Der Großinquisitor
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Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller. Das literarische Werk beschreibt die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse zur Zeit des Russischen Kaiserreiches, die sich im 19. Jahrhundert fundamental im Umbruch befanden. Zentraler Gegenstand seiner Werke war die menschliche Seele, Dostojewski gilt als einer der herausragenden Psychologen der Weltliteratur.
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Buchvorschau
Der Großinquisitor - Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Der Großinquisitor
Sharp Ink Publishing
2022
Contact: info@sharpinkbooks.com
ISBN 978-80-282-6607-3
Inhaltsverzeichnis
Der Großinquisitor
Ein vorläufig sehr unklares Kapitel
Mit einem klugen Menschen ist auch ein kurzes Gespräch von Nutzen
Der Großinquisitor
Inhaltsverzeichnis
»Es geht auch hier nicht ohne Vorrede ab, das heißt ohne literarisches Vorwort, hol’s der Teufel!« begann Iwan lachend. »Und dabei: Was bin ich schon für ein Autor! Die Handlung spielt bei mir im sechzehnten Jahrhundert; und damals, das muß dir übrigens noch von der Schule her bekannt sein, war es eben üblich, in poetischen Erzeugnissen die himmlischen Mächte auf die Erde herabzuholen. Von Dante will ich gar nicht erst reden. In Frankreich gaben die Gerichtsschreiber und auch die Mönche in den Klöstern ganze Vorstellungen, in denen sie die Madonna, die Engel, die Heiligen, Christus und Gott selbst auf die Bühne brachten. Das geschah damals in vollkommener Einfalt. In Victor Hugos ›Notre-Dame de Paris‹ wird zur Zeit Ludwigs des Sechzehnten zu Ehren der Geburt des französischen Dauphins dem Volk im Rathaussaal von Paris eine Gratisvorstellung gegeben unter dem erbaulichen Titel: ›Le bon jugement de la tres sainte et gracieuse Vierge Marie‹, worin auch sie persönlich erscheint und ihr ›bon jugement‹ verkündet. Vor Peter dem Großen wurden bei uns in Moskau manchmal ähnliche, beinahe dramatische Vorstellungen veranstaltet, besonders aus dem Alten Testament. Zu jener Zeit waren in aller Welt auch viele Erzählungen und Gedichte im Umlauf, in denen nach Bedarf Heilige, Engel und himmlische Heerscharen handelnd auftraten. In unseren Klöstern beschäftigten sich die Mönche ebenfalls mit dem Übersetzen und Abschreiben, ja sogar mit dem Verfassen solcher Gedichte – und das selbst unter dem Tatarenjoch. Es gibt zum Beispiel eine kleine klösterliche Dichtung, selbstverständlich aus dem Griechischen: ›Die Wanderung der Mutter Gottes durch die Qualen‹, mit Schilderungen von einer Kühnheit, die der Dantes nicht nachsteht. Die Mutter Gottes besucht die Hölle, und der Erzengel Michael führt sie durch die ›Qualen‹. Sie sieht die Sünder und ihre Martern. Da ist unter anderem eine sehr interessante Klasse von Sündern in einem brennenden See: Einige von ihnen versinken so tief, daß sie nicht mehr an die Oberfläche kommen können; diese ›vergißt Gott schon‹ – ein Ausdruck von außerordentlicher Tiefe und Kraft. Und da fällt die Mutter Gottes erschüttert und weinend vor Gottes Thron nieder und bittet für alle in der Hölle um Begnadigung, für alle, die sie dort gesehen hat, ausnahmslos. Ihr Gespräch mit Gott ist höchst interessant. Sie fleht, sie läßt nicht ab, und als Gott sie auf die von Nägeln durchbohrten Hände und Füße ihres Sohnes hinweist und fragt: ›Wie kann ich denn seinen Peinigern verzeihen?‹, da befiehlt sie allen Heiligen, allen Märtyrern, allen Engeln und Erzengeln, mit ihr zusammen vor Gott niederzufallen und um die Begnadigung aller zu bitten. Es endet damit, daß sie von Gott das Verstummen der Qualen alljährlich von Karfreitag bis Pfingsten erlangt; die Sünder aus der Hölle danken dem Herrn sogleich und rufen: ›Gerecht bist du, o Herr, daß du so gerichtet hast.‹ Siehst du, von dieser Art wäre auch meine kleine Dichtung gewesen, wenn sie zu jener Zeit erschienen wäre. Bei mir tritt Er auf; allerdings spricht Er nicht, sondern erscheint nur und geht vorüber. Fünfzehn Jahrhunderte sind vergangen, seit Er die Verheißung gegeben hat, Er werde wiederkommen und sein Reich aufrichten, fünfzehn Jahrhunderte, seit sein Prophet schrieb: ›Ich komme bald, von dem Tag und der Stunde aber weiß nicht einmal der Sohn, sondern allein mein himmlischer Vater.‹ Aber die Menschheit erwartet Ihn noch immer mit dem früheren Glauben und der früheren Sehnsucht, sogar mit größerem Glauben, denn fünfzehn Jahrhunderte sind schon vergangen seit der Zeit, da der Himmel aufgehört hat, dem Menschen Unterpfänder zu geben.
Was dein Herz dir sagt, das glaube, denn der Himmel gibt kein Pfand.
So war denn nur der Glaube an das geblieben, was das Herz sagte! Allerdings geschahen damals auch viele Wunder. Es gab Heilige, die wunderbare Heilungen ausführten. Zu manchen Gerechten stieg, so die Angaben in ihren Lebensbeschreibungen, die Himmelskönigin selbst herab. Aber der Teufel schläft nicht, und es regten sich in der Menschheit schon Zweifel an der Wahrheit dieser Wunder. Zu jener Zeit war im Norden, in Deutschland, gerade eine schreckliche neue Ketzerei aufgetreten. Ein großer Stern, ›ähnlich einer Fackel, fiel auf die Wasserbrunnen, und sie wurden bitter‹. Die Anhänger dieser Ketzerei begannen gotteslästerlich die Wunder zu leugnen. Doch um so feuriger glaubten die Treugebliebenen. Die Tränen der Menschheit stiegen zu Ihm auf wie ehemals. Die Menschen erwarteten Ihn, liebten Ihn, hofften auf Ihn wie ehemals. So viele Jahrhunderte hatte die Menschheit in leidenschaftlichem Glauben gefleht: ›Herr Gott, erscheine uns!‹ So viele Jahrhunderte hatten sie nach Ihm gerufen, daß es Ihn in seinem unermeßlichen Erbarmen verlangte, zu den Betenden hinabzusteigen. War Er doch auch schon früher manchmal hinabgestiegen und hatte einzelne Gerechte, Märtyrer und fromme Eremiten auf Erden besucht, wie in ihren Lebensbeschreibungen zu lesen steht. Bei uns hat das Tjutschew, von der Wahrheit seiner Worte zutiefst überzeugt, so ausgedrückt:
In Knechtsgestalt, vom Kreuze schwer gedrückt,
durchzog er segnend jede Erdenzone.
Er, den als König aller Welten schmückt
auf höchstem Himmelsthron die Herrscherkrone.
Und so ist es auch tatsächlich geschehen, das sage ich dir. Also es verlangte Ihn, sich dem Volk zu zeigen, wenn