dass er am Abend zuvor daran gedacht hat, sein Handy zu laden. Die Musik seiner Eltern kann er nicht ausstehen und sein Vater weigert sich, Davids Playlists zu spielen.

    Er betrachtet die Menschen in den Autos um sie herum. Ob sie auch alle in den Urlaub fahren? Die mit den bis zum Dach vollgepackten Fahrzeugen sicher.

    Als Nele irgendwann die Augen aufschlägt und beschließt, genug geschlafen zu haben, steckt er sein Handy zurück in den Rucksack. Sie haben eine Teeparty mit Herrn Kuschel, denn Nele zaubert drei Puppentassen aus ihrem kleinen Rucksack hervor.

    David hat das Gefühl, dass der Teddy gesprächiger ist als er, aber Nele scheint das nicht zu stören.

    Die Stunden im Auto ziehen sich wie Kaugummi. David ist mehr als erleichtert, als sie endlich am Ferienort ankommen.

    Seine Eltern haben einen Bungalow in einem Dörfchen gemietet, das fast nur aus Ferienhäusern besteht. Dazu gehören ein eigener See und Sportplätze. Davids Eltern haben ihre Tennisschläger eingepackt, ein Hobby, für das sie in den letzten Wochen kaum Zeit aufbringen konnten. Seine Schwester schwärmt seit Ewigkeiten davon, den Sommer im See zu verbringen. Nur David kann dem Gedanken an sportlicher Betätigung im Urlaub nichts abgewinnen. Das Leben ist anstrengend genug, da muss er sich nicht noch beim Sport verausgaben.

    Nele und er warten im Schatten eines Baumes, während sich seine Eltern um den Bungalowschlüssel kümmern.

    »Gehen wir jetzt schwimmen?«, fragt seine Schwester und hüpft auf der Stelle. Ihr scheint die Hitze absolut nichts auszumachen. Ihre Sandalen machen ein klatschendes Geräusch auf dem Asphalt.

    »Ich weiß nicht. Bestimmt.«

    »Mama hat mir zwei neue Badeanzüge für den Urlaub gekauft«, erzählt sie stolz.

    »Wirklich?«, fragt David, obwohl er das längst weiß. Seine Schwester hat in den letzten Tagen von wenig anderem geredet. Seine Mutter hat ihm ebenfalls neue Badehosen gekauft und obwohl er seine Klamotten normalerweise selbst aussucht, ist er in diesem Fall dankbar. Er konnte sich vor den Ferien nicht aufraffen, um in die Stadt zu gehen, und ohne seine Mutter hätte er sonst keine passende Badehose für den Urlaub.

    »Der eine Badeanzug hat Seepferdchen drauf«, plappert Nele weiter und hüpft und hüpft und hüpft.

    David bekommt Kopfschmerzen. Zum Glück kommen seine Eltern in diesem Moment wieder. Seine Mutter wedelt mit einer Karte, auf der ein Häuschen markiert ist.

    »Wir sind fast da«, ruft sie und alle klettern zurück ins mittlerweile unerträglich heiße Auto.

    »Gehen wir jetzt schwimmen?«, fragt Nele erneut, während sie aufgeregt mit den Beinen wackelt.

    »Möchtest du nicht erst etwas essen?«, fragt ihre Mutter zurück.

    »Lieber schwimmen!«

    »Zuerst werden die Koffer ausgepackt.« Ihr Vater hält vor einem schmucken kleinen Bungalow, der zitronengelb angestrichen ist. Kästen mit bunten Blumen hängen an den Fensterbänken, während die Fenster selbst mit weißen Läden versehen sind, die alle einladend offenstehen.

    »Aber dann muss ich doch schon bald ins Bett!«, protestiert Nele, die keine Ahnung hat, wie spät es ist.

    Letztendlich entscheiden sie sich dafür, dass Nele mit ihrer Mutter zum See vorgehen darf und David sich mit ihrem Vater um das Gepäck kümmert.

    David muss sich ein Zimmer mit seiner Schwester teilen, aber da es seine Schuld ist, dass sie hier Urlaub machen und nicht in Italien, hatte er nicht gewagt, etwas dagegen zu sagen. Ein Hochbett, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und ein Schrank stehen darin.

    »Ich schlafe oben!«, krakeelt Nele und rennt aus dem Zimmer, bevor er etwas erwidern kann.

    David wirft seinen Rucksack auf das untere Bett. Ihm ist es egal, wo er schläft. Dann geht er zum Fenster und wirft einen Blick hinaus. Er kann über eine kleine, perfekt getrimmte Hecke zum Nachbarhaus sehen, das in einem ähnlichen Gelb erstrahlt, allerdings mit roten Fensterläden und farblich passenden Blumenkästen versehen ist.

    Nele kommt zurück ins Zimmer und schmeißt ihre Klamotten auf den Stuhl. Sie trägt einen Badeanzug und David fragt sich, ob sie diesen die ganze Zeit schon unter ihrer Kleidung getragen hat. Er würde es ihr zutrauen.

    »Ich bin so aufgeregt!«, brüllt Nele und flitzt los, um sich mit ihrer Mama auf den Weg zum See zu machen.

    »Was du nicht sagst«, murmelt David und geht hinaus zum Auto, bevor sein Vater ungehalten werden kann. Zusammen tragen sie Koffer und Taschen in den Bungalow. Er räumt seine und Neles Sachen in den Schrank und legt seinen Kulturbeutel ins Bad. Seine Mutter hat bereits ein Handtuch für ihn mitgenommen, also muss David nur eine Badehose anziehen und seine normalen Shorts einpacken.

    »Bist du fertig?« Sein Vater steht in der Tür und hat Jeans und Hemd gegen eine kurze Hose und Shirt getauscht. Er sieht direkt nach Urlaub aus.

    Der See ist nur wenige Minuten zu Fuß von ihrem Bungalow entfernt. Trotzdem kommt David die Strecke unendlich lang vor, was vor allem daran liegt, dass er Angst hat, sein Vater könnte erneut ein Gespräch über seine Schulleistungen anfangen. Aber dieser schweigt und betrachtet versonnen die Häuser um sich herum. Dennoch fällt Davids Anspannung erst ab, als sie am See ankommen. Dort planscht Nele im seichten Wasser und winkt ihnen zu.

    Ein Teil vom Seeufer wurde mit Sand zu einem Strandbereich umgewandelt, auf dem

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