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O-PAndemie: Briefe einer Enkelin an ihren verstorbenen Opa
O-PAndemie: Briefe einer Enkelin an ihren verstorbenen Opa
O-PAndemie: Briefe einer Enkelin an ihren verstorbenen Opa
eBook267 Seiten2 Stunden

O-PAndemie: Briefe einer Enkelin an ihren verstorbenen Opa

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Über dieses E-Book

Eine Enkelin schreibt Briefe an ihren Opa, der kurz vor der Corona-Pandemie in ihrem Beisein verstorben ist – ein sehr einschneidendes Erlebnis, das sie über das Leben ihres Opas im Vergleich zum heutigen Leben nachdenken lässt: War das einfache, bescheidene, analoge Leben des Opas gar besser als das heutige Leben voller Konsum, Selbstoptimierung, Digitalisierung und Hektik, geprägt von düsteren Zukunftsaussichten aufgrund der Klimakatastrophe? Erleichtert und verbessert die Digitalisierung wirklich unseren Alltag und die Bildung unserer Kinder? Und was ist an den sozialen Medien eigentlich sozial? Fordert unser ausbeuterisches, kapitalistisches Wirtschaftssystem, das Raubbau an der Natur und am Menschen betreibt, radikale Veränderungen unserer Lebensweise, um das Überleben der Menschen auf der Erde zu sichern und das Leben zu entschleunigen? Welche Veränderungen könnten dies sein?
In ihren Briefen, die sich über einen Zeitraum von 1,5 Jahren erstrecken und eine Mischung aus Gesellschaftskritik und Corona-Pandemie-Tagebuch sind, setzt sich die Briefeschreiberin mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Themen und Diskussionen rund um die Digitalisierung, das kapitalistische Wirtschaftssystem, den Klimawandel, die Identitätspolitik oder die Emanzipation auseinander, und versucht, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Dabei werden jeweils Bezüge zum Leben des Opas hergestellt und häufig Gegensätze aufgezeigt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Dez. 2022
ISBN9783347696921
O-PAndemie: Briefe einer Enkelin an ihren verstorbenen Opa

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    Buchvorschau

    O-PAndemie - Jeannette Deckers

    Prolog

    Ich stehe neben dir und weiß, das sind deine letzten Minuten. Es ist schrecklich und gleichzeitig schön, dass ich in diesem Moment bei dir sein kann. Ich streichle abwechselnd deine Wange und deinen Arm und weiß nicht, ob du noch etwas wahrnimmst. Deine Augenlider haben sich seit mehreren Minuten nicht mehr bewegt, deine Augen sind geöffnet, dein Blick ist starr. An deinen Beinen, Füßen und Händen haben sich blaue Flecken gebildet. Ich weiß jetzt, dass sich beim Sterben das Blut aus den Extremitäten zurückzieht, Hände und Füße werden kalt und blau und in der Haut von Füßen und Unterschenkeln kann sich Blut sammeln, wodurch dunkle Flecken entstehen.

    Ich sage dir, dass du ein ganz toller Uropa, Opa und Papa und ein herzensguter und aufopferungsvoller Mann für Oma gewesen bist. Ich erinnere dich daran, dass du sie jahrelang zu Hause gepflegt und mit deiner positiven und humorvollen Art unterhalten hast, auch wenn es noch so schwierig wurde. Ich sage dir auch, dass du dein Umfeld immer zum Lachen gebracht hast und dass du keine Angst haben musst und nicht alleine bist.

    Aus deinem Auge läuft daraufhin eine Träne, du schließt den Mund, der bis dahin geöffnet war, und nimmst unter Stöhnen deinen letzten Atemzug. Deine Augen sind nun auch geschlossen. Du liegst ganz friedlich da. Ich beobachte, wie die Träne an deiner Wange herunterläuft, und frage mich, ob du wahrgenommen hast, was ich gesagt habe. Ich weiß jetzt auch, dass das Gehör als letztes geht. Ich glaube, du hast noch etwas von dem gehört, was ich gesagt habe. Du atmest nicht mehr. Ich frage mich, wie die Träne entstehen konnte, nachdem du so lange die Augen geöffnet und zudem schon eine längere Zeit nichts mehr getrunken hattest. Nun laufen bei mir die Tränen, nicht nur eine, sondern eine ganze Menge.

    Mama, das älteste deiner vier Kinder, kommt wieder herein. Sie war kurz vor deine Zimmertür gegangen, um deine zweite Tochter zu informieren, wie es um dich steht. Sie sieht mich an, sieht dich an und weiß sofort, was los ist. Ich zeige ihr die Träne, die immer noch an deiner Wange herunterläuft. Wir nehmen uns in die Arme und weinen.

    Ich habe das Bedürfnis, das Fenster zu öffnen. Du warst sehr gläubig, ich bin es nicht, aber in diesem Moment habe ich das Gefühl, deine Seele aus dem Zimmer herauslassen zu müssen. Das Laub der Bäume weht im Wind, die Vögel zwitschern, die frische Luft beruhigt mich.

    Ich hätte dir gerne noch so viel erzählt oder deine Meinung zu den Geschehnissen in der Welt gehört. Doch dazu ist nun keine Zeit mehr. Denn: Die Zeit fließt. Ohne die Zeit ist alles nichts. Von der Zeit hängt alles ab. Das Leben, der Tod, alles. Sie bestimmt unser Leben. Bei schönen Erlebnissen vergeht sie meist zu schnell, bei weniger schönen Erlebnissen scheint sie manchmal zu stehen. Doch das tut sie nie, sie läuft und läuft…Die Zeit sorgt für Hektik, für Ordnung, für Flugpläne, Zugfahrpläne, Busfahrpläne, in allen Plänen wird die Zeit mit berücksichtigt. Was wäre ohne die Zeit? Stillstand? Langeweile? Muße? Die Zeit ist ein ewiger Begleiter, im Urlaub ist sie besonders schön, vor Prüfungen ist sie kaum auszuhalten, sie scheint endlos wie das Meer zu sein. Doch irgendwann ist sie für jeden zu Ende, und trotzdem läuft die Zeit weiter. Sie sorgt für Falten, Geburten, geregelte Abläufe, sie gibt den Takt im Schulalltag an, sie bestimmt alles. Manchmal gerät sie auch durcheinander, beziehungsweise die Menschen geraten durcheinander, dann gibt es Jet-Lags, man verschläft, manchmal hat man zu viel von ihr, meist aber zu wenig. Man kann sie nicht anhalten, sie läuft und läuft und läuft und sorgt für Entwicklung, Freude, aber auch Trauer. Jeden Zeitpunkt kann man nur ein einziges Mal erleben, dann ist er vorbei, man kann die Zeit nicht zurückdrehen, sie läuft immer weiter…tick…tack… tick…tack…manchmal merkt man gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht.

    Mit der Zeit hängen viele Dinge zusammen, sie werden von ihr bestimmt: Hochzeiten, Geburtstage, Beerdigungen…tick, tack, tick, tack…was würden wir machen, ohne die Zeit? Gäbe es dann Tag und Nacht, Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Ebbe und Flut? Die Zeit ist ein ewiges Rätsel und doch so genau vorherzusehen.

    Es hört sich makaber an, Opa, aber zum Glück bist du nicht ein Jahr später gestorben. Wäre es so gewesen, hätte ich nicht bei dir sein können, wegen Corona. Aber dazu später mehr.

    Da wir keine gemeinsame Zeit mehr haben, schreibe ich dir nun Briefe. Wie gesagt, ich bin nicht gläubig, aber du warst es sehr. Wer weiß, vielleicht erreichen dich diese Briefe ja – irgendwie, irgendwo, irgendwann.

    Brief 1, Oktober 2020:

    Pandemie

    Lieber Opa,

    in den Schulen sollen sich die Schülerinnen und Schüler nun mit Decken ausstatten, damit ihnen beim Lüften nicht zu kalt wird, alle 20 Minuten soll für fünf Minuten gelüftet werden, egal bei welcher Außentemperatur. Angela Merkel empfiehlt Kniebeugen zum Aufwärmen. Beim Einkaufen, in Bussen, Zügen, Taxen und teilweise auch in Fußgängerzonen oder auf anderen stark frequentierten Straßenzügen und auf beliebten, belebten Plätzen tragen die Menschen Masken, um Mund und Nase zu bedecken. Es werden Bußgelder verhängt, wenn man gegen die Maskenpflicht verstößt. In manchen Städten gibt es Sperrstunden für Restaurants und Kneipen, überall kann man sich die Hände desinfizieren. In Restaurants werden Gästelisten geführt, um im Falle einer infizierten Person die Kontaktpersonen informieren zu können. Es gibt Vorgaben, wie viele Menschen sich bei Hochzeiten, Geburtstagen, anderen Festen oder grundsätzlich in der Öffentlichkeit treffen dürfen. Das Ordnungsamt kontrolliert stichprobenartig. Theateraufführungen, Opern, Ballettvorstellungen, Konzerte, Messen oder Gottesdienste finden nicht mehr oder nur mit sehr wenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Heimarbeit ist eine immer weiter verbreitete Form, seiner Arbeit nachzugehen. Kinderspielplätze waren eine Zeit lang gesperrt. In Altenheimen und Krankenhäusern gibt es Besuchsverbote. Fußballspiele finden ohne Zuschauerinnen und Zuschauer statt. Menschen sollen mindestens 1,5 Meter Abstand voneinander halten. An Supermarktkassen, in Landtagen oder an der Rezeption bei Ärztinnen und Ärzten sind Plexiglas-Trennwände angebracht, um die Menschen voreinander zu schützen. Zur Begrüßung gibt sich keiner mehr die Hand, stattdessen stößt man die Ellenbogen oder Fäuste gegeneinander oder tritt sich Fuß gegen Fuß. Es gibt Risikogebiete, in denen Corona besonders verbreitet ist, und Beherbergungsverbote für Menschen aus Risikogebieten. Superspreading-Events sind Zusammenkünfte von vielen Menschen, bei denen ein Mensch viele andere mit Corona ansteckt. Bei der Suche nach dem Unwort des Jahres dürfte das „Superspreading-Event" ein Favorit sein. Jeder kennt mindestens zwei Virologinnen oder Virologen namentlich, es gibt Lieblings-Virologinnen oder Lieblings-Virologen. Jeden Tag gibt es neue Statistiken über Neuinfizierte, Genesene, Verstorbene in der Stadt, Gemeinde, im Bundesland, im ganzen Land, in Europa und weltweit. Es gibt Zahlen zum Reproduktionsfaktor (R-Wert), der angibt, wie viele weitere Menschen ein Infizierter ansteckt. Es gibt Zahlen zur Anzahl der belegten und noch verfügbaren Intensivbetten, zur Anzahl der positiven Tests im Verhältnis zur Gesamtzahl der durchgeführten Tests (Positivrate). Auch die Sterblichkeit in verschiedenen Altersgruppen wird erhoben. Nie zuvor wurden tagtäglich so viele Statistiken veröffentlicht. Es gibt Untersuchungen zur Verbreitung des Virus durch Aerosole, kleinste Partikel, die beim Atmen, Sprechen oder Singen ausgestoßen werden und sich im Raum verteilen.

    Ja, Opa, das hört sich alles an wie im Film, leider ist es die Realität. Schon seit gut einem halben Jahr gibt es eine weltweite Pandemie und wir sind mittendrin. SARS-CoV-2, Covid 19 oder auch einfach Corona heißt das Virus, das die ganze Welt durcheinanderbringt. Man sagt, es sei die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Den musstest du, Opa, miterleben, jetzt sind wir dran. Es gibt Existenzängste, Todesängste, Zukunftsängste, Spannungen in der Gesellschaft, vermehrt extremistische und islamistische Attentate, in Dresden, in Paris, in Nizza, in Wien.

    Je weiter diese Pandemie voranschreitet, desto mehr wünsche ich mir, dich fragen zu können, wie ihr euch damals gefühlt habt, im Krieg, auch wenn ich den momentan oft erwähnten Kriegs-Vergleich mit der derzeitigen Situation übertrieben finde. Ich denke, eine von wenigen Parallelen ist die Ungewissheit darüber, wie die Zukunft aussieht, wie sich die nächsten Wochen und Monate entwickeln. Ansonsten muss die Kriegszeit viel schlimmer gewesen sein, das können wir uns höchstens ansatzweise vorstellen. Ihr habt so viel verloren, gleichzeitig aber so viel für’s Leben gelernt. Ich erinnere mich sehr gut an die zahlreichen Mittagessen bei dir und Oma. Nie wurde etwas weggeschmissen. Sogar das Salatdressing hast du ausgelöffelt. Wir Enkelkinder sind uns einig, es war eine der besten Soßen der Welt, die du immer für uns gezaubert hast, aus Dosenmilch, Fondor und Essigessenz. Dazu gab es oft frischen Feldsalat aus dem eigenen Garten. Ihr habt eine große Dankbarkeit gelebt und sie euren Kindern und Enkelkindern vermittelt. Vor dem Essen wurde immer gebetet, das Essen wurde nicht als etwas Selbstverständliches angesehen, ihr habt euch dafür bedankt. Ihr habt uns Demut gelehrt. Dafür bin ich euch wiederum sehr dankbar. Neben eurer großen Dankbarkeit und Demut habt ihr auch gerne etwas für andere Menschen getan. Als zum Beispiel euer Enkelsohn ein Praktikum ganz bei euch in der Nähe gemacht hat, hast du jeden Tag für ihn mit gekocht, Opa. Es gab meistens Tiefkühlkost, gewürzt mit Fondor und ganz viel Liebe. Zum Abschied gab es dann jedes Mal noch ein Paket Chokini-Kekse mit nach Hause. Euer Vorrat bestand immer mindestens aus fünf Packungen. Heute noch essen eure Enkelkinder sehr gerne diese Kekse, auch eure Urenkelkinder mögen sie gerne. Auch in der Hinsicht habt ihr uns für’s Leben geprägt.

    In der Anfangszeit der Pandemie waren bestimmte Lebensmittel plötzlich eine Weile nicht mehr verfügbar, Mehl wurde knapp, Hefe, Nudeln, Reis und auch Toilettenpapier. Ja, wochenlang war kaum Toilettenpapier zu bekommen. Wenn mir das vor einem Jahr jemand erzählt hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Die Pandemie hatte in dieser Hinsicht etwas Gutes: Es wurde einem plötzlich klar, dass das Selbstverständliche von heute auf morgen nicht mehr selbstverständlich sein kann. Man lernt die alltäglichen Dinge zu schätzen wie noch nie zuvor. Eure Generation hat es in Kriegszeiten gelernt.

    Opa, jetzt weißt du, warum ich dankbar bin, dass du vor der Pandemie sterben musstest. Viele Menschen in Altenheimen und Krankenhäusern mussten und müssen ganz alleine oder zumindest ohne einen engen Freund oder Angehörigen sterben. Ich kann mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen. Weil besonders hochbetagte Menschen gefährdet sind, einen schweren Verlauf der Krankheit zu haben und daran zu sterben, wird in Altenheimen besonders aufgepasst. Teilweise sind Besuche gar nicht gestattet, manchmal schon, aber nur mit einem negativen Corona-Test und nur für eine Person und eine Stunde am Tag. Zum Glück musstest du das nicht miterleben, du konntest immer besucht werden und bist auch fast täglich besucht worden. Man sagt, dass im Moment viele Menschen, wenn nicht an Corona, dann an Einsamkeit sterben.

    Bis bald

    Deine Enkelin

    Brief 2, November 2020:

    Überlastung

    Lieber Opa,

    die Intensivstationen füllen sich mehr und mehr mit Corona-Patienten. Die Warnungen vor einer Überlastung des Gesundheitssystems werden lauter. In den Nachbarländern sieht es bereits schlimmer aus, Patientinnen und Patienten aus z.B. Belgien und Frankreich werden in deutschen Krankenhäusern behandelt. Lange wird das wahrscheinlich nicht mehr möglich sein. Auch die Labore, die Corona-Tests auswerten, stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Drei Viertel aller Corona-Infektionen können nicht mehr zurückverfolgt werden. Überall werden Behelfskrankenhäuser errichtet. Ärztinnen und Ärzte in Nachbarländern müssen die Leben von Patientinnen und Patienten gegeneinander abwägen, das heißt Triage, bei uns wird es bald wahrscheinlich auch so sein. So muss es damals in Feldlazaretten gewesen sein. Ich frage mich, Opa, ob ihr damals Freunde oder Bekannte hattet, die so etwas miterleben mussten. Wir haben nie darüber gesprochen.

    Restaurants, Bars, Kinos, kulturelle Einrichtungen und Sportvereine mussten mittlerweile schließen. In immer mehr Krankenhäusern und Pflegeheimen gibt es wieder Besuchsverbote. Ständig müssen Schulen und Kindergärten ganz oder teilweise schließen, weil es Corona-Fälle gibt.

    Die Situation an Schulen wird immer konfliktreicher. Manche Eltern sind froh, dass die Schulen ganz normal weiterlaufen, andere wünschen sich ein Aussetzen der Präsenzpflicht, damit ihre Kinder von zu Hause aus lernen können. Sie möchten sich und ihre Kinder schützen und können es wegen der Präsenzpflicht nicht.

    Alle befinden sich in einer Art Schwebezustand und in einer Ausnahmesituation. Ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Fallzahlen und besonders auch die Zahl der Corona-Toten steigen. Wahrscheinlich sind bald weitere Maßnahmen nötig.

    Ich schreibe dir bald wieder.

    Bis dahin. Deine Enkelin

    Brief 3, Mitte Dezember 2020:

    Irrweg Digitalisierung der Bildung

    Lieber Opa,

    schon wieder ist alles anders. In zwei Tagen startet der zweite harte Lockdown, den ersten gab es zu Beginn der Pandemie im Frühjahr. Alle Geschäfte müssen schließen, nur Lebensmittelgeschäfte und andere Geschäfte, die Waren für den täglichen Bedarf verkaufen, dürfen geöffnet bleiben. Schulen und Kitas gehen in einen Notbetrieb über, das heißt, möglichst viele Kinder sollen zu Hause bleiben. Die Innenstädte sind nun überlaufen, weil noch schnell Weihnachtseinkäufe erledigt werden wollen, vor Geschäften bilden sich lange Schlangen, weil nur eine begrenzte Anzahl an Kundinnen und Kunden gleichzeitig in die Läden darf. Für Weihnachten gibt es Einschränkungen, wie viele Personen sich treffen dürfen. An Silvester gibt es ein Böller- und Feuerwerksverbot auf belebten Plätzen. In manchen Bundesländern gibt es Ausgangssperren, teilweise tagsüber, teilweise auch nachts, auch an Silvester. Es wird also ein ruhiges Silvester werden.

    Opa, ein großes Thema ist, verstärkt durch die Pandemie, die Digitalisierung an Schulen. Natürlich ist es beim Distanzunterricht – das bedeutet, Lehrerinnen und Lehrer und Schülerinnen und Schüler bleiben zu Hause und treffen sich, im Idealfall, ab und zu per Videokonferenz – sinnvoll, wenn alle vernünftig mit Endgeräten und Software ausgestattet sind, um Videokonferenzen zu machen und Aufgaben auszutauschen. Auch beim Hybridunterricht – dabei befindet sich ein Teil der Klasse in der Schule, ein Teil zu Hause – ist es hilfreich, wenn die Technik in der Schule vorhanden ist, um das Unterrichtsgeschehen in die Kinderzimmer oder Wohnzimmer der Kinder zu übertragen, die zu Hause sind. Das alles geschieht momentan mal mehr, mal weniger gut an allen Schulen des Landes und auch in anderen Ländern. Es ist gut, dass trotz der Umstände irgendeine Art von Unterricht stattfindet. Aber ich kann nicht verstehen, dass die Digitalisierung so ungeprüft und unkritisch als Heilsbringer für alles in der Bildung angesehen wird, wie es in letzter Zeit geschieht. Sie soll die individuelle Förderung verbessern, sie soll den Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen abschwächen, sie soll die Motivation von Schülerinnen und Schülern stärken. All das sehe ich kritisch.

    Du hast, wenn wir dich mit dem Auto mitgenommen haben, oft gesagt, all die Autos, das ist doch verrückt, so viele Autos auf den Straßen. Ich glaube, wenn du all die digitale Technik sehen würdest, von Smartphones, Tablets, über Apps, Navigationssysteme usw., würdest du die Welt nicht mehr verstehen und dies genauso in Frage stellen wie den damals schon zunehmenden Autoverkehr.

    Zu euren Lebzeiten gab es noch keine Liveblogs, die mehrmals die Stunde aktualisiert werden, es gab keine Eilmeldungen, kein Twitter und das Tagesschau Extra hieß noch Brennpunkt. Eure Informationsquellen waren die Tagesschau, der Videotext, die Rheinzeitung, und Zeitschriften, die ihr abonniert hattet, zum Beispiel „Paulinus, eine katholische Wochenzeitung des Bistums Trier, die Zeitschrift „Frau und Mutter oder „Leben und Erziehen". Im Radio habt ihr oft Mönchsgesänge, Heimatlieder und klassische Musik gehört. So wie der Autoverkehr die Mobilität intensiviert und beschleunigt hat, so hat die Digitalisierung die Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten

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