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Shadowscent - Die Krone des Lichts
Shadowscent - Die Krone des Lichts
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eBook505 Seiten6 Stunden

Shadowscent - Die Krone des Lichts

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Über dieses E-Book

»Eine opulente, detailreiche Fantasywelt und ein außergewöhnliches Debut. PM Freestone ist eine Autorin, die man im Auge behalten sollte.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Amie Kaufman

Rakel verlässt die Grenzen des Kaiserreichs, um mehr über die Vergangenheit zu erfahren und endlich Antworten zu bekommen. Sie sucht mithilfe ihres feinen Geruchssinns nach einem Heilmittel für die Seuche, die ihren Vater befallen hat, und bemüht sich, nicht an Ash zu denken. Währenddessen versucht Ash, die anderen vor der drohenden Gefahr zu warnen, von der bislang nur er weiß. Doch das Kaiserreich steuert auf einen Krieg zu, dessen Keim in einer Zeit gesät wurde, in der die Götter noch auf Erden wandelten. Ob Prinz oder Diener, jetzt muss jeder Stellung beziehen.

SpracheDeutsch
HerausgeberDragonfly
Erscheinungsdatum28. Dez. 2020
ISBN9783748850335
Shadowscent - Die Krone des Lichts
Autor

P. M. Freestone

P. M. Freestone ist in Australien aufgewachsen und hat mehrere Universitätsabschlüsse, unter anderem in Archäologie, Religionsgeschichte und Soziologie. Aber P. M.s wahre Leidenschaft gilt dem Schreiben von Fantasyromanen für Jugendliche. P. M. hat den »Scottish Book Trust New Writer’s Award« gewonnen und lebt heute mit Partner und Hund in Schottland.

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    Buchvorschau

    Shadowscent - Die Krone des Lichts - P. M. Freestone

    HarperCollins®

    Copyright © 2020 DRAGONFLY

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Alle Rechte für die deutschsprachige Ausgabe vorbehalten

    © 2020 by P M Freestone

    Originaltitel: »Shadowscent: Crown of Smoke«

    Erschienen bei: Scholastic Children’s Books

    Published by arrangement with Scholastic Ltd., London

    Covergestaltung: Formlabor, Hamburg

    Coverabbildung: FRACTAL, nrey, Brainstorm331 / shutterstock

    Lektorat: Siegrid Hoppe

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783748850335

    www.dragonfly-verlag.de

    Facebook: facebook.de/dragonflyverlag

    Instagram: @dragonflyverlag

    Das Kaiserreich Aramtesch

    Widmung

    Für Dida, meine erste Heldin.

    Und für Serena, die mir geholfen hat,

    im Rauch meinen Weg zu finden.

    1. Kapitel

    Luz

    Hüte die beiden Kostbarkeiten,

    alle anderen sind entbehrlich.

    Diese Nachricht erreichte Aphorai-Stadt im Innenfutter einer Versandkiste, die ursprünglich Wüstenrosenöl enthalten hatte. Wie außerordentlich passend. Sogar fast nasengenau. Ich wusste schon lange, dass die Magistra raffiniert ist, aber selbst ich hob eine Augenbraue.

    Leider bringt mich das Nachdenken über die Vergangenheit hier draußen nicht weiter.

    An den Grenzen des Kaiserreichs braucht es Macher, keine Denker. Leute, die anpacken, statt zu spekulieren. Hier treten örtliche Traumrauchfabrikanten gegen die Kaiserliche Garde an, Söldnerbanden kämpfen um das, was übrig bleibt, und alle anderen fristen in den Lücken ein jämmerliches Dasein. Auf dem Weg zum Heiligtum versuche ich einen geschwächten Prinzen, ein aufstrebendes Mädchen und ihre beiden kräftigen Begleiter zwischen diesen Gefechten hindurchzuschmuggeln.

    Ach ja, die Launen des aufopferungsvollen Dienstes für den Orden.

    An der Grenze ist eine Zeltstadt entstanden, gewoben aus den übelsten Fäden des kontrollbesessenen Kaiserreichs und der Gesetzlosigkeit der Länder jenseits davon. Die Brutalsten der angeblich friedensstiftenden Garde und die Ruchlosesten der vermeintlich gewissenhaften Handelskontrolleure hat es im Laufe der vergangenen Umläufe hergetrieben wie Staub, der sich an der Hintertür eines ansonsten eleganten Etablissements sammelt.

    »Wo ist denn die aphorainische Armee?«, fragt das Mädchen entrüstet, als wäre die fehlende Vertretung ihrer Provinz eine persönliche Beleidigung.

    Sie hat ihr Pferd auf eine Höhe mit meinem Kamel gebracht. Es ist ein edles Tier, das muss ich ihr lassen. Dunkel, schlank und der Art nach zu urteilen, auf die es die Nase über die minderwertige Spreu in der letzten Karawanserei, an der wir Halt gemacht haben, gerümpft hat, auch anspruchsvoll. Ein Reittier nach meinem Geschmack. Bis jetzt. Nur der Ursprüngliche weiß, wie es sich schlagen wird, wenn wir unserem Ziel näher kommen.

    Aber das Mädchen hatte eine Frage, nicht wahr?

    »Ich vermute, sie sind verlegt worden«, erkläre ich.

    Asmudtag sei Dank, dass der liebe Papa nicht darauf bestanden hat, mit uns zu reiten. Er gehört zu den wenigen Männern, die ihre Grenzen kennen. Wahrscheinlich hat sich die Magistra vor all diesen Umläufen deshalb zu ihm hingezogen gefühlt. Er kennt seinen Platz. Er hätte nie ihre Flamme ausgepustet. Oder heller geleuchtet. Und er sieht wirklich gut aus. Wenn man auf angegraute Veteranen steht.

    Oh, die Reise wird lang werden, wenn es mir nicht gelingt, meinen Verstand zur Ruhe zu bringen.

    Oder das Mädchen mit ihrem unaufhörlichen Geplapper zum Schweigen.

    »Was wird da gebaut?«

    Unter der Aufsicht unerbittlicher Kolonnenführer schuften Dutzende Arbeiter schwitzend in der morgendlichen Hitze, ihre tief gebräunten Rücken gebeugt. Fast die Hälfte trägt das Mal der Schwerverbrecher – Metallpfropfen statt der Nase. Die anderen sind wohl wegen leichterer Vergehen verurteilt worden. Oder arbeiten ihre Schulden ab.

    Ich beobachte ihre Anstrengungen und bemühe mich um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Eine Mauer.«

    Nisai, der Erste Prinz von Aramtesch, der auf dem Kamel sitzt, das ich im Schlachthof von Aphorai für ihn gekauft habe, schiebt den transparenten Schleier des ultramarinblauen Gewands, mit dem ich ihn verkleidet habe, zur Seite. Er wischt sich mit dem Seidenärmel über die Stirn, die Augen zum Schutz vor der Sonne und dem Sand zusammengekniffen. »Für welche Stadt denn? Diese Siedlung habe ich auf den neuesten kaiserlichen Karten noch gar nicht bemerkt.«

    Ich grinse innerlich. Siedlung. Die reflexhafte diplomatische Ausdrucksweise lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass dieser Junge in einem Palast aufgewachsen ist. Was für ein höflicher Begriff für einen abgerissenen Haufen Zelte und nur geringfügig stabilerer Unterkünfte aus schwerem Filz.

    »Meinen Quellen zufolge hat der Regent den Befehl erteilt, während Ihr indisponiert wart, mein Prinz. Ich glaube, das Dekret erwähnte explizit die Notwendigkeit … Wie hieß es doch gleich? Ach ja. Die ›Notwendigkeit, kaiserliche Ressourcen und Leben vor einem Eindringen von außen zu schützen‹ und irgendwas darüber, ›Aramtesch wieder groß zu machen‹. Oder war es … Führung durch ›Stärke und Stabilität‹? Die kaiserlichen Herolde verkünden dauernd irgendwas Neues.«

    Er runzelt die Stirn. »Aber auf der anderen Seite liegen doch die Sesongebiete. In meiner Funktion als Thronfolger bin ich verantwortlich für diese Gegend.«

    Verantwortlich? Ein leeres Wort. Seit Monden hat die Kaiserliche Garde nichts unternommen, um den Flüchtlingen zu helfen, die vor den unendlichen Konflikten jenseits der Grenze fliehen, weit draußen in den Gebieten, wo die Grenzländer dauernd Krieg zu führen scheinen, ausgelöst durch eine Sache: Mangel.

    Mangel an Ressourcen. Mangel an Recht. Mangel an Hoffnung.

    Viele der Flüchtenden waren gut ausgebildet und hätten in Aphorai-Stadt etwas zu bieten gehabt, und zwar mehr als nur das Räumen von Steinen von einer Seite zur anderen. Unglücklicherweise scheint die ansonsten gängige Praxis in der Provinz Aphorai durch kaiserliche Befehle aufgehoben worden zu sein.

    Nach einem Zungenschnalzen trottet mein Kamel weiter. »Ich werde dafür sorgen, nicht anwesend zu sein, wenn Ihr diese Diskussion mit Eurem werten Bruder führt. Und nun, mein Prinz, bedeckt bitte Euer Gesicht wieder.«

    Die losianische Ex-Gardistin, inzwischen Harnisch des Prinzen, rückt näher und bringt den Geruch nach Leder und dem Kokosöl mit sich, das ihre Kampfzöpfe geschmeidig hält. Sie streckt einen muskulösen Arm aus, um seiner kaiserlichen Majestät mit seinem Schleier zu helfen.

    Er schlägt ihre Hand weg. »Das kann ich allein.«

    »Er sitzt schief, mein Pr…«

    »Möglicherweise trage ich zum ersten Mal ein Kleid, aber ich bin nicht unfähig«, schnaubt er.

    »Und darf ich Euch versichern, wie gut Ihr darin ausseht.« Das ist der aphorainische Wachmann – der, der geradezu in Bernsteinöl badet. »Die Farbe steht Euch.«

    Vielleicht bilde ich es mir ein, aber die dunkelbraunen Augen des Prinzen lassen darauf schließen, dass er hinter seiner korrekt zurechtgezupften Verkleidung lächelt.

    Unter dem Gesindel aus Händlern, die die provisorische Siedlung umschwirren wie Fliegen einen Kadaver – und ähnlich gut riechen –, finde ich einen, der mir im Tausch gegen unsere Kamele und eine schwere Börse mit Silbermünzen eine Truppe stämmiger hagmirischer Bergponys verkauft. Das ist unverfrorener Wucher, aber leider nötig für meinen aktuellen Auftrag.

    Wir überqueren die Stelle, die bald ein Tor in den Fundamenten von Regent Iddo Kaidons Mauer sein wird. Die Sonne brennt auf uns herab, als wollte sie uns aus dem Kaiserreich vertreiben. Ich besteche den Gardisten am Tor großzügiger als üblich in dem Versuch, eine andere Art der Verfolgung zu verhindern. »Ich vertraue darauf, dass Sie das angemessen für Ihre Diskretion entschädigt?«

    Er blickt ausdruckslos geradeaus. »Wofür? Ich kann mich nicht erinnern, irgendetwas Berichtenswertes bemerkt zu haben.«

    Hervorragend.

    »Ponys?«, fragt das Mädchen, als wir mit den Tieren eben außer Hörweite sind.

    Ich werfe einen Blick auf ihr Pferd. »Ich dachte, das würde dir gefallen, Herzblatt.«

    Sie sieht zu den ersten Berggipfeln hinüber, die am dunstverhangenen Horizont sichtbar werden. »Du willst uns doch nicht etwa in die Berge führen?«

    Ich tippe mir nur an die Nase.

    Wir reiten weiter, hinaus in eine Landschaft, die eher staubig ist als sandig wie die Wüste. Diesen Abschnitt des Weges mochte ich noch nie. Der Dreck dringt einem in jede Pore.

    Wenigstens herrscht herrliches Schweigen.

    »Schon länger her, dass du nicht mehr hier warst?«, meldet sich das Mädchen erneut zu Wort, als hätte ich es mit meinen Gedanken herausgefordert.

    Ich erwidere nichts, woraufhin sie die Stirn runzelt. Wie anstrengend es sein muss, alles als persönliche Beleidigung aufzufassen.

    »Oder vielleicht …« Sie zieht das Wort in die Länge, ganz offensichtlich überzeugt, dass jetzt etwas Schlaues folgt. »… warst du selbst noch nie dort, wo wir hinreisen. So ist es doch, oder? Du hast keine Ahnung, ob das der richtige Weg ist. Falls es überhaupt einen richtigen Weg gibt.«

    Wenn sie glaubt, mich damit provozieren zu können, ist sie nicht so helle, wie ich dachte. Ich schenke ihr ein seliges Lächeln. »Warte einfach ab, dann wirst du schon sehen, ja?«

    Sie mustert mich nur noch eindringlicher mit wildem Blick. »Das macht dir Spaß, nicht wahr? Du genießt es, dich an deinen eigenen Geheimnissen zu ergötzen, oder? Du bist genauso schlimm wie Sephine.«

    Ich zwinge mich dazu, nicht zusammenzuzucken, als sie den Namen der Frau erwähnt, der ich viele Umläufe lang gedient habe, und blinzele sie stattdessen nur sanft an, lasse mein Schweigen sprechen. Wenn man es richtig einsetzt, besiegt Schweigen die meisten Leute. Ich habe bereits gelernt, dass dieses Mädchen hier sich deshalb innerlich windet.

    »Ich meine, genauso geheimnisvoll wie Sephine … oder zumindest genauso geheimnisvoll wie …«

    Offenbar wird ihr klar, dass sie auf gefährliches Terrain geraten ist. Sie wendet den Blick ab und ich glaube schon, dass sie es dabei bewenden lässt. Aber dann weht der Wind ihr Wispern an mein Ohr: »Wer bist du überhaupt?«

    »Wenn du nicht darauf aus bist, die ontologischen Feinheiten der existenzialistischen Philosophie aus der Großen Blütezeit zu erörtern, Herzblatt, solltest du deine Frage etwas präziser formulieren.«

    »Zunächst mal, bist du jetzt eigentlich Luz oder Zakkurus?«

    Ich mustere sie, aber ausnahmsweise liegt keine Bosheit in ihrem Blick und ihr Tonfall ist sachlich. Es ist eine echte Frage, keine Stichelei. »Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass ich beide sein könnte? Wenn ich Luz bin, bin ich Luz. Als Meisterparfümeur von Aphorai war es jedoch hilfreich für mich, mich durch die Benutzung meines Nachnamens abzugrenzen.«

    »Aber Zakkurus ist … er ist ein …«

    Immerhin hat sie den Anstand zu erröten.

    Ich zucke langsam mit den Schultern. »Du willst wissen, mit welchem Begriff du mich benennen kannst. Während viele Zakkurus als ›er‹ sehen, fände ich ›sie‹ im Plural eigentlich am passendsten. Aber ob nun ›sie‹ oder ›er‹ – Hauptsache, es bleibt unbestimmt. Und in den Augen des oder der göttlichen Asmudtag sind beide einfach Teil des Ganzen.«

    Sie denkt über meine Worte nach, dann nickt sie. Als wäre es damit geklärt.

    Und das ist gut, angesichts des Weges, der noch vor uns liegt.

    *

    Nach Norden reisen wir.

    Immer weiter nach Norden.

    Am zweiten Tag, nachdem wir die Grenze überquert haben, beginnt das Gelände anzusteigen. Normalerweise würde ich mich nicht so früh in die Berge schlagen; einfacher ist die Reise, wenn man der staubigen Ebene folgt, bis sich das Gebirge weiter nach Westen erstreckt und einen zwingt, es entweder zu erklimmen oder sich zurückzuziehen. Wenn ich alleine unterwegs bin oder mit nur einem Schützling, ist diese direkte Route nicht übermäßig riskant – Spuren lassen sich leicht verwischen, Deckung zu finden fällt nicht schwer. Aber mit einer Gruppe dieser Größe ist das etwas vollkommen anderes.

    In meinen Anweisungen war nicht von Schnelligkeit die Rede, also ist es besser, den schwierigeren Weg einzuschlagen, auf dem man keiner Menschenseele begegnet.

    Der Orden wird sich einfach noch etwas gedulden müssen.

    Es überrascht mich nicht, dass wir niemanden getroffen haben. Kein Mensch, der unser Ziel nicht kennt, hätte einen Grund, sich hier entlangzuwagen. Aus dem Grenzland kommt auch niemand her, es gibt nur wenige bis gar keine Ressourcen. Und ohne Grenzländer und so weit vom Rand des Kaiserreichs entfernt, hat auch die Kaiserliche Garde hier nichts verloren.

    Theoretisch gibt es in dieser Gegend wertvolle Metalle im Boden – er ist mit blassgrünen und fahlgrauen Streifen durchzogen. Sie zu fördern wäre allerdings eine schwierige Angelegenheit. Kein Karawanenführer bei klarem Verstand würde sich darauf einlassen, außer wenn er das Dreifache des Lohns bekäme, den er innerhalb des Kaiserreichs erzielen könnte. Es lohnt sich einfach nicht, eine Lieferkette bis hierher einzurichten, dem Ursprünglichen sei Dank.

    Wir erklimmen Hänge ohne jede Vegetation. Selbst der widerstandsfähige Alhagistrauch, der in Aphorai ohne Feuchtigkeit und Pflege gedeiht, weigert sich, hier Wurzeln zu schlagen. Der Mangel an Pflanzen bedeutet, dass die Ponys bei jedem Schritt Staub aufwirbeln. Und immer, wenn der Wind sich bemerkbar macht, wabern Wolken um uns herum, die uns den Atem rauben. Als wir ein Lager aufschlagen, sind die Gesichter meiner Schützlinge von einer grüngrauen Schicht aus Dreck und Schweiß bedeckt, und es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, dass wir etwas streng riechen.

    Als die Sonne am nächsten Tag am höchsten steht, erreichen wir einen Bergkamm. Meine Nase zuckt. Ein weiterer Geruch neben unseren eigenen stechenden Ausdünstungen durchdringt die ansonsten gleichförmige Landschaft.

    Es ist so weit.

    Ich hebe eine Hand, damit die Gruppe stehen bleibt.

    Wie aus Reflex hält der große aphorainische Wachmann dem Mädchen einen Wassersack hin. Sie winkt ab.

    »Trink«, sagt er.

    Sie seufzt und setzt die Öffnung an die Lippen.

    Ich hole mehrere Stoffstücke aus meiner Satteltasche. »Faltet diese dreimal und bindet sie euch vor Mund und Nase. Vergewissert euch, dass die Knoten halten und sie eng anliegen.«

    Ziemlich vorhersehbar stemmt das Mädchen die Hände in die Hüften. »Und wenn nicht?«

    »Dann kannst du am eigenen Leib erfahren, wovor ich versuche, dich zu schützen. Das bleibt dir überlassen, Herzblatt.«

    Ich verteile die Stoffstücke. Die losianische Leibwächterin betrachtet ihrs finster, tut jedoch, was ich sage. Sehr gut. Sie mag störrisch sein, doch sie ist nicht dumm.

    Als alle ihre Maske aufgesetzt haben, binde ich mir meine um und reite voraus über den Bergkamm.

    Normalerweise würde ich alles, was ich hier entlangbringe, festschnüren, aber die Magistra wird sich nicht mit der sicheren Ablieferung meiner Schützlinge im Heiligtum zufriedengeben. Sie wird auf die Ware aus sein, die noch kostbarer ist als Dahkai: Informationen. Also heißt es Gewandtheit statt Gewalt.

    Ich reiche dem Prinzen ein Paar stabile, mit einer Kette verbundene Lederhandschellen. »Mein Prinz, bitte legt die an.«

    Die Losianerin tritt zwischen uns. »Das kommt nicht infrage.«

    Ich erlaube mir einen theatralischen Seufzer. »Entschuldige, Pik, nicht wahr?« Ich weiß ganz genau, dass sie so nicht heißt.

    »Kip«, stößt sie hervor.

    »Mir, Kip. Ich möchte, dass er sie mir anlegt. Außer du möchtest mich lieber fesseln?« Ich zwinkere ihr aufreizend langsam zu.

    Sie starrt mich nur ausdruckslos an. »Frag freundlich.«

    Ich erwidere ihren Blick. Ihre fast schwarzen Augen sind wirklich hübsch.

    Der Prinz hinter ihr hüstelt höflich.

    Ich lächele die Losianerin an, linse um ihre breiten Schultern herum und strecke eine kleine Schriftrolle aus. »Wenn ich anfange, mich Euch gegenüber eigenartig zu benehmen, mein Prinz, müsst Ihr mir das hier zeigen. Ich muss es vollständig lesen und angemessen auf jegliche Frage antworten, die Ihr mir stellt, bevor Ihr mir die Handschellen wieder abnehmen dürft. Wenn Ihr dann noch immer nicht sicher seid, ob ich bei klarem Verstand bin, müsst Ihr mich bewusstlos schlagen. Sonst stelle ich eine Gefahr für Euch dar.«

    Er blinzelt mit seinen großen braunen Augen. »Wie bitte?«

    »Das nächste Tal ist auf einer Strecke von Hunderten Kilometern der einzig zugängliche Weg zu unserem Ziel. Hier wachsen Sultisranken. Ihr werdet wissen, dass man Sultisblätter kaut, um zu vergessen, nicht wahr? Wenn man den Duft ihrer Blüten oder die Dämpfe ihres Pflanzensafts einatmet, ist die Wirkung ungleich stärker. Bei zu hoher Konzentration können die geistigen Kräfte angegriffen werden. Da ich, sagen wir mal, anderen gegenüber im besten Fall misstrauisch bin, möchte ich vermeiden, etwas zu tun, das ich später bereue, sollte etwas Unschönes passieren und das Tal mich dermaßen überwältigen, dass ich nicht mehr ich selbst bin. Wenn wir wieder über der Wolkenlinie sind, könnt Ihr mir die Handschellen abnehmen.«

    Der Prinz streckt eine Hand aus. Bemerke ich da etwa ein Zittern? Nur ganz leicht? Hervorragend. Er muss seinen Verstand zusammenhalten. Ein Hauch Zweifel hilft gegen Selbstgefälligkeit.

    Ich schenke ihm ein weiteres Lächeln, diesmal ein aufmunterndes. »Euch würde ich niemals etwas antun, mein Prinz – als Erstes fällt dem Sultis das Kurzzeitgedächtnis zum Opfer und Euch kenne ich jetzt schon einen Großteil der Monde meines Lebens. Leider kann ich das nicht für die anderen bestätigen. Auch wenn mein Motto immer war, jeder Menschenseele eine Chance zu geben.«

    Die Losianerin schnaubt und spuckt auf den Boden.

    »Eine widerliche Gewohnheit«, fahre ich sie an.

    Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Damit habe ich meine Chance dann wohl vertan?«

    Sie rührt sich nicht, aber etwas in ihrem Blick ist mir eine Warnung. Verhinderte Gardistin hin oder her, die Losianerin kann sich verteidigen und ist bereit, es zu tun. Vermutlich habe ich genug auf Lager, um mit ihr fertig zu werden, falls das nötig sein sollte, aber sicher nicht, ohne ins Schwitzen zu geraten. Und ich hasse es zu schwitzen.

    Wir sind noch keinen Kilometer ins Tal hineingeritten, in dem die Schlingpflanzen von den Felswänden hängen und ihre gewundenen Ranken sich spinnenartig auf dem Boden ausbreiten, als das Mädchen hinter dem Stoffstück vor ihrem Gesicht zu husten anfängt. Sie fasst sich an die Maske.

    »Lass sie auf.« Meine Stimme dröhnt, bis das Echo von den kriechenden Pflanzen verschluckt wird.

    Ihr Blick huscht zum aphorainischen Palastwächter. »Bar? Wo sind wir? Wer sind diese Leute?«

    Bei der Gnade der Ursprünglichen, ich wusste, dass sie empfindlich ist. Aber so früh? Und so heftig? Sie ist wirklich die Tochter ihrer Mutter. Leider erkennt sie schon niemanden mehr, abgesehen vom Aphorainer.

    Sie zerrt an den Zügeln ihres Pferdes – eine ganz untypische Bewegung – und lenkt den Kopf der Stute zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind, reitet einen vorsichtigen Kreis, wobei sie nur noch mehr vom Sultis zerquetscht, dessen milchiger Saft über die Hufe des Tieres spritzt.

    »Rakel.« Die Stimme des aphorainischen Wachmanns ist von der eigenen Maske gedämpft. »Warte.«

    »Erst, wenn du mir sagst, was hier los ist.« Gleich darauf lässt sie sich vom Pferd gleiten und reißt sich den Mundschutz aus dem Gesicht. Sie weicht mit weit aufgerissenen Augen zurück, als könnte sie sich jeden Moment umdrehen und weglaufen.

    »Junge.« Das Wort kommt trotz des Stoffstücks in meinem Gesicht scharf heraus. »Jetzt ist es Zeit, dass du dir deinen Lohn verdienst. Sei ein Held und hol bitte deine Freundin zurück, ja?«

    Das Mädchen entfernt sich einen weiteren Schritt. Dann noch drei. »Du wirst doch nicht ernsthaft Befehle einer Fremden entgegennehmen, oder?«

    Der Wachmann blickt zwischen mir und dem Mädchen hin und her, sein normalerweise hübsches – wenn auch welpenhaftes – Gesicht spiegelt seine Unsicherheit wider.

    Er schluckt hörbar. »Ist das wirklich nötig?«

    Ich könnte vor Langeweile sterben. »Es geht nicht darum, eine Sternkarte zu lesen, Junge. Schnapp sie dir einfach und binde sie an ihr Pferd.«

    Jetzt hebt er die Hände. »Ich werde nicht … Ausgerechnet ich kann nicht … Sie verstehen das nicht. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.«

    »Ich verstehe mehr, als du denkst.«

    Der große Trampel steht einfach nur da, genauso benommen wie ein schläfriges Kleinkind.

    Schließlich tritt die Losianerin an ihm vorbei. Mit ein paar langen Schritten erreicht sie das Mädchen, hebt sie hoch und lädt sie sich grob über die Schulter wie einen Sack Gerste.

    Eine Frau, die die Sache erledigt. Äußerst lobenswert.

    »He!«, kreischt das Mädchen. »Nimm deine stinkenden Pfoten weg!«

    »Hier.« Ich halte eine Phiole mit einer lilafarbenen Flüssigkeit hoch. »Ich werfe sie dir zu.«

    Die Losianerin fängt sie mit ihrer freien Hand im Flug auf und mustert den aphorainischen Wachmann. »Bist du auch zu feige, um das Pferd zu halten?«

    Die Stute ist nervös und zwingt ihn, hinter ihr herzulaufen, damit er das Zaumzeug erwischt. Das Pferd wehrt sich gegen ihn, stampft auf den Boden und setzt dabei immer mehr beißenden Sultissaft frei. »Ganz ruhig, mein Mädchen, das ist nur zu ihrem Besten.«

    Ich habe den Eindruck, das Tier ist verständiger als alle anderen, denn es beruhigt sich weit genug, dass die Losianerin das Mädchen auf den Sattel legen kann.

    »Öffne die Phiole und wedele ihr damit ein paar Atemzüge lang unter der Nase herum.«

    Sie tut wie ihr geheißen. Schnell. Effektiv. Sie fängt an, mir zu gefallen, trotz ihrer scharfen Kanten.

    »Weiter«, dränge ich sie. »Die Wirkung setzt gleich ein.«

    Wie erwartet nimmt das Gesicht des Mädchens einen verträumten Ausdruck an.

    Ich gestatte mir ein zufriedenes Grinsen. Musste mir noch nicht mal selbst die Handschellen abnehmen.

    Als das Mädchen gebändigt ist, verkorkt die Losianerin die Phiole wieder. Sie blickt misstrauisch über die Sultisranken hinweg. »Was passiert, wenn man sich hier verläuft?«

    »Man irrt umher, bis der Körper nicht mehr weiterkann. So ist es vielen ergangen.«

    »Und dann?«

    »Du hast gesehen, woraus der Untergrund hier besteht. Aus nicht viel mehr als Stein. Was glaubst du, woher die Pflanzen die Nährstoffe bekommen, die sie zum Überleben benötigen?«

    Zum ersten Mal sehe ich ihre eindrucksvolle Gestalt erschaudern.

    *

    Ich erkenne Trauer, wenn ich sie sehe.

    Die Rückkehr der Erinnerungen des Mädchens scheint besonders grausam zu sein. Wie üblich erinnert sie sich nach und nach an die Dinge, von alt zu neu. Zu Beginn beäugte sie uns alle außer dem Aphorainer misstrauisch. Dann entspannte sie sich hinsichtlich des Prinzen. Anschließend fing sie angeregt an, vom Harnisch des Prinzen zu sprechen, und nun will sie wissen, wo er ist, warum er nicht hier ist.

    Alle wirken betroffen. Vermutlich kann ruhig ich die Aufgabe übernehmen, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie wird mich sowieso nie besonders mögen, daran ändert das auch nichts. Und es wäre noch grausamer, sie einfach fröhlich weiter über den Harnisch plaudern zu lassen, bis ihr die Wahrheit bewusst wird.

    »Er ist tot«, sage ich. Es hat keinen Zweck, es anders zu verpacken. Selbst der beste Parfümeur kann aus ranzigen Zutaten keine schmerzlindernde Salbe machen. »Er ist im Palast gestorben.«

    Sie sieht mich blinzelnd an, auf dieselbe Art wie immer schon, als versuchte sie herauszufinden, wer ich bin und ob man mir trauen kann. »Ich glaube dir nicht.«

    Bei Sonnenuntergang sackt das Mädchen in ihrem Sattel zusammen und stößt ein durchdringendes Geheul aus.

    Jetzt erinnert sie sich.

    Und soweit ich sehe, ist das der Schlag, der sie schließlich zusammenbrechen lässt.

    Sie reitet schweigend inmitten unserer Gruppe. Einer unausgesprochenen Abmachung zufolge haben sich die anderen um sie herum verteilt, als würde sie jeden Moment wieder versuchen abzuhauen. Ich könnte ihnen sagen, sie brauchen sich keine Sorgen zu machen – es ist offensichtlich, dass ihr Feuer erloschen ist. Aber wenn ihre Fürsorge dazu führt, dass wir schneller vorankommen, umso besser.

    Der bernsteinölgetränkte Aphorainer reitet neben ihr. Als die Kühle des Vorgebirges zur Kälte der Berge wurde, hat er ihr eine Decke über die Schultern gelegt. Dann und wann reitet er näher an sie heran und rückt die Decke zurecht.

    Das Mädchen scheint es nicht zu bemerken.

    Oder zu kümmern.

    Die Monde gehen beide früh auf und beleuchten unseren Weg, also reiten wir durch den Beginn der Nacht. Das Wetter meint es nicht gut mit uns, der klare Himmel sorgt für eisige Kälte und der Wind verhindert jedes Gespräch. Das ist allerdings von Vorteil. Ich muss nachdenken. Was immer der Orden für einen Auftrag für mich hat, nachdem ich den Prinzen in Sicherheit gebracht habe – ich muss bereit sein. Einen Schritt voraus. Stets mindestens einen Schritt voraus. Das war Sephines Fehler. Sie war zu sehr auf die Gegenwart konzentriert, während andere Akteure um sie herum taktierten.

    Erst kurz vor Mitternacht schlagen wir in einer Mulde zwischen den schroffen Felsen unser Lager auf. Die Losianerin macht sich daran, ein Feuer anzufachen, gut geschützt in einem Erdloch, für den Fall, dass die offensichtlich verwaisten Berge doch Augen haben. Der Aphorainer hilft mir mit den Pferden – das würde normalerweise das Mädchen tun, aber seit sie abgestiegen ist, hat sie sich noch keinen Zentimeter gerührt. Der Prinz muss ausgehungert sein – ausnahmsweise verteilt er die Wegzehrung aus getrockneten Früchten und Fleisch sowie gerösteten Nüssen selbst, anstatt darauf zu warten, bedient zu werden.

    Wir essen schweigend, dann schiebt jeder ausreichend Kieselsteine zur Seite, um hoffentlich etwas Schlaf zu finden. Das Mädchen wickelt sich in die Decke und legt sich vom Feuer abgewandt hin. Die anderen versuchen mit ihr zu reden, aber sie erreichen sie nicht, nicht in einer solchen Trauer.

    Meine Worte wären vermutlich die letzten, die ihr Trost spenden könnten, also sehe ich nur zu und warte darauf, dass alle auf ihrer Matte liegen. Sie haben aufgehört, mir jeden Abend Fragen darüber zu stellen, wo wir hinreiten und wie lange es noch dauern wird. Ihnen ist zu kalt und sie sind zu ausgelaugt, um neugierig zu sein.

    Als das Feuer mehr Nahrung braucht, hole ich ein Trauerräucherstäbchen und die letzten Torfballen aus meiner Tasche. Morgen müssen wir unser Ziel erreichen, sonst erwartet uns eine eisige Nacht.

    Nur die Losianerin rührt sich, als ich in der Glut stochere, damit das Feuer möglichst langsam runterbrennt. Sie klappt ein Auge auf, bewegt sich aber nicht.

    Niemand anders sieht, wie ich das Trauerräucherstäbchen neben das Gesicht des schlafenden Mädchens lege.

    2. Kapitel

    Rakel

    Es sind meine Rückenschmerzen, die mich endgültig wecken.

    Ich muss die ganze Nacht eng zusammengerollt dagelegen haben, bin immer wieder eingeschlafen und aufgewacht, die Füße taub vor Kälte, in der Nase den Geruch von Zypressen und … etwas anderem. Ich könnte schwören, es ist Majoran, das man für das zweite Stadium der Trauer verwendet – die Zeit, in der man sich an diejenigen erinnert, die in den Himmel aufgestiegen sind.

    Ich öffne die Augen. Also habe ich es mir nicht eingebildet. Nicht weit von meiner Nase entfernt liegt ein dünnes Trauerräucherstäbchen. Eins von den teuren. Mit einem hohen Anteil an Duftstoffen.

    Ich bin nicht blöd, natürlich ist das ein Zeichen, dass ich weitermachen soll. Anfangen soll, nach vorne zu schauen. Erinnerungen sind Klingen, die der Verlust scharf hält, hat Ash mal zu mir gesagt. Einen geliebten Menschen zu verlieren ist hart genug, ihn zweimal zu verlieren eine besondere Art der Grausamkeit. Nach dem Sultis-Vorfall würde ein Teil von mir am liebsten hierbleiben und einfach abwarten, bis mich die Kälte für immer lähmt. Vielleicht ist das einem von den anderen aufgefallen.

    Barden und Kip bereiten die Ponys darauf vor, einen weiteren Tag lang höher und höher in dieses fäulnisverdammte Gebirge hinaufzukraxeln. Unbeeindruckt von der Aktivität sitzt Nisai am Rand des Lagers und verbrennt im Gebet Räucherwerk. Es dauert eine Weile, bis ich das Aroma wahrnehme; je kälter es wird, desto weniger kann ich mich auf meine Nase verlassen. Ah. Da ist es. Derselbe Geruch wie das Stäbchen in meiner Hand. Nett von ihm, sogar noch in seiner eigenen Trauer an mich zu denken.

    Ich kann verstehen, warum Ash ihm gegenüber so loyal war. Also werde auch ich loyal sein. Wenn dieses Heiligtum, der Zufluchtsort, von dem Luz gesprochen hat, seinem Namen Ehre macht, würde Ash wollen, dass ich einen Fuß vor den anderen setze, bis wir dort angekommen sind. Bis der Prinz in Sicherheit ist.

    Mittendurch, würde er sagen und meine Hand nehmen. Der beste Ausweg ist mittendurch.

    Wir steigen auf die Reittiere und brechen zu einem weiteren Tag des Jammers auf. Über uns lockt der Schnee, dem ich noch nie so nah gewesen bin. Selbst als ich mit Ash in den hagmirischen Bergen war, die mit ihrer dichten Vegetation erdrückend wirken, verglichen mit dem kahlen Fels, der uns jetzt umgibt, sind wir nicht so hoch gestiegen.

    Die Felsformationen hier sind völlig anders als die aphorainische Landschaft. Wir sind von senkrechten grauen Berggipfeln umgeben, die sich in den Himmel recken. Überall gibt es spitze Ecken und Splitter, nicht wie beim Sandstein im Flachland, wo das Wetter alle scharfen Kanten abträgt. Der höchste Gipfel meiner Welt war immer der Tempel in Aphorai-Stadt. Verglichen hiermit ist er ein Ameisenhaufen.

    Ich sollte aufgeregt sein. Neugierig. Nicht nur auf das Heiligtum, sondern auf ein noch tiefgründigeres Geheimnis.

    Meine Mutter.

    Die wenigen Stunden, die wir zu Hause in meinem Dorf verbrachten, bevor wir uns auf diese Reise begeben haben, hätten eigentlich freudig sein sollen. Stattdessen fühlte es sich an, als hätte ein Erdbeben die Wüste unter meinen Füßen ins Wanken gebracht. Ich sollte froh sein, dass sie lebt. Sollte erleichtert sein. Das Gewicht, das ich immer auf meinen Schultern getragen habe, die Überzeugung, dass mein Leben zum Verlust eines anderen geführt hat, ist verschwunden. Aber es wurde durch ein gähnendes Loch ersetzt – von dem Gefühl, ungeliebt zu sein. Verlassen.

    Ich habe dich im Schatten einer Lüge leben lassen, versuchte Vater zu erklären. Das wird mir immer leidtun. Ich wollte dich beschützen, wollte, dass du dein eigenes Leben führst. Als sie mir sagte, dass sie nach deiner Geburt weggehen würde und uns dorthin nicht mitnehmen könne, nicht mitnehmen dürfe …

    Ich war schockiert. Sie musste gar nicht weggehen? Wurde nicht gezwungen?

    Er sah hoffnungslos aus, als bemühte er sich, einen unmöglichen Ausgleich zwischen Vorwurf und Vergebung zu schaffen. Yaita hatte das Gefühl, es sei nötig zu gehen. Ich kenne nicht all ihre Gründe, aber ich weiß, dass das Allerwichtigste für sie war, sich einer höheren Sache zu widmen. Die Dufthüterin verkündete, dass deine Mutter am Kindbettfieber gestorben sei und aufgrund Sephines Gnade ihre Ehren als Priesterin behalten könne und in den Himmel gesandt werde. Ich war sicher, dass ich der Einzige außerhalb des Tempels war, der wusste, dass der Leichnam, den sie auf dem Scheiterhaufen verbrannten, nicht deine Mutter war. Ein Wissen, wie man mir sagte, das mich – und dich – in Gefahr bringen könne, sollte es je ans Licht kommen.

    Im Hier und Jetzt brennt mir der Eisregen im Gesicht. Ich kann kaum zwei Pferdelängen weit sehen.

    Mit der Kälte kehrt auch das Taubheitsgefühl zurück.

    Wir sind ewig gelaufen, ich bin ewig gerannt, und wofür? Weitere Geheimnisse. Weitere Lügen. Auf die Antworten, die ich am Ende dieser Reise finden werde, wäre ich noch vor Monaten so erpicht gewesen, und jetzt erscheinen sie mir bedeutungslos. Alles kommt mir fade vor. Grau. Sinnlos.

    Ich setze einen Fuß vor den anderen. Ich gehe weiter. Aber das heißt nicht, dass es mir gut geht.

    Barden reitet in meiner Nähe. Er ist gut darin, mich wie ein Falke zu beobachten, dabei jedoch zu plump, als dass ich es übersehen könnte. Es sollte ein Trost sein, meinen Freund bei mir zu haben. Aber ich scheine überhaupt nichts zu fühlen. Genau wie diese Landschaft – Fels, Schnee und keinerlei Lebenszeichen – bin ich vollkommen leer.

    Die kalten Tage und noch kälteren Nächte, die wir durchlebt haben, verschwimmen zu einer eisigen Hölle. Die einzige Veränderung heute ist, dass das Schneetreiben immer dichter wird, je höher wir kommen. Bald müssen wir absteigen, um ganze Eisfelder zu überqueren, wobei unsere Füße bei jedem Schritt unter uns wegzurutschen drohen, sodass auch die normalerweise trittsicheren Ponys scharrend Halt suchen.

    Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon laufen, wandern, höhersteigen, als Luz eine Hand hebt, damit wir anhalten.

    Wir stehen nur ein paar Schritte von einer Klippe entfernt. Der Wind zerrt am Saum meines Gewands, schlängelt bitterkalte Finger durch mein kurz geschnittenes Haar. Ich versuche nicht, ihn davon abzuhalten.

    Luz steht am Rand, als wäre nichts dabei, und blickt in den steinernen Abgrund hinab, der die Schluchten in der Nähe meines Dorfes wie einfache Kleiderfalten wirken lässt. Der Boden ist in blau getöntem Nebel versunken. Ich kann weder bei Stink noch bei Stunk hindurchsehen, obwohl die Unschärfe in meinem Blick nach Nisais Heilung langsam nachlässt. Oder vielleicht habe ich mich auch nur daran gewöhnt.

    Vor uns verschwindet der Pfad einfach. Es gibt nur einen schmalen Felsvorsprung, kaum so breit wie eins der Reittiere, die Luz an der Grenze gekauft hat. Jetzt wird überdeutlich, wieso sie sich für Bergponys entschieden hat.

    Sie lässt den Blick über uns schweifen. »Einer nach dem anderen, meine Lieben. Führt die Tiere. Und wenn ihr Höhenangst habt, lasst es euch nicht anmerken. Die Ponys reagieren stärker auf eure Angst, als dass sie selbst Angst vor der Höhe haben.«

    Vielleicht die wahrsten Worte, die ich bisher von diesen Lippen vernommen habe. Ich streichele Lils Hals. »Wir schaffen das, nicht wahr, mein Mädchen?«

    Meine Stute hält still. Ist bereit. Warm und lebendig. Das ist mehr, als ich von mir sagen kann.

    »Lostras, gehst du voraus?«

    Kip nickt. Bei der vertraulichen Anrede zuckt sie nicht mal. Sie war die Erste, die sich an den Spitznamen gewöhnt hat, mit dem Luz sie bedachte.

    »Als Nächstes unser Prinz, dann Baron Bernstein.«

    Barden runzelt die Stirn. Andere haben sich noch nicht an ihren Spitznamen gewöhnt.

    »Dann du mit Mitternacht, Herzblatt.«

    Ich mache mir nicht die Mühe, Lils Namen zu verbessern.

    »Und ich bilde das Schlusslicht.«

    Ich schnaube höhnisch und mein Atem bildet eine kleine Wolke, die gleich darauf vom Wind weggeweht wird. »Damit wir für dich herausfinden, wo die gefährlichsten Stellen sind?«

    »Damit ich leichter zurückkehren und das Pony unseres Prinzen holen kann. Ich werde die Einzige sein, die den Weg dreimal zurücklegen muss.«

    Oh.

    »Aber schön zu sehen, dass du langsam etwas von deinem Biss zurückgewinnst. Ich habe die Essigdämpfe in meiner Umgebung schon vermisst.« Letzteres gibt sie mit ihrem typischen nervtötenden Zwinkern von sich.

    Wir bilden eine Reihe, die anderen führen ihre Bergponys und ich Lil.

    Kip geht mit langsamem, aber sicherem Schritt voraus. Ihr folgt Nisai, der mit seinen Krücken das Eis austestet, bevor er sich darauf stützt. Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, wenn ihn jemand tragen würde. Andererseits, würde es mir gefallen, wenn jemand anders so sehr über mein Schicksal bestimmt?

    Ungefähr auf halbem Weg rutscht ihm eine Krücke weg.

    Ich atme lautstark ein.

    Dann ist Barden bei ihm, stützt Nisai mit einem starken Arm, mit dem anderen hält er sein nervöses Pony in sicherem Abstand. Der Prinz fängt sich und konzentriert sich wieder auf den Pfad.

    Anschließend bin ich an der Reihe.

    Aus der Ferne wirkte der Felsvorsprung eng. Aus der Nähe erscheint er sogar noch schmaler. Er ist kaum breit genug für uns, Lils Flanken streifen die näher rückende Felswand. Ich drehe mich um und sehe, dass der Steigbügel auf ihrer anderen Seite über dem Abgrund baumelt.

    »Augen nach vorn, Herzblatt!«, ruft Luz.

    Ausnahmsweise bin ich voll und ganz ihrer Meinung.

    Ich gehe weiter, einen Schritt nach dem anderen.

    In der Nähe der Stelle, an der Nisai beinahe ausgerutscht wäre, steigt mir etwas Unerwartetes in die Nase. Sicherlich hätte ich es schon früher gerochen, wenn die Kälte die Welt nicht so verzerren würde.

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