Alles in Ordnung? – Warum wir vor lauter Aufräumen unser Leben verpassen
Von Maria Wiesner
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Über dieses E-Book
Does it really spark joy?
Was wirklich hinter unserem Aufräumwahn steckt
Ordnung ist das halbe Leben. Wir sortieren, falten, verstauen, und am liebsten misten wir aus und schaffen Platz für neue Dinge. Dabei haben diese Wegwerfexzesse – befeuert durch Ratgeberliteratur und Tauschbörsen im Netz – längst einen gigantischen Warenkreislauf erschaffen, der uns selbst in unbezahlte Verkaufskräfte der Online-Riesen verwandelt.
Was hat der Trend der Nachhaltigkeit in der Modebranche bewirkt? Lösen wir unseren Konsumwahn, wenn wir ihn auf den Flohmarkt verlagern? Ist es in Ordnung, mit dem Verzicht zu prahlen, während in Deutschland noch 20 Prozent der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind? Und können wir die politische Unordnung außerhalb der eigenen vier Wände überhaupt noch sehen?
Maria Wiesner nimmt einen Hype unter die Lupe: eine unterhaltsame Analyse unseres Aufräumverhaltens und ein Plädoyer für eine wertschätzende, aber nicht überschätzende Beziehung zu den Dingen.
Maria Wiesner
MARIA WIESNER, aufgewachsen in Brandenburg, studierte Germanistik, Italianistik und Journalistik in Dresden, Leipzig, Florenz und Reggio di Calabria. Sie bereiste Europa, Asien und Afrika und schrieb Reportagen und Essays u.a. für FAZ-Magazin, FAZ, BBC World Service und Deutschlandfunk Kultur. Seit 2016 arbeitet sie als Redakteurin im Ressort Gesellschaft bei FAZ.net, wo sie sich mit Mode und Film beschäftigt. Seit 2022 ist sie dort außerdem Koordinatorin für das Ressort »Stil«.
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Buchvorschau
Alles in Ordnung? – Warum wir vor lauter Aufräumen unser Leben verpassen - Maria Wiesner
HarperCollins®
Copyright © 2021 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749950119
www.harpercollins.de
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Zitate
A LITTLE DISORGANIZATION CAN BE ENCOURAGING TO THE IMAGINATION.
Captain Janeway, Voyager
– The Raven
LAURA: WAR IHRE VERFLOSSENE EINE KONSUMFRAU?
BENNO: SAUBER. KAUFEN MACHTE SIE HIGH. SPAREN UND KAUFEN, O ELEND, DIESES STREBERTUM IST EINE SEUCHE. MICH BRINGT’S GLATT UM.
Irmtraud Morgner
– Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura
TEIL 1: WARUM MARIE KONDO SO ERFOLGREICH IST
TEIL 1
WARUM MARIE KONDO SO ERFOLGREICH IST
Quarantäne, die beste Zeit für Selbstoptimierung?
Eine große Unordnung bahnte sich an. Mitte März 2020 veränderte sich das Leben in Deutschland schlagartig. Bundeskanzlerin Angela Merkel hielt eine außergewöhnliche Fernsehansprache zur Corona-Pandemie. Sie warb um Verständnis für die drastischen Maßnahmen, die die Bundesregierung in den folgenden Tagen anordnen würde. Manche hatten Angst, andere nahmen das Ganze noch nicht sonderlich ernst. Alle sprachen plötzlich von Homeoffice, systemrelevanten Berufen, Rettungspaketen, Abstandsregeln, Herdenimmunität oder Klopapier.
Eine Sache aber blieb unverändert bestehen – ja, verschärfte sich sogar: die allgegenwärtige Aufforderung zur Selbstoptimierung. Kümmere dich um dich und dein engstes Umfeld, denn jetzt geht es nicht mehr nur um die Karriere oder das Wohlbefinden, sondern ums Überleben. Wer jetzt nicht zum Wesentlichen findet, zum eigenen Mittelpunkt, zur tieferen Ordnung, ist verloren.
Schneller als Politik und Gesellschaft Lösungen für die neuen Probleme parat hatten, schallten bereits die Tipps und Weisheiten zum richtigen Umgang durch die Sphären der sozialen Medien.
Eine der Ersten, die auch in der Krise ihre Lebensphilosophie unter die Leute bringen wollte, war die Schauspielerin Gwyneth Paltrow, die mit »Goop« eine eigene Marke mit Selbstoptimierungsprodukten vertreibt. Sie postete am 23. März 2020 ein Foto auf Instagram, das sie mit schwarzer Mundschutzmaske, Sonnenbrille und blauen Handschuhen gegen das Virus gewappnet zeigt, wie sie prall gefüllte Plastiktüten vom Bauernmarkt nach Hause schleppt. Neben dem Foto ermunterte sie ihre knapp sieben Millionen Follower, die Zeit zu Hause optimal zu nutzen: »Das ist eine Zeit, um es sich gemütlich zu machen, zu lesen, die Schränke aufzuräumen und etwas in Angriff zu nehmen, das man schon lange vorhatte (ein Buch schreiben, ein Instrument spielen lernen oder eine neue Sprache üben oder online Programmieren lernen, zeichnen oder ein Bild malen), alte Fotos durchgehen, kochen und auf einer tieferen Ebene mit den Menschen in Verbindung treten, die man liebt.« Mehr als 280.000 Menschen gefällt der Post.
Kürzer fasste die Botschaft ein Meme, das während der Pandemie so oft in den sozialen Netzwerken geteilt wurde, dass Zeitungen von Europa¹ bis nach Amerika² darüber berichteten: »Als Shakespeare sich wegen der Pest in Quarantäne begeben musste, schrieb er King Lear.« Das Stück kann, wenig überraschend, als eine der deprimierenden unter Shakespeares Tragödien bezeichnet werden. König Lear verliert den Verstand und stirbt am Ende an gebrochenem Herzen, seine drei Töchter sind tot, ebenso die meisten seiner Widersacher. Der einzige sympathische Überlebende spricht zum Schluss die nicht sehr hoffnungsfrohen Worte: »Den Druck der trüben Zeit muss man nun tragen; was man fühlt, sprechen, nicht, was man sollte, sagen. Der Älteste trug am schwersten: jung daneben werden wir nie so viel seh’n noch so lange leben.«³ Was keiner der Artikel über das Shakespeare-Meme feststellte: Wenn man während einer Pandemie ein Theaterstück schreibt, dann kommt dabei nicht unbedingt eine Komödie oder etwas Erbauliches heraus, sondern wahrscheinlich ein Text, der tiefen Zweifel an der Kooperationsfähigkeit der Menschheit ausdrückt. Man muss uns Menschen nur eine Weile beobachten, wenn es ernst wird, auf der Straße, im Supermarkt, in Angst, in großer Unordnung: Diese Leute stiften kein Vertrauen.
Und wer bitte sollte überhaupt Zeit haben, während der allgemeinen Pandemie-Panik seinen Bestseller zu schreiben? Wer im Homeoffice saß, verfügte nicht plötzlich über mehr Freizeit. Im Gegenteil, wie etwa der Moderator John Oliver während eines Interviews mit Late-Show-Host Steven Colbert klarstellte: »Ich habe zwei Kinder, ein und vier Jahre alt, und ich habe eine wöchentliche Sendung, die ich nun allein in meinem Haus produziere. Ich habe keine zusätzliche Zeit, um Spanisch zu lernen oder herauszufinden, wie man Profiterole macht. Das ist einfach nicht drin, mir steht das Wasser bis zum Hals.«
Ein Satz, den wohl viele während der Pandemie unterschrieben hätten. Wer Kinder hatte, musste diese nun noch über eine zusätzliche Zeit betreuen, denn Schulen und Kindergärten waren ja geschlossen. Wer sich um ältere Verwandte oder Menschen mit Immunschwäche kümmerte, war nun noch mehr eingespannt, denn besonders sie galten als Hochrisikogruppe, waren also auf jemanden angewiesen, der für sie Einkäufe und Erledigungen übernahm. Und selbst wer nicht all diese zusätzlichen Aufgaben übernehmen musste, stellte irgendwann fest, dass die Küche, das Bad und das zum Arbeitsplatz umfunktionierte Wohnzimmer durch die eigene permanente Anwesenheit weitaus schneller in Unordnung gerieten. Damit die Wohnung nicht völlig im Chaos versank, musste die Freizeit dem zusätzlichen Putzen zum Opfer fallen.
Hatte man nun aber doch mal ein paar Momente zum Innehalten, fielen all die unfertigen Projekte ins Auge, die man normalerweise gut ausblenden konnte: Den Balkon wollte man schon lange mal bepflanzen, auf der Terrasse müssten die Möbel gestrichen werden, und die Stapel für die Steuererklärung hatte man auch nur zur Seite gelegt, um ein Fleckchen für den Laptop freizubekommen, an dem man nun seine Bürotätigkeit ausführen musste. Das Papier türmte sich in den Ecken, Klamotten machten es sich auf Stühlen bequem, der Besitz, den man in Nicht-Krisenzeiten so mühsam angehäuft hatte, quoll aus allen Ecken.
In den permanenten Mahnungen, die »geschenkte« Zeit zu Hause optimal zu nutzen, schwang nicht nur die Aufforderung mit, gefälligst als bessere, also produktivere Person aus der Krise herauszugehen. Während die »systemrelevanten Berufsgruppen«, also Ärztinnen, Krankenschwestern, Kassierer im Supermarkt, Busfahrerinnen und Bauarbeiter weiter jeden Tag für ihren Job das Haus verlassen mussten, konnten sich andere, die in ihrer Wohnung (am besten mit Balkon oder Garten) bleiben durften, in aller Ruhe darin versuchen, das apokalyptische Chaos der Welt mit Verschönerungsmaßnahmen in den eigenen vier Wänden in Ordnung zu bringen – oder wenigstens die eigenen Nerven zu beruhigen, indem sie immerhin etwas anpackten.
Schon bald bildeten sich die Schlangen der Privilegierten vor den Baumärkten. Stromkabel, Gasflaschen und Brennholz sowie Farben und Lacke wurden gehamstert wie zuvor Klopapier⁴ . Zwischen manchen Bundesländern entstand sogar für kurze Zeit ein Baumarkt-Tourismus, denn nicht überall war es Läden wie Obi oder Hornbach erlaubt, weiter ihre Waren zu verkaufen. Der Gang in den Baumarkt ersetzte manchen den Bummel in der Innenstadt, stellte sie die häusliche Quarantäne doch vor das Problem, sich nach einem harten Arbeitstag nicht mehr mit Konsumartikeln belohnen zu können. Sibylle Berg griff das Problem in ihrer Spiegel-Kolumne mit dem Titel »Dauernder Sonntag« auf: »Es ist einfach ungewohnt, wenn das Belohnungssystem, ohne das der Kapitalismus nicht funktioniert, pausiert. Das heißt, wir arbeiten weiter – aber ohne im Anschluss konsumieren zu können. Und das bedeutet ein wenig: Wir Privilegierten, die jetzt gerade nicht für das Allgemeinwohl tätig sind, bekommen keine Bestätigung unseres Seins. Zurückgeworfen auf uns tun sich erstaunliche Lücken in unserem Selbstwertgefühl auf.«⁵
Wer nun permanent inmitten seiner angehäuften Eigentümer saß und sie rund um die Uhr betrachten musste, gelangte irgendwann unweigerlich zu der Frage: Brauche ich das alles überhaupt, was ich hier angehäuft habe? Macht mich das glücklich? Warum habe ich es überhaupt angeschafft? Und: Was mache ich nun damit? Lebens- und Ordnungsberater boten ganz