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Violet Made of Thorns – Dem Schicksal zu trotzen hat seinen Preis
Violet Made of Thorns – Dem Schicksal zu trotzen hat seinen Preis
Violet Made of Thorns – Dem Schicksal zu trotzen hat seinen Preis
eBook466 Seiten9 Stunden

Violet Made of Thorns – Dem Schicksal zu trotzen hat seinen Preis

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Über dieses E-Book

Violet ist Prophetin und Lügnerin, die den königlichen Hof mit ihren raffiniert formulierten – und nicht immer zutreffenden – Weissagungen beeinflusst. Ehrlichkeit ist für Verlierer, wie den gar nicht so märchenhaften Prinzen Cyrus, der Violet ihres offiziellen Postens berauben will, sobald er am Ende des Sommers den Thron besteigt – außer Violet unternimmt etwas dagegen. Doch als der König sie bittet, für einen bevorstehenden Ball Prophezeiungen bezüglich Cyrus' Liebesleben zu fälschen, erweckt Violet einen gefürchteten Fluch zum Leben, der das Königreich entweder verdammen oder erlösen wird – je nachdem, für welche Braut sich der Prinz entscheidet. Auch Violet steht vor einer Wahl: entweder die Gelegenheit nutzen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, egal was es kostet, oder der wachsenden Anziehung zwischen ihr und Cyrus nachgeben. Violets scharfer Verstand mag sie bisher am intriganten Hof geschützt haben, doch auch er kann ihr Schicksal nicht ändern. Und während die Grenze zwischen Hass und Liebe bei Cyrus und ihr immer weiter verschwimmt, muss Violet ein teuflisches Netz der Täuschung entwirren, um sich selbst und das Königreich zu retten – oder für immer zu verdammen.
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum5. Mai 2023
ISBN9783986663230
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    Buchvorschau

    Violet Made of Thorns – Dem Schicksal zu trotzen hat seinen Preis - Gina Chen

    1

    Prinz Cyrus wird heute in die Hauptstadt zurückkehren und wehe, er bringt keine Braut mit.

    Vom Turm der Sehenden aus, dem höchsten Punkt der Sonnenstadt, kann ich inmitten der Felder vor der Stadt eine Reihe violetter Banner flattern sehen: die königliche Kolonne, die sich den steilen Weg zum südlichen Tor hinaufbahnt. Menschen, die hinter Absperrungen darauf warten, den Prinzen willkommen zu heißen, füllen die Straßen der Stadt. Sechs Monate sind vergangen, seit Cyrus losgezogen ist, um den Kontinent zu bereisen. Seit er sich mit der Absicht auf den Weg gemacht hat, »vom Land und den großzügigen Leuten, die es bewohnen, all die Weisheiten zu erlernen, die ich im Palast nicht erlernen kann«.

    Oder so was in der Art. Ich habe ihm nicht mehr zugehört, seit er so ungefähr bei der Hälfte seiner Rede angelangt war.

    Vor allem aber ging er auf Reisen, um eine Braut zu finden – eine Lösung für seinen Fluch. Das hat Cyrus in seiner Rede nicht erwähnt. Was ich weiß, weil König Emilius, sein Vater, ihn anschließend für diese Auslassung angeherrscht hat und ich es dann in meiner Rede ein paar Tage später erwähnen musste, als ich bekannt gab, dass ich eine neue Prophezeiung geträumt hatte.

    Das Beste am Seherinnendasein ist nicht der Turm oder die Annehmlichkeiten oder der Kontakt zum König, sondern wie einfach dir alle glauben, was du sagst.

    »Ohne Seine Hoheit war die Stadt nicht annähernd so lebhaft wie sonst. Mir fehlen all die wild gewordenen Mädchen, die sich nur darum reißen, ihn zu retten«, sagt die Frau mit dem Pfirsichgesicht am Lesungstisch. »Das ist nun wohl endgültig vorbei. Er wird doch inzwischen unsere nächste Königin auserwählt haben, oder etwa nicht?«

    Wenn Cyrus auf mich gehört haben sollte, dann hat er gewählt. »Kann man nur hoffen«, murmele ich und wende mich vom Fenster ab.

    »Bitte?«

    »Ich sagte, er hat sie getroffen.« Ich werfe meiner einzigen Besucherin an diesem Tag ein mysteriöses Lächeln zu. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich heute, da die königliche Karawane zurückkehrt, überhaupt jemand im Turm aufsucht. Doch die vom Wetter gezeichnete Frau erscheint mir – mit ihrem breitkrempigen Hut und schwieligen, offen auf dem Marmortisch liegenden Händen – zu praktisch veranlagt, als dass sie Schlange stehen würde, nur um einen Blick auf ein königliches Gesicht zu erhaschen. »Wenn Ihr von der Prophezeiung sprecht, die ich vor der Abreise Seiner Hoheit empfangen habe … In meinen Träumen hieß es: ›Noch bevor seine Reise endet, wird Prinz Cyrus seiner Braut begegnen.‹ Nicht mehr und nicht weniger.«

    Sie nickt. »Ich konnte mich nicht mehr an Euren genauen Wortlaut erinnern …«

    »Der genaue Wortlaut ist wichtig.« Vier Nächte lang bin ich durch diesen Raum getigert, um diese Worte auszuwählen. Da werde ich nicht dulden, dass sie jetzt, da es endlich von Bedeutung ist, falsch wiedergegeben werden. Ich hebe meine Robe, setze mich ihr gegenüber hin und streife dabei meinen schweren geflochtenen Zopf über die Schulter. Je eher diese Lesung vorüber ist, desto eher nimmt diese belanglose Unterhaltung ein Ende und ich kann zum Palast gehen und den Prinzen begrüßen. »Was soll ich für Euch hellsehen?«

    Die Frau zieht eine Augenbraue hoch. Dass ich so kurz angebunden bin, verärgert sie, doch sie sagt es nicht. »Ich sorge mich lediglich um die Ernte, Sehende Meisterin Violet. Um die Zukunft meines Hofs. Mag uns das Schicksal gnädig sein.«

    Sie macht mir keinen Spaß, diese Handleserei. Doch der König besteht darauf, dass ich mich regelmäßig mit dem gemeinen Volk abgebe, damit es dem Mädchen vertraut, das die Zukunft des Königreichs vorhersagt. Ob das oder die Ehevermittlung, aber beim Anblick liebeskranker Tölpel dreht sich mir der Magen um.

    Ich lege meine Hand über ihre und die Berührung lässt etwas in meinem Geist aufleuchten, das so gleißend ist wie die Sonne. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf die Linien ihrer Handfläche, die Furchen und Narben, das Blut, das darunter pulsiert – jegliche Zeichen ihrer Vergangenheit, an die ich meine Magie knüpfen kann. Mit meiner Gabe finde ich die Fäden in meinem Geist, die ihre Seele mit dem Lauf der Welt verbinden:

    Ein am Hang gelegener Bauernhof, umringt von goldenen Feenglöckchen.

    Ausflüge zur Sonnenstadt, Teil ihres monatlichen Rhythmus.

    Ein weiterer Hof in den Grenzgebieten. Familie? Ein Geliebter? Der Feenwald zeichnet sich dunkel am Horizont ab.

    Lange Tage auf dem Feld dehnen sich bis in die Nacht …

    Und so weiter.

    Am deutlichsten sind die Fäden, die bereits gesponnen wurden: ihre Erinnerungen. Die Fäden der Zukunft sehen dagegen verschwommen aus und können sogar widersprüchlich sein. Hinter dem Schicksal stecken launische Götter und die Zukunft ändert sich ständig. Wenn ich die Schicksale nicht eindeutig erkennen kann, kann ich stattdessen manchmal ihre Absicht spüren. Unheilvolles fühlt sich an wie eine regnerische Böe vor dem Sturm, eine Gelegenheit wie das Eintauchen in warmen Honig. Meistens jedoch lassen sich die Schicksale nicht gern in die Karten sehen.

    Zumindest nicht, ohne es zu wollen.

    Wer meinen Rat sucht, muss sich mit den wenigen Bruchstücken begnügen, die ich sehe. Ich bin die einzige Seherin in Auveny, die einzige Wahl meiner Kunden. Das ist kein Zufall. Es gibt neun Sehende auf der Welt. Wir sind allesamt an einem der fürstlichen Höfe beschäftigt. Wir sind zu nützlich, um uns uns selbst zu überlassen. Ich habe gehört, dass die Seherin in Yue neben ihren Prophezeiungen von den Wellen eines Teichs auch Stürme ablesen kann und dass die in Verdant den Zeitpunkt einer jeden Geburt kennt.

    Ich bin die jüngste der Sehenden und wurde vor sieben Jahren auf den Straßen Auvenys aufgelesen. Alles, was ich kann, ist träumen, Fäden lesen und … lügen.

    »Ihr braucht Euch nicht zu sorgen«, murmele ich, während ich meinen geistigen Blick auf ihre diffuse Zukunft richte. Ich schmücke die vage Vision mit Details aus ihrer Erinnerung aus. »Eure Feenglöckchen sollten dieses Jahr prächtig wachsen. Doch seid weiterhin fleißig, schweift nicht so viel umher und bleibt in der Nähe Eures Hofs.«

    Als ich meine Augen wieder öffne, zieht die Frau ihre Hände zurück. »Das Schicksal ist gnädig. Es tut gut, das zu hören«, sagt sie. »Sonst noch etwas?«

    Ich schwafele vor mich hin, bis sie endlich zufrieden ist. Dankend wirft sie ein paar Silberstücke in das leere Brunnenbecken, das als Gabengefäß fungiert, und verlässt den Turm.

    Ich schiele über den gewellten Rand des Brunnens und seufze. Zwar bin ich nicht auf die Münzen angewiesen, denn der Palast stellt alles bereit, was ich brauche. Doch der Brunnen meiner Vorgängerin war immer randvoll mit Gaben gefüllt. Seit ich dagegen im Amt bin, nun ja … setzt er nur noch Staub an.

    Und nun, da Cyrus zurück ist, wird es mit meinem Ruf wohl nur noch bergab gehen.

    Draußen in der Stadt branden die Jubelrufe auf und wieder ab. Ich muss kaum aus dem Fenster blicken, um zu wissen, dass die königliche Kolonne in der Stadt eingetroffen ist. Der Hof hat schon Intrigen um Cyrus’ Rückkehr gesponnen, als er gerade erst abgereist war. König Emilius ist immer kränklicher geworden und man erwartet, dass Cyrus noch vor Ende des Jahres den Thron besteigt. Es ist an der Zeit, um seine Gunst zu buhlen.

    Ich knirsche mit den Zähnen. Das gilt auch für mich.

    Vor sieben Jahren verlautete die Sehende Meisterin Felicita – mögen die Sterne ihre Seele geleiten – ihre letzte Prophezeiung:

    »Das Land wird rot erblühen – mit Blut und Rosen und Krieg. Das Herz des Prinzen wird entscheiden, uns verdammen oder erlösen. Seine Wahl vermag es, uns alle zu retten. Alles liegt an ihr, seiner Braut! Ein Fluch, ein Fluch, verfluchter Fluch. Bei den Göttern, seid wachsam …«

    Und das war alles, bevor sie starb. Ein Dienstmädchen, das sie an ihrem Krankenbett gepflegt hatte, behauptete, der Mund der Seherin sei weit aufgerissen erstarrt, die Faust an ihre Kehle geklammert gewesen. So als hätte sie gegen jemanden angekämpft, um sprechen zu können. Selbst als sie tot war, gelang es nicht, ihren verkrümmten Körper aus der Starre zu lösen.

    Das Königreich versank in Paranoia. Hatte Felicita das Ende von Auveny verkündet? Das Ende der Welt? Warum spielte der Prinz dabei eine Rolle? Nach ihrem Tod wurde ich zur neuen Seherin ernannt, obwohl ich damals erst ein Kind war. Ein Straßenkind, das in Seide gehüllt Theater spielte. So durcheinander wie alle anderen. Ich träumte nie von dem, was Felicita beschrieben hatte.

    Und da ich keine Antworten parat hatte, war ich bei den Leuten nicht besonders beliebt.

    Wir baten die Sehenden der Nachbarländer um Hilfe und warnten sie im Gegenzug, doch auch sie konnten keine bösen Vorzeichen spüren. Die großmütterliche Seherin von Balica merkte an, dass das, was Felicita gesehen hatte – sofern es nicht nur ein Fiebertraum gewesen war –, womöglich noch in weiter Zukunft lag. Wir hatten Zeit, uns vorzubereiten.

    Und so hielt das Königreich in der Hoffnung, dass Cyrus sich verlieben würde, mit jedem Wechsel der Jahreszeit, jeder Gala und jedem Besuch bei Hofe die Luft an. In diesem Punkt war Felicitas Prophezeiung schließlich deutlich genug gewesen: Die Zukunft hing vom Herzen des Prinzen ab, von seiner Wahl und seiner Braut.

    Sieben Jahre vergingen, ohne dass Cyrus jemanden auserkoren hat. Eine unheilvolle Bestimmung lastet auf seinen Schultern und er beschließt, pingelig zu sein.

    Aber auch er kann nicht ewig Zeit schinden.

    Ich mache mich auf den Weg zum Palast, um das Resultat seiner Reise selbst in Augenschein zu nehmen. Es ist nicht weit. Der Eingang zum Turm ist über eine Brücke mit dem nördlichen Ende des Palastgeländes verbunden – ohne die ich bis zum Fuß des Turms am Flussufer des Julep erst einmal zweihundert Stufen hinabmarschieren müsste. Der Turm der Sehenden ist ein knorriges Relikt des Feenwalds, der sich einst über den gesamten Kontinent erstreckte – gewachsen, nicht erbaut, und deshalb auch nie zweckmäßig gestaltet.

    Märchen zufolge ließ eine der ersten Sehenden die Wände aus dem Boden wachsen und so hoch emporsteigen, dass sie inmitten der Sterne leben konnte. Zu jener Zeit, als der Feenwald noch ungebändigt war, noch wenige Nationen existierten und das Land voller Magie schien, waren derartige Kunststücke angeblich üblich. Ich würde es selbst nicht glauben, wenn ich nicht manchmal von Fäden längst vergangener Zeiten träumte – Zeiten, in denen die von Feen erleuchteten Baumkronen selbst Berge überragten und in denen die klügsten Wesen, die durch die Wälder streiften, noch keine Menschen waren.

    Heute scheint der Turm der Sehenden einfach fehl am Platz. Gleich einem Stamm versteinerter Ranken, der vom Flussufer emporwächst und vor den Bauten der Stadt einen grünen Kontrast bildet, ragt er nur mehr wie ein Reißzahn in den Himmel. Meine Robe flattert im Wind, als ich die Brücke überquere und mich vom Turm entferne. Hinter den Marmorwänden des Palasts und den goldverzierten Turmspitzen verschwindet die Sonnenstadt aus meinem Blick. Ich passiere ein paar Tore und erreiche die Gartenanlagen: ein Flickenmuster aus akkuraten Blumenbeeten, verzierten Brunnen und dekorativen Bäumen.

    Unterwegs werde ich ein paarmal gegrüßt – eine kurze Verbeugung oder ein Knicks, begleitet von einem gemurmelten »Sehende Meisterin«. Andere wissen, dass ich nichts von Formalitäten halte. Auf Zehenspitzen biege ich zwischen dem Heckenlabyrinth und einer Reihe frisch beschnittener Begonien auf einen schmalen Pfad für Bedienstete und gelange mit nur leicht erdigen Schuhen zu einem der Hintereingänge des Palasts.

    Im Inneren des Palasts dringen aus allen Räumen und Fluren Unterhaltungen an mein Ohr. Ich runzle tief meine Stirn. Das, was ich da höre, verstört mich – oder vielmehr das, was ich nicht höre.

    Ich gehe die Stufen zu den königlichen Gemächern hinauf und die Gespräche verklingen. Als ich näher komme, werfen mir die Wachen vor Cyrus’ Gemächern beunruhigte Blicke zu, halten mich aber nicht auf.

    Weit reiße ich die Flügeltüren zu seinem Schlafzimmer auf.

    »Lasst sie nicht herein … Violet, verschwinde

    Mein Blick fällt auf Cyrus, der – zumindest größtenteils – bekleidet vor seiner Garderobe steht und … hui … sogar noch besser aussieht als zuvor.

    Cyrus Lidine von Auveny könnte auch direkt einem Märchenbuch entsprungen sein: elegant, belesen, geistreich, wenn er sich dazu herablässt, mit einem zu reden, und selbst ohne Feenzauber wunderschön. An ihm würde selbst ein grober Leinensack stylish aussehen und sein Lächeln verursacht mehr Ohnmachtsanfälle als die Sommersonne.

    Jetzt, am Ende seines neunzehnten Lebensjahrs, ist er ausgewachsen, Muskeln glätten seine zuvor noch jugendlichen Kanten. Seit er aufgehört hat zu wachsen, wirken auch seine Kleider nicht länger zu klein. Farbe ist in seine Wangen zurückgekehrt, die nach einer Erkrankung in Jugendjahren früher blass wie Porzellan waren, und der neue Schnitt seines Kupferhaars hat ihm das jungenhafte Aussehen genommen.

    Doch manche Dinge ändern sich nie. Einschließlich dem herablassenden Blick, den er mir zuwirft, weil ich anders als angeordnet nicht verschwinde. Die Monate, die wir uns nicht gesehen haben, haben den Hass zwischen uns nicht gemindert.

    Nicht einmal ein ganzes Leben würde da reichen.

    »Du kannst hier nicht so einfach reinplatzen …«, setzt Cyrus an.

    »Und doch habe ich das soeben getan«, sage ich leise und lasse den Blick durchs Zimmer schweifen. Ich bin die Einzige hier, was ein Problem ist. Auch das Bett ist ordentlich gemacht und das Bad anscheinend leer. Unten ist mir keine Gefolgschaft begegnet, keine Hofdamen, die sich um den letzten Neuzugang der sonnenstädtischen Gesellschaft scharen. Es stellt sich also die Frage: »Wo ist sie?«

    Cyrus wendet sich dem Spiegel zu und fährt fort, seine Weste zuzuknöpfen. »Wen meinst du?«

    »Ihre zukünftige Majestät. Das Mädchen, das du heiraten wirst

    »Geht dich gar nichts an.«

    Schwingenden Zopfes stapfe ich zu ihm hinüber. »Das geht mich«, sage ich und zwänge mich zwischen ihn und den Spiegel, woraufhin er einen schweren Seufzer ausstößt, »sehr wohl etwas an.« Hätte ich in meiner frühen Kindheit mehr zu essen bekommen, wäre ich vielleicht so groß, ihm direkt in die Augen zu blicken. Doch so überragt er mich um eine ganze Handbreit und ich muss mein Kinn in die Höhe strecken, um ihn wütend anzustarren. »Ich habe vorhergesagt, dass du eine Braut finden wirst, und nun bist du hier, ganz ohne Begleitung. Mach mich nicht zur Lügnerin.«

    »Dann hättest du nicht lügen dürfen.«

    Meine Augen verengen sich. Cyrus ignoriert mich und schlüpft in ein mit Vogelmuster verziertes Wams.

    Es war nur eine kleine Lüge, etwas, um das Gerede zu ersticken. Vergangenen Herbst erreichten uns Berichte, dass sich der Feenwald in der Nähe der Grenzgebiete schwarz färbte und des Nachts blutrote Rosenblätter durch Dörfer wehten. Die Menschen wurden unruhig. Also bat König Emilius mich, in der Zukunft nach irgendwelchen Hinweisen oder Einzelheiten zu Felicitas Prophezeiung zu suchen.

    Doch die Nächte blieben erfolglos, meine Träume enttäuschend leer.

    Als Cyrus dann seine Reise ankündigte, sog ich mir einfach etwas aus den Fingern, um den Hofstaat zu beruhigen.

    Noch vor dem Ende seiner Reise wird Prinz Cyrus seiner Braut begegnen.

    Eine kleine Lüge geht runter wie verwässerter Wein. Du bemerkst sie kaum und wenn doch, reicht es nicht, um dich darüber zu beschweren. Schließlich muss Cyrus so oder so irgendwann eine Braut finden. Ich habe ihm nur ein Zeitlimit gesetzt.

    »Also gut«, sage ich mit vor der Brust verschränkten Armen. »Ich habe nicht wirklich geträumt, dass du eine Braut findest. Allerdings hätte das auch gar nicht nötig sein sollen. Du hättest dich schon längst entschieden haben sollen.« Ganze Wege könnte man mit den Verehrerinnen pflastern, die für ihn auf den Straßen für ihn schwärmen. Wie schwer kann das denn schon sein? »Solange du Felicitas Prophezeiung im Nacken hast, werden die Menschen Angst haben und sich auch vor deiner Herrschaft fürchten. Sie sagen, du seist verflucht – natürlich nur hinter deinem Rücken. Ich habe dir Zeit verschafft, Prinzchen. Zeit und Zuversicht.«

    Prüfend rückt Cyrus die Manschettenknöpfe in Form zweier kleiner Löwenköpfe zurecht und fährt gelangweilt fort: »Wie ich sehe, bist du mal wieder mehr um den Anschein als die Prophezeiung selbst besorgt.«

    Ich fletsche meine Zähne. »Ich kann mich durchaus um zwei Dinge gleichzeitig sorgen.«

    »Selbstverständlich. Um deinen prekären Ruf und die Meinung meines Vaters über dich.«

    »Die neuesten Berichte der Grenzpatrouillen sind letzte Woche eingetroffen. Sie haben im Feenwald verrottende Bäume gefunden.«

    »Das ist mir bekannt. Ich habe sie gesehen.« Er hört endlich auf, seine Kleidung zurechtzurücken, und schaut zu mir hinab. Ein beunruhigter Ausdruck umspielt das Grün seiner Augen. Doch ich sehe es nur kurz, denn er wendet seinen Blick schon wieder ab. »Mein Vater müsste schon Truppen losgeschickt haben, um die faulenden Stellen zu verbrennen.«

    »Aber die Wurzel des Problems …«

    »… ist womöglich Felicitas letzte Prophezeiung, ja. Dagegen kann ich aber nichts tun. Ich kann mir nicht aussuchen, wann oder in wen ich mich verliebe.«

    In der Prophezeiung wird nur von einer Braut gesprochen, von Liebe war nie die Rede. Doch Cyrus ist ein Romantiker, glaubt, es sei wichtig. Anderenfalls würde er schon längst seinen dritten Hochzeitstag mit einer für ihn arrangierten Prinzessin aus Verdant feiern. »Du versuchst es ja nicht einmal«, entgegne ich schroff.

    Cyrus schüttelt nur den Kopf. »Ich mache den Menschen nur keine falsche Hoffnung, dass die Prophezeiung gebrochen wird. Das ist alles.«

    Er dreht sich zur Schlafzimmertür und ich folge ihm aus seinen Gemächern hinaus auf den Korridor, wo es von ziellos umherlaufenden Höflingen nur so wimmelt. Mit leuchtenden Augen und lauter Fragen wenden sie sich dem Prinzen zu. Cyrus lächelt entwaffnend, dann versteinert seine Miene abrupt, er ignoriert sie allesamt und saust die Treppe hinunter. Zwei Wachen stellen sich schützend hinter ihn, doch ich schlüpfe an ihnen vorbei.

    Ich senke meine Stimme. »Hast du wenigstens einen Plan, was du tun wirst, wenn du die Menschen damit in Panik versetzt?«

    »Das werde ich gewiss nicht mit dir besprechen«, brummt er mir zu.

    »Mit mir?«, spotte ich in demselben Tonfall und presse die Hand gegen meine Brust.

    »Du, die mich seit Jahren bei jeder denkbaren Gelegenheit hintergeht.«

    »Jahre, die du nicht gehabt hättest, wenn ich nicht dein Leben gerettet hätte.«

    Cyrus wirft mir einen wütenden Blick zu. Er hasst es, wenn ich ihn an unser erstes Treffen erinnere. Ich dagegen erwähne es liebend gern.

    Als er das Ende der Treppe erreicht, schlägt er unverzüglich eine andere Richtung ein, um die Menschenmenge zu umgehen, die uns im Atrium entgegenströmt. Der Teppich dämpft die schnellen Schritte, mit denen er mich und alle anderen abzuhängen gedenkt. Doch ich lasse mich nicht abhängen. Die blaue Seide meiner Robe flattert hinter mir her.

    »Es geht hier nicht nur um die Prophezeiung«, rufe ich ihm hinterher. Einige der Herzöge sind über seinen bevorstehenden Amtsantritt alles andere als erfreut. Cyrus ist ihnen zu ehrlich. »Der Rat wird diese Angst gegen dich verwenden. Seine Mitglieder sagen, du seist nicht für den Thron gemacht. Welchen Teil von ›Du bist verflucht‹ verstehst du nicht?«

    Er kneift seinen Mund zu einer schmalen Linie zusammen. Er weiß, dass ich recht habe. »Die Ratsmitglieder sollten sich um ihre eigenen Angelegenheiten sorgen, nicht um die fiebrigen letzten Worte einer Prophetin, denen es an Einzelheiten oder Zeitangaben mangelt. Schon morgen könnte ein Erdbeben, eine Flut oder ein herabfallender Stern uns alle auslöschen und das kümmert auch niemanden.«

    »Das mag ja alles sehr logisch sein. Nur reagieren die Menschen genauso allergisch auf Logik wie ich auf Feenstaub, Prinzchen …«

    Ohne jede Vorwarnung dreht er sich zu mir um und ich laufe beinah in ihn hinein. Der Saum seines Umhangs streift meine Füße. »Du willst doch nicht einmal, dass ich König werde. Warum sollte ich auf dich hören?«

    Ich schlucke einen bitteren Klumpen in meiner Kehle hinunter. Weil er König sein wird. Ungeachtet dessen, ob es eine Panik gibt. Ungeachtet dessen, was der Rat denkt. Cyrus bekommt am Ende immer das, was er will. »Wir können unsere Energie entweder damit verschwenden, uns zu streiten, oder aber lernen zusammenzuarbeiten. Wir müssen uns nicht mögen, um die Lage in den Griff zu bekommen.«

    »Was aber, wenn ich nicht mit dir zusammenarbeiten will?«

    »Das musst du aber, eines Tages. Ich bin deine Seherin.«

    »Das könnte ich ändern.«

    Aus Gewohnheit lache ich, doch hinter seinen gesenkten Lidern blitzt es kalt hervor. Wir haben schon immer so gestritten wie jetzt und doch … Nein. Cyrus könnte mich gar nicht wegschicken. Er würde es nicht wagen, ein solches Exempel zu statuieren und eine Seherin ihres Amtes zu entheben. Nicht, wenn es nur so wenige von uns auf der Welt gibt.

    Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Du brauchst mich mehr, als du mich hasst.« Vielleicht eine etwas arrogante Aussage, aber der einzige Weg, ihn auf die Probe zu stellen.

    Er zieht die Mundwinkel leicht nach oben. Das einzige Anzeichen, dass er diese Unterhaltung zumindest zum Teil genossen hat. »Ist das so?«

    Er wendet sich wieder von mir ab. Ich beobachte ihn, wie er den Korridor entlang in Richtung Ratssaal geht. Ein Bediensteter verbeugt sich und öffnet die vergoldeten Türen, Cyrus betritt den Raum und verschwindet.

    Die meisten der vierzehn Herzöge, aus denen sich der Rat zusammensetzt, oder aber ihre Stellvertreter sind bereits vor einer Woche zu der halbjährlich stattfindenden Ratssitzung eingetroffen. Mit jeder Menge Prunk und nur wenig Fortschritt streiten sie sich über Steuern und die Aufteilung der Drachengarde auf ihre jeweiligen Gebiete. Auveny ist die größte und wohlhabendste der drei Nationen des Sonnenkontinents – es ist der Republik Balica im Süden und dem Königreich Verdant jenseits des Feenwalds und den östlichen Gebirgen weit voraus. Unter den Amtsträgern des Landes befördert dieser Status eine Mischung aus Ehrgeiz und Bequemlichkeit. Zusätzlich rühmen wir uns damit, mit fairen Gesetzen und selbst Chancen für die ärmsten Untertanen ein vorbildliches Königreich zu sein.

    Somit herrscht hier auch eine gehörige Menge Selbstgefälligkeit.

    Zu viel heiße Luft, als dass es sich lohnen würde, sie zu belauschen, wie ich finde. Und wenn es doch etwas Interessantes geben sollte, spricht es sich ohnehin bald herum. Geheimnisse springen in der Sonnenstadt wie Flöhe durch die Gegend. Bei Angelegenheiten, die eine Seherin erfordern, ruft König Emilius ohnehin bald mich persönlich hinzu.

    Nachdem Cyrus im Ratssaal verschwunden ist, warte ich in der oberen Bibliothek die Ergebnisse ab. Ich habe schon viele Nachmittage zwischen den sorgfältig ausgewählten Buchbänden verbracht. Ihre Inhalte mögen zwar unglaublich trocken sein, bieten mir aber zumindest eine Möglichkeit, die unbekannten Dinge, die ich in meinen Träumen sehe, zu benennen. Ich war selbst noch nie weit von den mit Flüssen durchzogenen Hügeln der Hauptstadt entfernt. Meine Pflichten halten mich hier und ich bemühe mich, stets anwesend zu sein, falls nach mir verlangt wird. Ich werde so schon genug kritisiert, ohne zur Liste meiner Unzulänglichkeiten noch faul hinzuzufügen.

    Gerade blättere ich in einem Reisebericht eines berühmten yueanischen Entdeckers vom Mondkontinent, als ich mit einem Knall Türen auffliegen höre und daraufhin ein lautes Stimmengewirr vernehme. Es ist noch nicht einmal eine Stunde vergangen. Ich lege das Buch beiseite und folge dem Lärm und der immer größer werdenden Menschenmenge zum zentralen Empfangshof des Palasts, wo Lord Rasmuth der Siebte und Lord Ignacio der Dreizehnte miteinander streiten.

    Letzterer stampft so heftig mit einem Fuß auf den Boden, dass ein paar Vögel aufgeschreckt davonfliegen. »Ich pfeife auf Effizienz«, brüllt Ignacio ihn an. »Auf dem Prinzen liegt noch immer ein Fluch! Ich werde ihn als König nicht befürworten, bis er eine Königin findet … und ich wage zu behaupten, selbst dann!«

    Mit meinem langen schwarzen Zopf und dem schimmernden, fließenden Gewand steche ich trotz meines kleinen Wuchses aus der Menge hervor. In meiner Nähe richten immer mehr Leute ihre fragenden Blicke auf mich. Genau das wollte ich vermeiden.

    Ich seufze laut, als sich die in einen Schal gehüllte Dame an meiner Seite zum dritten Mal zu mir wendet, als müsse sie noch den Mut aufbringen, mich anzusprechen. Nach dem vierten Seitenblick verbeugt sie sich kurz und wendet sich endlich an mich: »Sehende Meisterin, wird es nicht schon bald eine Hochzeit geben? Ihr habt doch gesagt …«

    »Dass Seine Hoheit seiner Braut begegnen wird, bevor seine Reise endet«, fahre ich ihr über den Mund. »Doch nicht bevor sein Reiseabschnitt endet. Seine Reise ist wohl eindeutig noch nicht zu Ende.« Genau deshalb ist der genaue Wortlaut so wichtig.

    Ich täusche Kopfschmerzen vor und ziehe mich zurück. Während ich mir einen Weg zurück in den Palast bahne, erkenne ich an den schockierten Mienen und dem Geflüster, wie die Wirkung meiner Antwort durch die Menschenmasse schwappt. Noch bevor es dunkel wird, werden die Neuigkeiten durch die ganze Stadt gesickert sein.

    Cyrus’ Schritte hallen lauter als die der anderen in meiner Nähe wider. Sie geben jedermann zu verstehen, dass Seine Hoheit für den Moment keine Fragen beantworten wird. Seine Rockschöße flattern an mir vorbei, als er in Richtung des Palastflügels, in dem sich das Arbeitszimmer seines Vaters befindet, davonfliegt.

    Ich kann nicht widerstehen, ihm hinterherzurufen: »Ich sage es ja nur ungern, Prinzchen … Ach, Blödsinn, ich sage es sogar sehr gerne. Ich habe dich gewarnt!«

    Er hält nicht einmal inne, um mir einen finsteren Blick zuzuwerfen.

    Cyrus’ rebellisches Verhalten bereitet uns beiden Unannehmlichkeiten. Ihm allerdings noch mehr als mir. König Emilius kennt die Launen seines Sohnes. In der Öffentlichkeit setzen die zwei zwar ein Lächeln auf, doch abgesehen davon streiten sie vielleicht sogar noch mehr als Cyrus und ich – wobei Cyrus nie gewinnt. Das weiß ich, weil ich noch nie erlebt habe, dass der König auch nur in irgendeinem Belang seine Meinung geändert hat.

    Mich hat der König dagegen schon immer sehr geschätzt und genau deshalb kann Cyrus mich nicht ausstehen. Den Respekt seines Vaters muss man sich hart erkämpfen, was so selten passiert, wie einen Schatz aus den Tiefen einer Drachenhöhle zu rauben. Dieser Respekt wird mich sogar dann schützen, wenn Cyrus den Thron bestiegen hat. König Emilius wird selbst nach seiner Abdankung zumindest noch eine Hand in Auvenys Puppentheater mit im Spiel haben. Die Herzöge des Rates sind alle von ihm ernannt worden und Emilius somit treu ergeben. Dort liegt seine eigentliche Macht.

    Schon bald nach der Rückkehr in meinen Turm legt sich der Abend einem Vorhang gleich über den Himmel. Ich genieße diese Stunden, in denen es schon zu spät ist, als dass jemand vorbeikommen und nach meinen Diensten fragen würde. Oben in meinem Schlafzimmer entfache ich ein Kaminfeuer und lasse mir ein kaltes Bad ein. Ich streife die Robe von meinen Schultern, knöpfe den Rock auf, ziehe mir die Bluse und das Unterkleid über den Kopf.

    Ich wappne mich gegen die Kälte, tauche in die Wanne und wasche mich im Kerzenschein. Auf meiner durch die Seife inzwischen geschmeidigen Haut sind die alten Narben kaum noch zu erkennen. Vom parfümierten Wasser wird mein Haar schwer und legt sich wie eine dunkle Lache aus Tinte um mich.

    Wer mich heute so sähe, würde niemals vermuten, dass ich als dürres Unkraut in einer ärmlichen Ecke des Mondviertels geboren wurde. Jetzt habe ich einen Turm für mich allein, mit einer Badewanne aus Porzellan und einem Bett aus Seide. Ich kann lesen und schreiben, esse so gut wie die Königsfamilie selbst und die Menschen verbeugen sich vor mir.

    Und doch können weder Turm noch Titel den Menschen die Angst vor Dingen nehmen, die sie nicht verstehen. Wenn etwas so Fremdes wie Magie jemandem innewohnt, der ihnen so fremd ist wie ein Mädchen mit ausländischen Zügen, hatte ich nie eine Chance. Daran sollte ich wohl das nächste Mal denken, wenn ich dem Prinzen arrogante Sprüche zuwerfe. Auch wenn ich recht habe.

    Als ich mich abgetrocknet habe, ziehe ich mein Nachthemd an und falle erschöpft ins Bett.

    Als ich meine Augen schließe, klackert etwas im Stockwerk unter mir.

    Dann noch einmal und immer wieder: Klack, klack, klack.

    Knarzende Möbel? Ich runzle die Stirn.

    Klack, klack, klack, klack.

    Gekicher.

    Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren. Es gibt keinen Grund, warum ich nicht allein sein sollte. Ich schlüpfe aus dem Bett und greife nach dem erstbesten stumpfen Gegenstand, den ich im Dunkeln finden kann. Nach einem langstieligen Besen neben der Badewanne. Mit angehaltenem Atem tapse ich die Treppe hinunter. Vorsichtig, damit die Stufen nicht knarzen.

    In der stockfinsteren Nacht laufe ich den Raum kreisförmig ab, taste mich an den Einbuchtungen der Wände entlang. Doch das einzige Geräusch kommt von meinen Füßen, die über den Boden schlurfen.

    Niemand ist hier. Um mich zu beruhigen, frage ich trotzdem in die Dunkelheit hinein: »Wer ist da?«

    Ich höre ein Zischen, wie wenn eine Zunge auf heißen Stahl trifft. Ich schwinge den Besen in einem weiten Bogen und treffe etwas Festes, das daraufhin scheppernd über den Boden schlittert.

    Eine hölzerne Schale auf einem Tablett. Ich atme erleichtert aus.

    Ein gurgelndes Lachen. Ha ha ha.

    Vi…o…let.

    Wieder wirbele ich den Stiel herum. Stolpere. Das Echo meines Namens hallt in meinem Kopf wider, direkt neben mir und nirgendwo zugleich.

    Was für einen passenden

    Namen

    du hast,

    Vi…o…let.

    Die Worte überlagern sich – viele Stimmen, die ineinanderfließen. Mein Herz pocht wild. Dieser Klang ist nicht von dieser Welt.

    Widerliche

    Vi…o…let.

    Violet vom Mond.

    Ich kenne die Stimmen, obwohl ich sie noch nie zuvor gehört habe. So vertraut wie ein Instinkt, so intim wie ein Teil meiner Seele. »Wer seid ihr?«, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne.

    Zwei fahle Lichter flackern ein Stück entfernt in der Dunkelheit auf. Ich bekomme keine Luft. Nichts in diesem Raum gibt solch ein Licht von sich.

    Wir sind es, die dir deine Macht verleihen, Miststück.

    Schützend halte ich den Besen vor mich und nähere mich mit zittrigen Schritten den Lichtern, wobei ich darauf achte, nicht auf das umgeworfene Tablett zu treten. Ich erkenne nun, was vor mir steht: der Gabenbrunnen, in den meine Besucher zum Dank ihre Mitbringsel und Münzen werfen. Und auf dessen Spitze thront eine Statue ohne Gesicht, zu der sie manchmal beten.

    Ehemals ohne Gesicht.

    Seit ich sie zum ersten Mal gesehen habe, ist ihre kupferblaue Oberfläche so abgenutzt und glatt, dass die Figur kaum noch als solche erkennbar ist. Geschweige denn als eines der Schicksale. Ihr einziger Wert liegt in ihrem Alter, denn angeblich ist sie uralt, beinah so alt wie die erste Seherin.

    Doch als ich näher komme, formt sich die Statue zu einer Frau, voll kühler Gelassenheit und in ein Gewand gehüllt, das wie ein Wasserfall an ihr herabfließt. Blaue Flammen flackern in ihren Augen. Aus ihrem Mund ergießt sich ein Chor aus Worten:

    Sieben Jahre gewonnen,

    ein Leben hast du uns genommen.

    Den gekrönten Jungen gerettet,

    der sonst uns gehört hätte.

    Dich dem Tod widersetzt,

    um in deinem Turm zu leben.

    Die Zeit ist gekommen,

    die Schuld zu begleichen.

    In mir steigen Erinnerungen hoch. Der Prinz, wie er über den Marktplatz des Mondviertels rennt. Ich, wie ich ihn von der heranrollenden Kutsche wegziehe. Wir waren noch Kinder. Damals. Felicita lebte noch. So lange ist es her. »Ich verstehe nicht.« Jede Ader in meinem Körper pulsiert, ist sich einer Gefahr bewusst, die ich nicht einordnen kann. »Ist das eine Drohung?«

    Dem Schicksal zu trotzen hat seinen Preis.

    Ein Leben hast du uns genommen.

    Der Junge muss sterben,

    bevor der Sommer endet.

    Oder du wirst brennen.

    »Aber warum? Ich habe doch nichts …« Mein Griff um den hölzernen Besenstiel bebt, der einzige Halt, den ich noch habe. Meine Füße sind taub geworden.

    Der Junge muss sterben.

    Jede Geschichte muss ENDEN.

    Ein Windstoß fegt durch den Raum oder habe ich mir das Ganze nur eingebildet? Ist Felicita so verrückt geworden? Ich kann doch nicht ernsthaft mit den Göttern sprechen. Das ist unmöglich.

    Die Stimmen schwellen so ohrenbetäubend an, dass sie den ganzen Raum einnehmen:

    DIE ZEIT IST GEKOMMEN.

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