Rheingauer Märchensterne: Mit Illustrationen
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Über dieses E-Book
"Ein Berg voller Schulden" ist leichter aufgehäuft, als wieder abgetragen. Ohne uneigennützige Hilfe ist das einfach nicht zu schaffen. "Die Bärenheidi" ist eine kluge Geschäftsfrau, dennoch verfällt sie dem falschen Charme eines Zauberspiegels. "Gefunden im Wald" wurde er als Baby in Lumpen geschnürt gefunden. Wie sich sein Schicksal entfaltet, das berichtet er den andächtig lauschenden Steinen. "Die Drachenjungfrau": Einmal im Jahr übermannt die Drachenjungfrau eine unstillbare Sehnsucht nach einem eigenen Söhnlein. Doch sie hat weder einen Freund noch einen Ehegatten. "Zwei Winzer und eine Braut", das ist ein Freier zu viel. Wen das törichte Herz auserkoren hat, das wird erst spät - zu spät vielleicht- offensichtlich. "Im kristallenen Schloss" bewachen die Wasserwesen die unglückliche Tochter des alten Rheins. Nur ihre langen Haare sind das Signal an die Außenwelt. "In der Zwergenhöhle" weisen die schimmernden Edelsteine zwar den Weg, doch dann beginnt der ungleiche Kampf. "Der Wahrheitsfresser" hält das gesamte Reich in seinem Würgegriff. Es ist lebensgefährlich, die Wahrheit zu nennen oder gar zu ihr sich zu bekennen. "Der Zwergenkönig" möchte nur allzu gerne ein großes Menschenmädchen zur Frau nehmen. Um dies zu erreichen, unterwirft er sich freiwillig den allerschlimmsten Qualen.
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Buchvorschau
Rheingauer Märchensterne - Johannes O. Jakobi
Eine Prinzessin inmitten von Maerchen
Es war einmal eine wunderschöne, aber eitle Prinzessin, die in Bezug auf Märchen nicht genug bekommen konnte…
„Vor den Spiegeln tanze ich,
Schwing herum und wiege mich!
Brauche Märchen, möchte träumen,
Will im Leben nichts versäumen!"
Diesem Wunsche folgend, geschieht es, dass vor dem Schloss, in welchem diese Prinzessin wohnt, ein Zwerg, auf seinem zotteligen Esel reitend, haltmacht und Einlass begehrt. Natürlich hätte er auch mit einer goldenen Kutsche vorfahren können, denn er ist ein Zwergenkönig, der genug des allseits begehrten Goldes besitzt, doch will er damit weder protzen noch prahlen, sondern möchte um seiner selbst willen geliebt werden. So ward ihm die Kunde zugetragen worden, dass diese schöne Prinzessin einen Ehemann suche, der eine ganz besondere Fähigkeit mitzubringen habe: Er muss Märchen erzählen können, welche die Prinzessin besonders spannend findet und in deren Inhalte sie tief eintauchen kann. Märchen sind ihre große Leidenschaft, die sie dann tanzend umsetzt. Vor allem Liebe und Hass, Eitelkeit und Eifersucht, Intrige, Kabale und hinterhältige Machenschaften aller Art sind es, die allein nur zählen:
„Nur die bösesten, gemeinsten und hässlichsten Märchen vermögen es, mein Herz zu gewinnen! Keine langweiligen Kindergeschichten von einem Hänsel und seiner Gretel oder einem Zwerg Nase, der das Kräutlein „Niesmitlust nicht kennt! Mein zukünftiger Gatte wird sich höllisch anstrengen müssen, wenn er mich überzeugen will!
Auch hat derjenige, der sich um ihre Hand bewirbt, noch eine weitere Bedingung zu erfüllen: Er muss sehr gut erzählen können, damit sich die eitle Prinzessin vor ihren Spiegeln so richtig produzieren kann. Kein Freier sollte aber auf die Idee kommen, er brauchte ihr nur ein einziges, armseliges Märchen zu erzählen, um ihr Herz zu erobern. Eine dritte Forderung lautet, dass nur derjenige gewinnt, der die meisten Märchen zu erzählen weiß. Darin ist sie unersättlich:
„Dreh‘ ich mich vor meinem Spiegel,
Schwenk‘ die Beine ich im Tanze,
Lasse meine Kleider fliegen,
Sonne mich in seinem Glanze!"
So wendet sie sich hin und her in ihrem verspiegelten Schlafgemach, während sie dem jeweiligen Märchenerzähler lauscht. Keiner dieser Bewerber aber hat es auf mehr als drei Märchen gebracht, und bei den meisten ist noch nicht einmal etwas Dramatisches passiert! So etwas verdrießt sie sehr, und sogleich wird diesen schlechten und langweiligen Märchenerzählern die Tür gewiesen. Da aber die Zahl der Bewerber inzwischen stark geschrumpft ist, um nicht zu sagen, es gibt bereits seit geraumer Zeit keine Kandidaten mehr, hat die Wache vor dem Schlosstor die strikte Anweisung, jeden hereinzulassen, der gute Märchen zu erzählen verspricht.
Als der Zwerg von seinem Esel absteigt, höflich die Mütze zieht und sein Anliegen vorträgt, würde die Wache ihn normalerweise niemals ins Schloss gelassen haben, aber die Prinzessin ist derart unleidlich geworden, weil sie keine Märchen mehr erzählt bekommt, dass die Wachen fürchten, auf der Stelle geköpft zu werden, würden sie diesen Zwerg abweisen. Flugs wird er also zur Prinzessin gebracht.
Die Prinzessin sitzt missmutig in ihrem verspiegelten Schlafgemach, verspürt zum Tanzen keine Lust, will keine neuen Kleider anprobieren, verlangt nur noch nach einem neuen Märchen, in das sie eintauchen kann. Als der Zwerg in ihre Kammer geführt wird, schaudert es sie, aber sie macht gute Miene zum bösen Spiel und lächelt einladend. Doch niemals würde sie diesen schrecklichen Zwerg zu ihrem Gemahl nehmen! Sie ist überzeugt davon, dass er weder ein schaurig-schönes Märchen kennt noch dieses gut erzählen kann.
Freilich wechselt die Stimmung der Prinzessin rascher als ihre Kleider. War sie vor wenigen Augenblicken noch froh, dass überhaupt jemand gekommen ist, so wirkt sie jetzt launisch und arrogant. Ihre Sprache wird direkt beleidigend:
„Was bildest du dir denn ein, du Winzling? Willst weitere und bessere Märchen erzählen als die anderen Adligen und mich danach heiraten? Leidest wohl an Selbstüberschätzung? Ich, eine echte und rechte Prinzessin, wie mir meine Spiegel täglich zeigen, wunderschön und dabei anmutig und huldvoll! Kein kümmerlicher Zwerg mit einer Mütze in der Hand statt eines Königreiches! Außerdem besitze ich ein schönes Schloss! Was aber hast du vorzuweisen?"
Der Zwerg lässt sich nicht einschüchtern, gibt sich ganz gelassen:
„Ich kenne viele spannende Märchen; kann sie auch gut erzählen! Im Übrigen besitze ich sogar zwei Schlösser: Mein eigenes sowieso und dein schönes Schloss habe ich letzte Woche noch dazu gekauft!"
Die Prinzessin in ihrem Hochmut versteht nicht, was er damit meint, macht sich weiter über ihn lustig:
„Auch du besitzt ein Schloss, sagst du? Wohl ein schönes, großes mit goldenen Zinnen hoch über dem Rhein?"
„Ja, genau, wie du es beschrieben hast! Du musst es gut kennen, denn es war ja einmal dein eigenes Schloss! Nun aber gehört es mir allein! Du bist also eine Prinzessin als Gast auf meinem Schloss!"
Die völlig überraschte Prinzessin kann es einfach nicht fassen, schickt umgehend nach dem Kämmerer:
„Stimmt es, was dieser elende Zwerg behauptet, er habe mein schönes Schloss gekauft?"
Der Kämmerer muss zu seinem Leidwesen zugeben, dass das Schloss unlängst verkauft worden sei, nur wisse er nicht, an wen. Sie, die Prinzessin, habe eben zu viel Geld und Gold ausgegeben, und das habe alle in den Ruin getrieben!"
Während die Prinzessin todunglücklich in sich zusammensinkt, meldet sich der Zwerg zu Wort und bietet an, das erste Märchen zu erzählen:
„Es ist zwar bloß ein Märchen, aber es vermittelt eine innere Moral, aus der du vielleicht etwas lernen könntest! In diesem Märchen sind die Bewohner eines Schlosses ohne eigenes Verschulden in eine Geldfalle gegangen! Schlimmes mussten sie erleben, aber am Ende hat doch das Gute gesiegt! Du aber, schöne Prinzessin, könntest es viel leichter haben, wenn du dir von mir helfen lassen würdest!"
Die Prinzessin sitzt wie erstarrt, unfähig auf sein Angebot zu antworten. Also beginnt er: …
Ein Berg voller Schulden
In der weitläufigen Halle des Schlosses haben sich die Bediensteten des Königs versammelt und warten auf die angekündigte Rede der Prinzessin: Stallburschen und Mägde, Köche und Mundschenke, Soldaten und Kuriere, Kammerdiener und Zofen, ja, sogar der Haushofmeister ist gekommen. Das ist neu, dass weder der König noch die Königin, sondern ihre Tochter zu ihnen sprechen wird. Niemand redet, alles schweigt, denn obgleich man nicht weiß, um was es wirklich geht, so ahnen doch alle der hier Versammelten, dass es etwas sehr Ernstes sein muss. Die Anspannung ist körperlich spürbar.
Dann betritt die junge Prinzessin den großen Raum. Sie ist in eine schwarze Robe gekleidet. Ihr schönes Gesicht wirkt bekümmert; man kann sehen, dass sie geweint hat. Sämtliche Blicke sind nun auf sie gerichtet. Nach einer kurzen Weile hebt sie an zu sprechen:
„Der Anlass meines Kommens ist ein trauriger! Hiermit muss ich euch verkünden, dass der König, mein über alles geliebter Vater, heute Nacht von uns gegangen ist! Das hat er allerdings nicht freiwillig getan, zu diesem letzten Schritt ist er vielmehr gezwungen worden! Die Gründe dafür werde ich euch gleich entdecken. Als meine Mutter, die Königin, vom Ableben des Gemahls Kunde erhielt, brach sich vor Entsetzen ihr altes Nervenfieber Bahn, sodass sie einen Schlagfluss erleiden musste und seitdem weder sprechen noch essen und trinken kann. Ich fürchte um das Schlimmste für sie. Deshalb muss ich als Tochter fürderhin die Amtsgeschäfte übernehmen, und genau darum stehe ich jetzt hier.
Heute Morgen war ich in der Schatzkammer, und wisst ihr, was ich dort fand? Nicht einen einzigen Taler, kein noch so kleines Krümelchen Gold! Stattdessen lag dort ein Schuldschein am Boden, ausgestellt über die Summe von tausend Talern, unterzeichnet mit meines Vaters Siegel und – gezogen auf unser Schloss!
Nun sind tausend Taler für ein so großes und stolzes Schloss wie das unsere nicht sehr viel. Mein armer Vater hätte diesen Betrag leicht wieder zurückzahlen können, wenn da nicht diese schrecklich hohen Zinsen wären, die der private Gläubiger dafür verlangte: ganze einhundert Prozente! Das sind noch einmal tausend Taler! Mein Vater, der König, zahlte zwar die geliehenen tausend Taler pünktlich zurück, doch die Zinsen dafür vermochte er nicht aufzubringen.
Daraufhin erhöhte dieser Geldverleiher die Zinseszinsen auf die geschuldeten Zinsen noch einmal um zehn mal hundert Prozent! Das sind zehntausend Taler oder fünf prall gefüllte Säcke mit Geld! Niemals könnte unser Schloss eine