Forum Politische Bildung und Polizei: Un-)Soziale Medien, Desinformation und Verschwörungs-denken – Politische Bildung und Polizei in unübersichtlichen Zeiten.
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Buchvorschau
Forum Politische Bildung und Polizei - Verlag für Polizeiwissenschaft
(Un-)Soziale Medien, Desinformation und Verschwörungsdenken – Politische Bildung und Polizei in unübersichtlichen Zeiten
Einordnung des Themas
Johannes Kunz
Sie alle, sehr geehrte Damen und Herren, Sie alle und ich- wir sind auserkorene Opfer von Bill und Melinda Gates, die das Coronavirus erschaffen haben, um die Welt zu regieren und die Menschheit durch Zwangsimpfungen zu kontrollieren, um letztendlich die Weltherrschaft zu übernehmen.
In Deutschland wird dieser Mythos um Gates und Corona vor allem durch Ken Jebsen verbreitet. Der ehemalige Moderator verlor seinen Job wegen antisemitischen Aussagen - er bezeichnete den Holocaust als PR – und ist nun YouTuber. Dort verbreitet er krude Verschwörungstheorien, zum Beispiel zu 9/11.2001. Jebsen vergleicht die Presse mit den gleichgeschalteten Medien der NS-Zeit, denn sie seien „damals wie heute von den Eliten manipuliert, er inszeniert sich selbst als „freies Presseportal
.
Doch wir brauchen gar nicht in die USA zu gehen: Anfang der Woche erreichte mich ein Schreiben, indem der Autor die Flutkatastrophe an der Ahr als von langer Hand vorbereitet und ersten Baustein einer ganzen Folge von Attacken zur Verängstigung der deutschen Bevölkerung sieht. Unter Hinweis auf angebliche Verlautbarungen des Bundesinnenministeriums erfolgt die Feststellung, das alles sei von ganz oben geplant gewesen.
Verschwörungsmythen sind so alt wie die Menschheit, haben allerdings in krisenhaften Zeiten Hochkonjunktur:
•So wurde sozialen Randgruppen, meistens den Juden, während der großen Pestepidemien im 14. Jahrhundert vorgeworfen, sie hätten die Seuche durch die Vergiftung der öffentlichen Brunnen verursacht, um die Christenheit zu vernichten.
•Verschwörungsmythen nutzten und nutzen auch der reaktionäre Nationalismus sowie der Nationalsozialismus für ihre Begründung und Propaganda. Die Niederlage des deutschen Militärs im ersten Weltkrieg sei durch oppositionelle Zivilisten verursacht worden, so die Kernaussage der Dolchstoßlegende. Den Holocaust der Nationalsozialisten habe es nie gegeben, so die die mittlerweile nach dem deutschen Recht verbotene Kernbotschaft antisemitischer Extremisten.
•Auf einer Versammlung in Bayern kritisierte der ehemalige baden-württembergische NPD-Landtagsabgeordnete Räpple, es sei heute „nicht mal mehr möglich zu fragen, ob sechs Millionen Juden in den KZ umgekommen sind oder ob es nicht vielleicht doch nur viereinhalb Millionen waren". Bei einer Kundgebung am Mainzer Rheinufer rief er später zum Sturz der Regierung in Berlin auf.
•Das Deutsche Reich bestehe juristisch bis heute fort, die Bundesrepublik Deutschland sei dagegen illegal, so die Ideologie der uns allen bekannten Reichsbürgerbewegung.
•Nicht selten reflektieren derartige Theorien auch auf die Arbeit der Nachrichten- und Geheimdienste. Die islamistischen Attentate vom 11.09.2001 sollen von amerikanischen Geheimdiensten entweder wissentlich zugelassen oder selbst ausgeführt worden sein.
•Der Unfall, der zum Tod Dianas führte, sei durch den Secret Intelligence Service MI 6 herbeigeführt worden.
Damit die Theorie den Theoretikern auch dauerhaft dienen kann, werden abweichende oder gegenteilige wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur negiert, sondern als abwegig und irrelevant deklariert. Wissenschaft und Verschwörungstheorien – sie vertragen sich nicht!
Warum sind Verschwörungsmythen ein Thema für die polizeiliche Bildungsarbeit?
Das Selbstverständnis der Polizei leitet sich aus ihrem Auftrag ab, die Grund- und Menschenrechte zu schützen. Die Polizei kann und darf trotz ihres Neutralitätsgebots nicht wertneutral sein. Sie schützt die Demokratie und steht in besonderer Weise für das Rechtsstaatsprinzip, für den Schutz der Meinungsfreiheit und weiterer Freiheitsrechte. Jede Polizistin und jeder Polizist haben auf die Verfassung des Bundes und/oder eines Landes einen Eid geleistet.
Politische Bildung ist insoweit auch für den Polizeidienst von zentraler Bedeutung, um in zum Teil bewegten Stimmungslagen und Situationen Farbe bekennen, sattelfest argumentieren zu können, selbst überzeugter Demokrat zu sein und aktiv für die Verfassung und die Grundrechte einzutreten.
Der Zeitpunkt für die heutige Veranstaltung passt: Gerade jetzt, in unseren „unübersichtlichen Zeiten", in denen menschenverachtendes Gedankengut unkontrolliert im virtuellen Raum Verbreitung findet, das ist nicht nur in Wahlkampfzeiten so, ist es von besonderer Bedeutung, das demokratische Bewusstsein der Polizeibediensteten mithilfe der politischen Bildung zu stärken und ihre Perspektive auf menschenverachtende Inhalte, insbesondere in den sozialen Medien zu schärfen.
Das ist im Übrigen nicht nur ein Thema für die Bereiche der Polizeiorganisation, die mit kritischen Vorfällen in ihren eigenen Reihen konfrontiert sind. Es taugt durchaus als prophylaktische Maßnahme, um Fehlaurichtungen, bewusst oder unbewusst beeinflusst oder gar initiiert durch Verschwörungsmythen, entgegenzutreten.
Ich rede bewusst von „Verschwörungsmythen bzw. „Verschwörungsideen
, „Verschwörungserzählungen und meide den Begriff „Verschwörungstheorien
. Denn der Begriff „Verschwörungstheorien" suggeriert Wissenschaftlichkeit und überprüfbare Fakten.
In gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen – nicht selten auch gepaart mit privaten Problemlagen- haben Verschwörungsmythen Hochkonjunktur. Die Erklärung ist einfach: In komplizierten, unsicheren Zeiten suchen Menschen einfache Erklärungen. Dabei entwickeln sie Strategien, um sich in der Krise besser zurechtzufinden, Orientierung zu finden und sich abzugrenzen.
Einer im Jahr 2020 durchgeführten Erhebung der Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge,
•hält knapp zwei Drittel der Bevölkerung in Deutschland die Behauptung, die Welt werde durch geheime Mächte gesteuert, für wahrscheinlich falsch oder sicher falsch.
•Dagegen halten 30 Prozent der Bevölkerung Verschwörungsmythen für wahrscheinlich richtig oder sicher richtig. 11 Prozent halten die Aussage für sicher richtig und sind damit überzeugte Anhänger von Verschwörungsmythen.
•Menschen mit formal höheren Bildungsabschlüssen glauben seltener an Verschwörungsmythen als jene mit niedrigeren formalen Schulabschlüssen.
•Menschen mit Migrationshintergrund sind häufiger der Ansicht, die Welt werde von geheimen Mächten gesteuert, als Menschen ohne Migrationshintergrund.
Was sind Verschwörungsnarrative? Wie wirken sie sich gesellschaftlich und politisch aus? Und welche Implikationen haben sie für die polizeiliche Arbeit?
Verschwörungsmythen verbreiten die Botschaft, dass bestimmte Ereignisse oder Situationen von geheimen Mächten in negativer Absicht manipuliert werden.
Die Europäische Kommission stellt fest, dass Verschwörungsmythen diese sechs Charakteristika gemeinsam haben:
1. Existenz einer angeblichen, geheimen Verschwörung
2. Existenz einer Gruppe von Verschwörern
3. Untermauerung der Erzählung durch vermeintliche „Beweise", die das Vorliegen einer Verschwörung belegen sollen
4. Verschwörungsmythen suggerieren, dass nichts von ungefähr geschieht, und dass es keine Zufälle gibt; nichts ist, wie es scheint – und alles gehört zusammen
5. Verschwörungsmythen unterteilen die Welt in Gut und Böse
6. Verschwörungsmythen machen bestimmte Menschen oder Gruppen zu Sündenböcken
Wir können festhalten: Verschwörungsmythen legen nahe, dass wichtige gesellschaftliche und/oder politische Ereignisse in den Händen von einer vermeintlichen Gruppe böswilliger Verschwörer liegen, die über die rechtlichen Grenzen hinaus konspirativ Macht ausüben. Dabei richtet sich die Verschwörung gegen die Bevölkerung.
Während die Mehrheit der Bürger verblendet sei, beanspruchen die Vertreter von Verschwörungsmythen, die einzigen zu sein, die die Verschwörung erkennen und die Verschwörer entlarven.
Einige Anhänger von Verschwörungsideen zeigen die warnenden Verhaltensweisen einer pathologischen Fixierung auf eine Sache oder eine Person und neigen dazu, Gewalt auszuüben, wie beispielsweise bei dem Mord an Walter Lübcke. In diesem Fall sieht sich die an Verschwörungsmythen glaubende Person – der Angeschuldigte, Täter dürfen wir ihm ja aufgrund fehlender Rechtskraft nicht nennen – selbst als Vertreter einer Sache, die durch gewaltsames Handeln angegangen werden soll, um eine von den Verschwörern empfundene Ungerechtigkeit zu korrigieren. Ähnlich haben auch die Attentäter von Halle und Hanau argumentiert.
Anhand solcher Beispiele zeigen sich die Verbindungen zwischen Verschwörungsmythen und Extremismus. Extremistische Weltanschauungen zeichnen sich häufig durch eine drastische soziale Kategorisierung aus, die durch einen „radikalen Dualismus gekennzeichnet ist. Stark schuldzuweisende Narrative stellen die eigene Gruppe als tugendhaft und Opfer einer bösartigen fremden Gruppe dar. Der „Fremde
, der Andersdenkende wird als Verschwörer verunglimpft.
Manche Anhänger von Verschwörungsmythen können dadurch zu einer Denkweise gelangen, die Gewalt rechtfertigt, um die Verschwörer zu beseitigen oder zu bekämpfen. Somit können Verschwörungsmythen gewalttätigen Extremismus begründen sowie Hass, Hetze und Gewalt rechtfertigen. Sie merken, ich rede hier nicht von einem Automatismus, sondern von einer auch durch andere Faktoren beeinflussten Entwicklungsoption.
Drastische Maßnahmen werden ergriffen, um das vermeintlich ungerechte Ungleichgewicht zu korrigieren und der eigenen Gruppe ihren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen oder wiederherzustellen. Ein prominentes Beispiel stammt aus dem Jahr 2015 während der Flüchtlingskrise. Pegida-Aktivisten verbreiteten im Netz das Narrativ, die Bundesregierung plane, die deutsche Bevölkerung durch Migranten auszutauschen. Als Köpfe der vermeintlichen Verschwörer sollten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel wegen Landesverrats durch den Galgen bestraft werden. Entsprechend tauchte auf einer Pegida-Demonstration in Dresden ein Galgen mit zwei Schlingen auf. An den Schildern waren die Aufschriften zu lesen: „Reserviert Angela ‚Mutti’ Merkel und „Reserviert Siegmar ‚das Pack’ Gabriel