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Sylter Jöölboom: ein Inselkrimi
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Sylter Jöölboom: ein Inselkrimi
eBook259 Seiten3 Stunden

Sylter Jöölboom: ein Inselkrimi

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Über dieses E-Book

"Winter auf Sylt - es ist kurz vor Weihnachten und der Lockdown hat die Inselbewohner fest im Griff. Seit der Verhaftung ihres Bruders führt Inge das "Blanke Hans" allein, doch dann wird sie Zeuge einer merkwürdigen Unterhaltung. Kurz darauf bricht Bo Knudsen vor dem Hotel tot zusammen. Inge ahnt, dass mehr hinter diesem Todesfall steckt und ermittelt auf eigene Faust. Bald schon kommt sie einem Geheimnis auf die Spur, das nicht nur sie in Gefahr bringt.

Ein Inselkrimi mit viel Regionalkolorit und jede Menge Spannung
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Juni 2022
ISBN9783347705470
Sylter Jöölboom: ein Inselkrimi

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    Buchvorschau

    Sylter Jöölboom - Arne - Christian Bornemann

    1. Ein schneller Tod

    Hörnum, 04. Dezember 2020

    Der Duft von Gänsebraten und Rotkohl waberte durch den von vielen kleinen LED-Lichtern erhellten Gastraum des »Blanke Hans«, in dem seit dem 1. November keine Gäste mehr zum Abendessen eingekehrt waren.

    Nur Ole Knudsen und sein neuer Geschäftspartner Christian Barne und Miroslav Zecic, ein Handwerker aus der Umgebung, saßen an der Theke, rauchten und tranken Schnaps aus einer nahegelegenen Brennerei und waren in eine Unterhaltung vertieft, die nur hin und wieder davon unterbrochen wurde, dass sich einer der drei tief über die Theke beugte und durch einen zu einem Röllchen gerollten 50-Euro-Schein eine kleine Line Koks direkt von der Theke sniefte.

    Bevor Jannis verhaftet worden war, hatte Ole ihn erpresst und so eine 20-prozentige Beteiligung an dem bislang gut laufenden Restaurant mit Hotel ergaunert. Nun führte er sich als Chef auf und schien zu glauben, er könne sich in »seinem Blanke Hans« alles erlauben. Doch bevor diese Beteiligung etwas hatte abwerfen können, war ihm Corona dazwischengekommen, und jegliche Planung war unmöglich geworden.

    »Ich sage dir, sobald sie die Schotten wieder aufmachen, geht es hier richtig rund. Die Immobilienpreise werden dann durch die Decke gehen, vor allem hier auf Sylt«, erklärte Ole gerade.

    Barne maß ihn mit einem abschätzigen Blick. »Du meinst, nachdem hier über Monate keiner auch nur einen Fuß auf die Insel setzen durfte, kaufen die Leute dann ausgerechnet hier Immobilien, Ole? Und was, wenn diese Corona-Sache noch Jahre dauert? Die Leute brauchen keine Wohnungen auf Sylt. Woher willst du Geld bekommen? Sag es mir, mein Freund!«

    Obwohl Ole im Augenblick vermutlich nur wenige Immobiliengeschäfte abwickelte, trug er einen schicken Anzug. Nur der Drei-Tage-Bart ließ erahnen, dass auch er es in letzter Zeit nicht mit allem so genau nahm. Sein Haar war kurz geschnitten und brachte seine stahlblauen Augen zum Leuchten. Augen, die bei Inge immer noch ein Frösteln auslösten.

    Inge Petersen beobachtete die Gruppe durch das Fenster in der Schwingtür, die zur Küche führte.

    Sie ließ Ole nur selten aus den Augen, wenn er im »Blanke Hans« auftauchte, und seine Begleiter noch viel weniger. Christian Barne stammte nicht von der Insel. Er war verhältnismäßig klein, hatte eine Glatze und kleidete sich betont lässig, setzte dabei aber auf Statussymbole wie eine protzige Uhr oder teure Polohemden. Er war ein Angeber, Aufschneider und ein Aufreißer, und Inge hegte vom ersten Augenblick an eine tiefe Abneigung gegen ihn. Bislang war sie noch nicht dahintergekommen, welche Art von Geschäften Ole und ihn verbanden.

    Miroslav Zecic war ein hochgewachsener, schlaksiger Kerl mit schulterlangem schwarzem Haar und wildem Blick. Sein slawischer Akzent war unverkennbar, und Inge mochte es überhaupt nicht, wie er Lisbeth, ihre junge Auszubildende, bei jeder Gelegenheit ansah. Ole beschäftigte ihn mit Reparaturen im »Blanke Hans«, doch Inge war sich ziemlich sicher, dass die beiden nicht nur deshalb ständig zusammensteckten.

    Seit der Verhaftung ihres Bruders führte Inge das »Blanke Hans«. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass ausgerechnet sie, die ehemalige Kriminalkommissarin, zu einer Wirtin auf Sylt werden würde, und das auch noch nach ihrer Pensionierung, doch das Leben schlug eben manchmal unerwartete Kapriolen.

    Von Anfang März bis jetzt hatte die Corona-Pandemie der Gastronomie- und Hotellerie-Branche kaum Zeit zum Verschnaufen gelassen, von wenigen Wochen im Sommer unter strengen Auflagen einmal abgesehen.

    Seit Anfang November befand sich das gesamte Land wieder im Lockdown, der ursprünglich nur auf wenige Wochen begrenzt sein sollte; doch alle hatten geahnt, dass er sich vermutlich bis weit nach Weihnachten, möglicherweise bis ins kommende Frühjahr ausweiten würde.

    Die Suche nach einem Impfstoff kam zwar voran, doch nicht schnell genug, um den galoppierenden Infektionszahlen Einhalt zu gebieten, und auf den Intensivstationen herrschte inzwischen der Ausnahmezustand. Aus diesem Grund waren alle touristischen Übernachtungen verboten, Fremde und auch Zweitwohnungsbesitzer durften nicht nach Sylt einreisen.

    Auch Restaurants waren geschlossen, einzig Essen zum Mitnehmen war erlaubt, und so hatte sich auch das »Blanke Hans« in diesem Jahr darauf verlegt, »Gans to go« anzubieten, um wenigstens ein bisschen Umsatz zu machen, denn die von der Regierung gepriesenen »Corona-Hilfen« waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein oder ließen auf sich warten.

    Vermutlich war das auch der Grund für die griesgrämige Stimmung bei Ole und seinen Geschäftspartnern.

    »Ich traue diesen Typen einfach nicht«, murmelte Inge vor sich hin, wischte sich die Hände an der Schürze ab und wandte sich wieder der Anrichte zu. Lisbeth war gerade in die Küche gekommen, um ihr zu helfen, und begann, die Salatgarnitur vorzubereiten.

    »Was sagen Sie?«, doch Inge winkte ab.

    Für den heutigen Abend gab es nur wenige Vorbestellungen, aber Inge war froh, überhaupt etwas zu tun zu haben. Manche Tage fühlten sich endlos lang an ohne eine sinnvolle Beschäftigung, vor allem jetzt, in der kalten, dunklen Jahreszeit.

    Von Woche zu Woche hofften sie, wie so viele andere Gastwirte und Hoteliers auf Sylt und anderswo, auf ein Sinken der Fallzahlen, doch die Realität sah anders aus. Vermutlich würde das Weihnachtsfest in diesem Jahr sehr klein ausfallen, und auch auf die Weihnachtseinkäufe musste verzichtet werden.

    Nicht, dass es Inge viel ausmachte, allein zu sein. Seit dem Tod ihres Ehemanns Malte vor vielen Jahren hatte sie sich daran gewöhnt, mit ihren Gedanken nur für sich zu sein, sie mit niemandem zu teilen, doch sie fühlte sich auf der Insel mehr und mehr eingesperrt. Kein Kino, keine Bar, kein Theater hatte geöffnet und bot Abwechslung. Hinzu kamen die ständigen Auseinandersetzungen mit Ole, dem sie nicht über den Weg traute.

    Sie war damals die verantwortliche Ermittlerin im Fall Anke Thießen gewesen, und es wurmte sie, dass dieser Mord bis heute nicht aufgeklärt war, obwohl sie Ole für mehr als verdächtig hielt.

    Dafür saß ihr Bruder nun im Gefängnis, für den Mord an Oles Schwester Meret. Das alles war zum Verrücktwerden, weshalb Inge so häufig wie nur möglich zu langen Spaziergängen aufbrach, ganz allein, um wieder frei atmen zu können und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.

    »Nichts«, sagte Inge und zwang sich zu einem Lächeln. »Wie weit bist du mit den Salaten? Die Kunden sind bestimmt gleich da. Ich nehme nur rasch die Klöße aus dem Wasser.«

    Sie ging zu dem großen Topf, fischte jeweils zwei dampfende Klöße heraus und gab sie in die dafür bereitgestellten Styroporverpackungen. Dann zog sie den großen Bräter aus dem Backofen und verteilte möglichst gleich große Portionen Gans mit viel Soße.

    Lisbeth garnierte das Ganze mit Salat, und Inge stellte die Packungen in die Durchreiche zum Gastraum.

    Lisbeth hatte im Herbst ihren Job hier im »Blanke Hans« begonnen, trotz der Pandemie. An manchen Tagen tat sie Inge leid, denn einen normalen Betrieb hatten die letzten Wochen nun wirklich nicht zugelassen, doch auf der anderen Seite war es vermutlich immer noch besser, als einfach nichts zu tun. Eine Menge junger Leute saßen all diese Monate auf der Wartebank und mussten Ausbildung, Studium, Praktika und Reisen verschieben.

    Inge wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte. Wie konnte ein einziges Virus die ganze Welt so aus dem Takt bringen? Andererseits hatte sie erfahren, dass eine Kollegin aus ihrem alten Revier in Nordrhein-Westfalen an der Krankheit verstorben war.

    Die Tür schwang auf und Ole kam herein.

    »Bekommen wir hier heute noch etwas zu essen?« Er stierte Inge und Lisbeth an. »Wir verhungern da draußen.«

    Inge stemmte die Hände in die Hüften. »Nun, wenn wir die zahlenden Gäste versorgt haben, können wir uns gerne um euch kümmern. Was darf es denn sein, die Herren?« Ihr spöttischer Unterton war nicht zu überhören.

    Ole blinzelte. Dann reckte er kampfeslustig das Kinn.

    »Wie wäre es zur Abwechslung mal mit etwas Leckerem und nicht mit dem üblichen Einheitsfraß?«

    Mit diesen Worten verließ er die Küche wieder.

    Inge starrte ihm wütend hinterher. »Oh, wenn ich könnte, ich würde diesen Kerl achtkant hinauswerfen. Aber ich kann leider nicht …«

    Wegen der Pandemie fehlte es ihr an Geld, um Ole auszubezahlen.

    Mehr als einmal hatte sie in den letzten Wochen darüber nachgedacht, das »Blanke Hans« zu verkaufen und einfach zu verschwinden; immerhin bezog sie eine gute Pension. Doch erstens war es mitten in der Pandemie gar nicht so einfach, einen Käufer für ein Hotel zu finden, und zweitens wüsste sie gar nicht, wohin.

    Sylt war ihre Heimat, ihr Zuhause, auch wenn sie sich das lange Zeit nicht hatte eingestehen wollen. Außerdem war Inge nicht mehr die Jüngste. In wenigen Wochen stand ihr 66. Geburtstag an. Das war nicht das beste Alter, um an einem fremden Ort noch einmal von vorne anzufangen.

    Die Wahrheit war, dass Inge zwar nicht das Alleinsein, wohl aber eine gewisse Form der Einsamkeit fürchtete, die Geister und Schatten, die auf sie zu krochen, sobald das Tagwerk erledigt war.

    Also harrte sie aus, wartete ab, auch, weil der Prozess immer wieder verschoben wurde. Dann erst, so versprach sie sich, würde sie eine Entscheidung treffen.

    »Dieser ungehobelte Kerl!«, erregte sich Inge. »Sein feiner Zwirn kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ein Ganove ist. Das sind die Schlimmsten! Oh, wenn ich nur könnte, wie ich wollte!« Sie fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

    Aufgebracht schritt sie zum Fenster und blickte nach draußen zum Parkplatz. Wie erwartet, waren nur wenige Autos zu sehen, unter anderem der Kastenwagen, den sie nun fuhr, Oles Porsche Cayenne, der BMW von diesem Barne und der Lieferwagen, mit dem Miroslav Zecic herumfuhr, den Inge für mindestens ebenso undurchsichtig hielt wie Ole.

    Ole stand im Eingangsbereich des Restaurants, sein Gesicht hell erleuchtet. Er hielt sein Handy ans Ohr und rauchte, während er erregt auf- und ab ging.

    »Vermutlich macht er gerade jemand anderem das Leben schwer«, seufzte Inge. »Na, dann wollen wir mal. Aber ich kann nicht garantieren, dass ich den Herren nicht in die Suppe spucke.« Sie wandte sich den Töpfen zu.

    Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ole sich draußen vor der Tür plötzlich mit starrem Gesichtsausdruck an die Brust griff und zu Boden sackte.

    Lisbeth, die ebenfalls gerade aus dem Fenster blickte, stieß einen Schrei aus.

    Inge stürmte zur Tür, riss sie auf und rannte durch den Gastraum, wo Barne und Zecic sie verwundert anschauten.

    Vor der Eingangstür lag Ole, das Gesicht verkrampft, die Lippen blau.

    »Schnell«, schrie sie. »Ruft einen Rettungswagen!«

    Es war bereits weit nach Mitternacht, als Inge viele Stunden später über die verlassene Landstraße von der Nordseeklinik auf Westerland zurück zum »Blanke Hans« am südwestlichen Zipfel der Insel fuhr. Die Außentemperaturanzeige zeigte Minusgrade an und warnte vor überfrierender Nässe.

    Die Straße war verlassen, Inge war tief in ihre Gedanken versunken.

    Ohne lange zu überlegen, war sie mit dem Auto dem Krankenwagen gefolgt und hatte von unterwegs aus Jule angerufen, um sie über den Notfall ihres Bruders zu informieren.

    Im Krankenhaus hatten sie nicht mehr viel für Ole tun können, sondern nur noch seinen Tod festgestellt. Jule stand unter Schock, und Inge hatte sie nach Hause gebracht. Bo und Tine kümmerten sich um alles Weitere.

    »Manchmal kommt der Tod schnell«, murmelte Inge.

    »Du klingst wie eine dieser alten Frauen aus den Gruselfilmen«, bemerkte Malte, der auf dem Beifahrersitz erschienen war.

    Inges Blick streifte ihn. Aus dem Augenwinkel sah es aus, als säße Malte dort wirklich und leibhaftig, in seinem Tweedjackett und seinen zerbeulten Jeans, genau so, wie er auch im Leben ausgesehen hatte.

    Natürlich wusste Inge, dass Malte nicht tatsächlich dort saß. Malte war tot, hatte sich erhängt, vor vielen Jahren, in einem Keller in ihrem Haus in Essen, hatte sie zurückgelassen, ohne irgendeine Erklärung.

    Seit seinem Tod hatte sie Zwiegespräche mit ihm geführt, erst nur in ihren Gedanken, später auch laut, und irgendwann war es wie selbstverständlich gewesen, ihn sich auch vorzustellen, wie er neben ihr saß oder lag, im Sessel am Fenster, neben ihr im Auto oder auf den langen Spaziergängen in den Dünen. Auf diese Weise hielt sie die Einsamkeit in Schach, die sie aus den Ecken heraus beschlich.

    »Sie sagen, es war ein Herzinfarkt«, sagte Inge. »Aber Ole war doch ein gesunder junger Mann. Wie kann das sein?«

    »Nun, du hast doch selbst gesehen, dass er Drogen genommen hat, mit diesem Miroslav«, gab Malte zu bedenken. »Und Kokain und vor allem seine Beimischungen können das Herz schädigen. Jedes Jahr zählt die Drogenstatistik entsprechende Todesfälle.«

    Inge lächelte. Die Fantasiegestalt Malte klang manchmal viel zu sehr wie sie selbst, das entging ihrem kritischen Verstand bei aller Selbsttäuschung durchaus nicht, trotzdem hielt sie die Illusion aufrecht. Sie tröstete sie über die Isolation hinweg, die wie ein Abgrund auf sie zuraste, wenn sie sich nicht länger ablenken konnte.

    »Ich hoffe, dass die klinische Leichenschau Anhaltspunkte für eine gerichtliche Obduktion ergibt«, sagte Inge. »Denn nur dann können wir auf konkrete Hinweise auf die wirkliche Todesursache hoffen.«

    »Schlechtes Koks?« Malte hob die Augenbrauen. »Wen willst du dafür verantwortlich machen? Ein paar Dealer aus Holland? Diesen Barne?«

    »Malte, mein Bauch sagt mir ganz deutlich, dass es hier um mehr geht. Überleg doch mal! Es ist noch kein Jahr her, da wurde Meret ermordet, genau an diesem Ort. Und jetzt fällt Ole einfach so tot um, beim Telefonieren? So viele Zufälle kann es doch gar nicht geben.«

    »Der Mensch ist besessen davon, nach Mustern zu suchen«, warf Malte ein. Auf einmal hielt er seine Pfeife in der Hand, eben jene, die er abends so gerne vor dem Fernseher geraucht hatte.

    Der Duft von Tabak und Vanille erfüllte den kleinen Innenraum des Wagens, und Inge wurde es warm ums Herz.

    »Du kannst nichts dagegen tun, Inge, das macht dein Gehirn. Es sucht nach dem Bekannten, nach Zusammenhängen, selbst da, wo es keine gibt.

    Ole hat gekokst, getrunken und geraucht. Die Gefahr von Blutgerinnseln ist auch in seinem Alter groß. Die Insel hingegen ist klein, die Anzahl der Orte, an denen er sich während der Pandemie aufhalten konnte, gering. Ein Zufall ist sehr wahrscheinlich. Es gibt keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wen möchtest du verdächtigen? Mit welchem Motiv?«

    »Herrgott, Malte, das alles weiß ich doch noch nicht, ich weiß nur, dass mein Bauch mir mit aller Macht sagt, dass an der Geschichte etwas nicht stimmt. Tagein, tagaus saß Ole mit diesem Miroslav und diesem Barne zusammen. Ich habe mich bei Piet Brons mal über ihn erkundigt. Dieser Barne war vorher Banker, jetzt investiert er in irgendwelche dubiosen Start-Ups, was auch immer das sein soll, und dieser Zecic, das ist ein windiger Hund, der ist alles, aber kein einfacher Handwerker. Vermutlich ist er Oles Dealer, und wenn Ole an dem Koks gestorben ist, ist Miroslav daran schuld. Ob mit Absicht oder aus Versehen, wird sich noch herausstellen«, sagte Inge.

    »Und was sollte das Motiv sein, Frau Kommissarin? Ohne Motiv kein Mord, das lernt doch jeder Anfänger.«

    »Geld, Malte, das einfachste Motiv der Welt. Gier. Ole hat sich in krumme Geschäfte verwickeln lassen, dieser Barne riecht förmlich danach. Und er sieht nicht aus wie einer, der Rechnungen unbezahlt lässt. Ich habe doch gehört, wie sie ständig über Geld redeten. Ole hat ihm dieses oder jenes versprochen, doch die Pandemie hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Weißt du, wie oft mich Ole in den letzten Wochen wegen Geld bedrängt hat? Ich nehme an, er hat sich bei diesem Barne Geld geliehen und konnte es ihm nicht zurückzahlen, und jetzt hat er eben mit seinem Leben bezahlt.«

    »Du klingst wie aus einem schlechten Vorabendkrimi. Deine Motive waren auch schon einmal besser. Bist du dir sicher, dass dir nicht einfach schrecklich langweilig ist und du nun verzweifelt nach jedem Strohhalm greifst, der sich irgendwie ein wenig wie Ablenkung anfühlt?« Malte sah sie mit erhobenen Augenbrauen an.

    Inge erwiderte seinen Blick nicht.

    »Ich konstruiere keinen Mordfall«, entgegnete sie. »Ich höre auf meinen Ermittlerinstinkt, und der lag noch nie falsch. Ich habe schon die ganze Zeit ein komisches Gefühl bei Ole, wie bei einem Pulverfass, das jederzeit hochgehen kann. Um ehrlich zu sein, habe ich eher damit gerechnet, dass er wieder jemanden umbringt, nicht, dass er das Opfer sein könnte.«

    »Du weißt, dass du hier auf sehr unsicherem Boden stehst? Weder ist bewiesen, dass Ole schon einmal jemanden umgebracht hat, noch, dass er jetzt Opfer eines Mordes wurde. Alles, was du hast, sind Vermutungen, meine Liebe, nicht einmal Indizien gibt es. Ich wäre an deiner Stelle vorsichtig …«

    Inge ließ Malte oder den Geist auf den Beifahrersitz nicht aussprechen. »Morgen rufe ich Piet an und erzähle ihm von dem Koks. Vielleicht kann er dafür sorgen, dass auf jeden Fall eine gerichtliche Obduktion angeordnet wird.«

    »Wegen deines Bauchgefühls, Inge?« Malte riss sie aus ihren Überlegungen.

    »Ja, denn damit lag ich bei Meret auch schon richtig. Und was Anke anging, hatte ich auch da den richtigen Riecher, auch wenn es nicht unmittelbar zu einer Verurteilung führte. So ein Unglück, dass Ole jetzt nie wieder dafür zur Rechenschaft gezogen werden kann!« Sie ballte unwillkürlich die rechte Hand.

    In der Ferne war der Leuchtturm zu sehen, dessen rotierendes Licht im Minutentakt die Fenster des »Blanke Hans« streifte. Hellweiß kroch es über die Dünen und Felsen der Insel, die von Raureif und Eis bedeckt waren.

    Als Inge wieder zum Beifahrersitz hinübersah, war Malte verschwunden.

    Kampen, 29. Dezember 1978

    Der Sturm heulte wie ein wildes Tier. Die Fensterläden schlugen an die Hauswand, die Kälte kroch durch die Ritzen in das alte Steinhaus.

    Immer wieder legte Stine Jansen neues Holz in den Ofen, doch es reichte kaum aus, um die große Stube zu heizen.

    Die kleine Bente Jansen lag dick eingepackt in ihrem Bettchen und schlief, und Stine überlegte, ob auch sie diese Nacht lieber in der Stube in der Nähe des Ofens schlafen sollte, denn oben im Schlafzimmer würde sie ganz sicher frieren, vor allem ohne Lars.

    Lars. Da war er wieder. Der scharfe, unerträgliche Schmerz, der sich durch ihr Herz bohrte und ihr die Luft zum Atmen nahm.

    Lars war tot. Sein toter Körper trieb irgendwo bei Spitzbergen im Eismeer, im endlosen, dunklen Meer. Sein Schiff war gesunken, bereits Anfang November, nur wenige Wochen, nachdem er aufgebrochen war. Es hatte das letzte Mal sein sollen,

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