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Die gestohlene Stadt: Historischer Tatsachenroman
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Die gestohlene Stadt: Historischer Tatsachenroman
eBook229 Seiten2 Stunden

Die gestohlene Stadt: Historischer Tatsachenroman

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Über dieses E-Book

Dieser investigative Roman fesselt durch eine Reise in die Zeit der ausgehenden Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus, der Stunde Null und Nachkrieg in der niederrheinischen Stadt Uerdingen, die um Ihre kommunale Eigenständigkeit und Identität kämpft. Anhand von belegbaren Quellen werden die tatsächlichen Begebenheiten um die Entstehung, geplante Umsetzung und widerrechtliche Auflösung einer bis heute in Deutschland einmaligen, durch Gesetz geschützten "Dachgemeinschaft" der zwei divergenten rheinischen Städte Krefeld und Uerdingen erzählt. Die Protagonisten sind wahre Personen ihrer Zeit. Der Zweckverband als Stadt "Krefeld-Uerdingen am Rhein" ist bis heute im deutschen Kommunalverwaltungsrecht einzigartig und phänomenal. Eine ähnliche Konstellation gab es selbst im europäischen Staatenrecht wohl nur einmal im sog. österreichisch-ungarischen Ausgleich. Gleichzeitig wurde das demokratische und fortschrittliche Konstrukt aber von Krefelder Macht-Politikern offen und verdeckt bekämpft. Zur Durchsetzung ihrer Ziele kamen Ihnen die zentralistische Kommunalpolitik des III. Reiches und die Kriegsverwaltung sehr zupass... . Nur durch Vertragsbruch und Rechtsbeugung im Nationalsozialismus gibt es namentlich die "Stadt Krefeld" in heutiger Form. In der Nachkriegszeit ist das geschehene Unrecht nicht wieder korrigiert worden. In diesem Roman wird die dunkle Wahrheit der Entstehungsgeschichte der Stadt Krefeld aufgedeckt und ungeschönt ans Tageslicht befördert. Im fünften Band der Geschichts-Enzyklopädie "Krefeld. Die Geschichte der Stadt" umfasst das Thema kaum 15 von 800 Seiten . Offiziell wird die Geschichte verbrämt dargestellt. Die unbekannte Wahrheit ist: Uerdingen wurde vertraglich nie nach Krefeld eingemeindet! Der Roman greift damit ein unbequemes, totgeschwiegenes Kapitel der niederrheinischen Stadt Krefeld auf, das aus heutiger Sicht ein Politikum darstellt. Bei diesem Buch kommen geschichtsinteressierte Leser sowie Romanliebhaber gleichsam auf ihre Kosten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Apr. 2020
ISBN9783749732760
Die gestohlene Stadt: Historischer Tatsachenroman

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    Buchvorschau

    Die gestohlene Stadt - Jürgen Matz/ Sarah Rubal

    1. Kapitel: Das Kleinod am Niederrhein

    »Gerta? Gerta! Wo bleibst du denn?« Wilhelm Warsch strich sich das dichte, akkurat geschnittene Haar aus der Stirn und betrachtete zufrieden die Fassade ihres neuen Zuhauses, die man anlässlich ihres Einzugs in der Augustastraße 14 neu gestrichen hatte. Wilhelm hob seinen einjährigen Sohn Wolfgang hoch.

    »Siehst du, Wolfi, da werden wir in Zukunft wohnen! Wie gefällt es dir?«

    Gerta, die in ihrem nach der neuesten Mode an den Hüften besonders eng geschnittenem Kleid Schwierigkeiten hatte, aus dem Wagen zu steigen, den sie zu ihrer Hochzeit von Wilhelms Vater Heinrich erhalten hatten, folgte Wilhelm und Wolfgang nach drinnen.

    Wilhelm setzte seinen einjährigen Sohn ab und schritt in das schattige Treppenhaus, dessen Boden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster ausgelegt war. Es roch nach frischem Bohnerwachs. Er griff das gewundene Treppengeländer aus dunklem Holz und lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Stufen hinauf in die großzügige Beamtenwohnung im zweiten Stock.

    Die weißen Flügeltüren standen offen, am Eingang erwartete sie, in Schürze und Haube, die Hausangestellte Martha, die ihnen, wie die Wohnung, von der Stadt Uerdingen gestellt wurde. Als sie Wilhelm Warsch, den groß gewachsenen und gut aussehenden Mann mit der hervorstechenden Nase und den wachen Augen, sah, machte sie einen Knicks, doch der designierte Bürgermeister Uerdingens ergriff fröhlich ihre Hand und drückte sie.

    »Herrlich, Gerta, schau doch nur, die großen Fenster, weit hinten kann man die Buss-Mühle ohne Flügel und die Häuser im Westbezirk an der Lindenstraße erkennen.«

    Gerta, die am Fuße der Treppe stand, raffte ihre Röcke und folgte ihrem Mann lächelnd nach oben. Es war eben jener Überschwang, den sie an ihrem Mann so liebte. Er war Beamter, wie schon sein Vater, und hatte es in seiner Geburtsstadt Viersen in der Stadtverwaltung weit gebracht; zuletzt war er in München-Gladbach Stadtdirektor und Leiter des Wohnungsamtes gewesen.

    Es war erst wenige Monate her, dass sich ihr Mann der Zentrumspartei angeschlossen und sich entschieden hatte, im 30 km weit gelegenen Uerdingen für das vakante Amt des Bürgermeisters zu kandidieren, keine leichte Aufgabe für einen Stadtfremden. Wochenlang hatte Wilhelm an seinem Programm gefeilt und es immer wieder verbessert.

    Der große Krieg war nun sieben Jahre vorbei und damit auch die Monarchie, doch noch immer gab es viele, die sich nicht an die neuen demokratischen Verhältnisse gewöhnt hatten.

    Für die Menschen im Rheinland war es auch nach dem Ende des großen Krieges nicht wirklich ruhiger geworden. 1922 war Deutschland mit den drastisch hohen Entschädigungszahlungen an Frankreich, den sogenannten Reparationskosten, in Rückstand geraten. Daraufhin hatten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzt, da sich dort das Zentrum der wertvollen deutschen Rüstungsindustrie befand. Reichspräsident Stresemann hatte zum »passiven Widerstand« aufgerufen, der den deutschen Staat so viel Geld gekostet hatte, dass man nun mit der Inflation kämpfte. In wenigen Monaten, im Januar 1926 würden die letzten belgischen Besatzungstruppen vom linken Niederrhein abgezogen.

    Nun standen alle Zeichen auf Wiederaufbau und Fortschritt. So auch in Uerdingen, in der alten Rheinstadt hatte Politik Tradition und man hatte Warschs fortschrittliches Programm, das einen Ausbau der rheinabhängigen Industrie vorsah sowie die rasche Eingemeindung einiger benachbarter Gemeinden wie etwa dem Dorf Hohenbudberg, mit Wohlwollen aufgenommen und ihn vor einer Woche mit nicht einmal 30 Lebensjahren zum jüngsten Bürgermeister Deutschlands gemacht.

    Gerta betrat die Wohnung, deren sechs Zimmer durch einen langen Flur miteinander verbunden waren. Sofort bemerkte sie, wie angenehm das Licht durch die hohen, doppelt verglasten Fenster einfiel, außerdem die großzügig geschnittenen Kamine in den Wohnräumen. Von besonderer Bedeutung war das elektrische Licht, das in allen Zimmern verfügbar war.

    Noch waren die Zimmer beinahe leer. Aus ihrer im Vergleich dazu kleinen Wohnung aus München-Gladbach hatten sie nur wenige Stücke mitnehmen können.

    »Wir richten uns ganz neu ein«, hatte Wilhelm gesagt und Gerta war einverstanden gewesen.

    »Das hier wird dein Zimmer sein«, sagte Wilhelm gerade und zeigte seinem Sohn ein ganz am Ende des Zimmers gelegenes quadratisches Zimmer mit hellblau gestrichenen Wänden, in dem sich bereits einige Spielzeuge von Wolfgang befanden.

    Der kleine Junge klatschte in die Hände und stieß einige Freudenlaute aus. Wilhelm wirbelte mit ihm auf dem Arm herum und lief den Flur zurück zu Gerta, der er übermütig einen Kuss auf die Wange drückte.

    »Hier werden wir sehr glücklich werden, liebste Gerta, ich kann es spüren. Und wie viele Zimmer wir haben! Das ruft doch geradezu nach einem ganzen Stall von Kindern, was meinst du?«

    Gerta errötete ein wenig und senkte den Blick, doch ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Nun, wo Wilhelm sein politisches Ziel vorerst erreicht hatte, konnte man darüber nachdenken. Gerta streifte ihren Hut und die Handschuhe ab und hing ihren Mantel an die Garderobe, bevor sie Martha begrüßte.

    »Martha, wollen Sie mir die Küche zeigen? Ich denke, es gibt einiges, das ich zu lernen habe. Mein Mann gibt schon in zwei Tagen einen Empfang für einige Stadtverordnete und ich habe noch keine Ahnung, was wir auftischen sollen.«

    Martha wiederholte ihren Knicks und wandte sich dann nach rechts, wo sich die große Küche mit dem modernen Gasherd befand.

    Wilhelm, der in den vergangenen Wochen anlässlich der Stadtverordnetenversammlungen immer wieder in Uerdingen gewesen war, setzte den kleinen Wolfgang bei seiner Mutter ab.

    »Ich werde einen kleinen Spaziergang machen. Die Sonne da draußen ist so herrlich und es kann nicht schaden, den einen oder anderen Bürger gleich persönlich zu begrüßen.«

    Beim Blick in den Spiegel korrigierte er den Sitz seines Hutes und des Anzuges, dann war er schon hinaus auf die staubige Augustastraße, auf der nur selten einmal ein Fahrzeug entlang fuhr.

    So manchen seiner Nachbarn hatte er schon kennen gelernt, wie den Herrn Direktor Robert Seyfarth aus Haus Nr. 22, der glühender Schwimmer beim ASC Duisburg war und sofern er Zeit hatte, zum Barbarasee nach Wedau fuhr. Der Katasterangestellte Schmidt, aus Haus Nr.15 hatte sich ihm recht früh bekannt gemacht, da Wilhelm ja nun sein Amtsvorgesetzter war. Im gleichen Haus, der Studienrat Schönigh. Besonders wichtig war ihm aber seine eher zufällige Bekanntschaft mit dem Uerdinger Armenwart, Josef Herding im Haus Nr. 28, konnte dieser ihm doch aus erster Hand über Armut und das Armenwesen in der Stadt Uerdingen berichten.

    Die Augustastraße kreuzte die breit gebaute Krefelder Straße und genau dieser folgte Wilhelm an diesem heißen Spätsommertag um die Mittagsstunde.

    Wer genau hinsah – und hinhörte – konnte verfolgen, wie er hin und wieder in fast tänzerischer Leichtigkeit den einen oder anderen Hüpfer beim Gehen einbaute und dabei ein Lied pfiff.

    Die Krefelder Straße, die ihren Namen erhalten hatte, weil sie nach Krefeld führt, jenem ungeliebten Nachbarort, der in einer rasenden Entwicklung des letzten Jahrhunderts durch seine Samt- und Seidenproduktion zur Großstadt und 1890 sogar zur reichsten Stadt des Kaiserreiches erklärt wurde.

    Krefeld fand daher in mittelalterlichen Aufzeichnungen nur wenig Erwähnung, Uerdingen hingegen, mit seiner langen Rheinfront, den Handwerksgilden, dem blühenden Handel und seinen Traditionen, wurde bereits 1255 von dem Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden zur Stadt erhoben. Jenem Erzbischof, der 1248 den Grundstein zum Kölner Dom legte. Grund genug, um auf das inzwischen weit größere Krefeld herabzublicken und es in zahlreichen Spottreden, vor allem während des Karnevals, dem Oeding‘sche Fastelovend zu verhöhnen. All das hatte Wilhelm bereits aus Gesprächen mit den Einheimischen erfahren. Die Feindschaft mit Krefeld gehörte zum Uerdinger Lokalkolorit, soviel stand fest.

    Krieewelsche Wengkbühel nannte man die Nachbarn und rühmte sich zugleich der zahlreichen Verdienste und Besonderheiten Uerdingens. Dennoch hatte Uerdingen ein geografisch bedingtes Problem: Im Osten durch den Rhein begrenzt, im Norden durch die wachsenden Industriegebiete und die große Landgemeinde Rheinhausen, im Westen und Süden durch die vielen benachbarten Ortschaften, allen voran Krefeld, gab es für die Stadt Uerdingen kaum noch Möglichkeiten, zu wachsen und sich weiter auszudehnen. Im Stadtkern waren die Straßen historisch bedingt, so schmal, dass hin und wieder die Automobile gar nicht hindurch kamen. Daran änderte auch der Abriss des letzten beengenden Stadttores 1877 nichts. Wollte Uerdingen nicht abgehängt werden, hieß es wachsen und dafür war Warsch durchaus bereit, auch ungewöhnliche Wege zu gehen.

    Wilhelm spazierte auf eben jener Krefelder Straße in Richtung der Uerdinger St. Peter Kirche mit dem mächtigen romanischen Turm und ihren vier auffälligen, barocken Ecktürmchen.

    Am Brempter Hof, einer bröckelnden, mittelalterlichen Anlage, mit einem kleinen verwunschenen Garten, legte er eine kurze Pause ein. Nicht weit von ihm dösten zwei Bettler in der Sonne. Das Elend war auch in Uerdingen gegenwärtig, hervorgerufen durch den Krieg und die seit Jahren grassierende Inflation. Die Armenküchen der Städte wurden Tag für Tag von Bedürftigen geflutet, das war in München-Gladbach nicht anders gewesen.

    Seit etwa 15 Jahren verkehrte entlang der Ober- und Niederstraße mit Halt am Rathaus, die elektrische M-Bahn von Düsseldorf nach Moers. Am Ende der Niederstraße musste die M-Bahn die Eisenbahngleise von Krefeld nach Duisburg mittels einer »der Berg« genannten Stahlkonstruktion überqueren. Dabei stieg der Stromverbrauch so hoch, dass dies gelegentlich zum Spannungsabfall im gesamten Netz führte. Das war nur eines von vielen Problemen, mit denen sich die Stadtverordneten und zuvorderst der neu gewählte Bürgermeister beschäftigen mussten. Vor kurzem war die offizielle Einführung in sein Amt, es gab eine Menge zu tun. 19 Stadtverordnete und mehr als 10.000 Einwohner erwarteten von ihm, dass er Entscheidungen traf, Streitigkeiten schlichtete, und vor allem Neuerungen anstieß.

    Zu diesem Zweck hatte er auch den sehr beliebten und bereits seit 1911 amtierenden Bürgermeister Krefelds Johannes Johansen zu einem Empfang, in zwei Tagen bei sich nach Hause eingeladen. Es konnte nie schaden, Verbündete über die Stadtgrenzen hinaus zu haben, auch wenn Johansen den Nationalliberalen und den Freikonservativen näherstand als seiner Zentrumspartei.

    Doch rasch verscheuchte Wilhelm die allzu zukunftsgerichteten Gedanken wieder und auch die Politik aus seinem Kopf, heute wollte er nur in Uerdingen ankommen und den Beginn dieses neuen Lebensabschnitts gebührend feiern.

    Nach der kurzen Verschnaufpause folgte er der Straße bis Am Marktplatz, an der sich unter der Nummer 1 das neue Rathaus mit »seinem« Bürgermeisterzimmer befand.

    Es war das erste der drei großen, prächtigen Herberz-Häuser, die das Bild des Marktplatzes maßgeblich prägten, direkt neben der Apotheke, wo die von Wilhelm so begehrten Rheila-Hustenperlen hergestellt wurden und dem ehrwürdigen Amtsgericht Uerdingen.

    Nur hin und wieder erkannte jemand den jungen Bürgermeister, der da pfeifend durch ihre Straßen schritt; wenn es aber geschah, dann lüftete Wilhelm gut gelaunt seinen Hut und grüßte freundlich.

    Schon konnte man, durch ein nur wenig entferntes mittelalterliches Tor, den Rhein sehen, der als mächtiger Strom ruhig an der Stadt vorbeizog und dem die Uerdinger so viel zu verdanken hatten.

    In den sorgsam beschnittenen Platanen auf dem Marktplatz zwitscherten die Vögel, an Ständen boten die Bauern aus der Umgebung ihre Ware an, es herrschte ein fröhliches und ausgelassenes Treiben. Kinder spielten mit ihren Bällen oder scheuchten ein paar entlaufene Hühner zurück in ihre Verschläge. Einige Buben saßen mit ihren kurzen Lederhosen auf den Prellsteinen, die über Generationen deswegen schon blank poliert waren. Gerade hielt hinter Wilhelm mit lauten Klingeln die M-Bahn und Fahrgäste stiegen aus und ein.

    Wilhelms Blick streifte den alten Gasthof »Zur Krone«, der sich unmittelbar vor dem Rheintor befand, dann beschritt er die gut gepflegte Rheinpromenade.

    Im Uerdinger Norden, von den Einheimischen »Braunschweig« genannt, wo die Industriekamine rauchten, machte der Fluss einen sanften Bogen, im Süden aber schlängelte er sich durch die flache Landschaft, die Rheinauen. Direkt vor Wilhelm legte die Ponte, ein rheinischer Begriff für Fähre, an. Es war die einzige Möglichkeit, den Rhein an dieser Stelle zu überqueren. Der Bau einer Brücke wurde seit Jahrzehnten diskutiert, doch es fehlte an Mitteln.

    Einem Impuls folgend schritt Wilhelm zu der Ponte und fragte den Fährmann, ob er ihn hinüberbringen könnte.

    Es war Mittag, so dass sich der Verkehr in Grenzen hielt. Unter der Woche nutzten die Bauern und Handwerker die Ponte, um ihre Waren rüber zu bringen, an den Sonntagen aber fuhren die Uerdinger und auch viele Ausflügler damit gern über den Fluss, um sich an einem Picknick in den Rheinwiesen oder einem Umtrunk in der nahe gelegenen Mündelheimer Dorfkneipe zu erfreuen.

    »Komm ens erop«, sagte der Fährmann auf Uerdinger Platt freundlich und man sah seine vom Priemen dunkelbraunen Zähne. Wilhelm entging nicht, dass der Mann humpelte, vermutlich eine Kriegsverletzung. Er stieg auf die Ponte und stellte sich neben den stattlichen und gewiss wohl auch stolzen Fährmann. Der Rhein floss nur träge, als sei es sogar ihm an diesem Septembertag schlicht zu heiß, um sich zu bewegen. Langsam quälte sich ein tuckernder Dieselschlepper an der Fähre vorbei. Junge Burschen hängten sich an die schweren Lastkähne, um sich rheinaufwärts ziehen zu lassen. Kaum noch zu sehen, ließen sie dann los und trieben jubilierend bis zur anfänglichen Uferstelle.

    Indes wies Wilhelm auf das steife Bein des Fährmanns.

    »Eine Kriegsverletzung?«

    Der Mann verzog das Gesicht.

    »Granatsplitter. Die Schlacht von Verdun. Das Höllenloch.«

    Sein Blick flackerte, dann lächelte er wieder.

    »Aber wer will an einem Tag wie diesem schon darüber nachdenken? Haben Sie auch gedient, mein Herr?«

    Wilhelm senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

    »Nicht im Feld«, erwiderte er.

    Wilhelm war als »garnisonstauglich« gemustert worden und studierte nach seinem Abitur bis 1920 meist vom Dienst befreit, die Fächer Nationalökonomie und Rechtswissenschaften. Während er als Pennäler für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn lernen konnte, zogen die meisten anderen seiner Altersgenossen an die Front und in das unvorstellbar grausame Gemetzel des Stellungskrieges.

    Hin und wieder betrübte Wilhelm, dass er nicht an der Front war, immerhin gab es kaum einen Mann in seinem Alter, der nicht durch eine Kriegsnarbe geadelt worden war oder zumindest Geschichten aus dem großen Krieg zu erzählen hatte.

    »Seien Sie froh«, sagte der Fährmann gleichmütig und stieß einen Pfiff aus, der wie ein Echo von den Gleisgeräuschen der weit hinter ihnen anfahrenden M-Bahn wiederholt wurde.

    »Da gibt es eine lustige Geschichte zu«, sagte der Fährmann. »Wussten Sie, dass, als der Bau der elektrischen Bahn schon beschlossen war, der alten Dampfbahn kurz vor Uerdingen das Wasser ausging? Der Maschinenführer brachte die Lok noch bis an den Stadtrand, wo er die Kinder anfuhr, dass sie ihm Wasser bringen sollten. Die sind vielleicht gerannt, dass ihnen die Beine flogen. Doch als sie die Eimer auf den Kessel schütteten, da ging das ganze Ding in die Luft. Eine riesige Explosion, bei der glücklicherweise niemand zu Schaden kam.«

    Der Mann lachte schallend. »Das Gesicht von dem Maschinenführer hätte ich nur zu gerne gesehen. Aber jetzt ist ja alles neu, Elektrizität und so. Naja, wozu es gut ist. Immerhin hat man nicht in den Straßen den Qualm und den Dreck von den Kohlen, wie es ja bei der Eisenbahn noch immer üblich ist.«

    Wilhelm nickte freundlich und freute sich über den unerwartet redseligen Mann, der offenbar noch keine Ahnung hatte, wen er hier über den Rhein transportierte.

    Lautes Krakeelen am Ufer erweckte ihre Aufmerksamkeit. Einige »Rhienkadetten«, manche von ihnen in verlumpten, feldgrauen Uniformen, stritten sich lautstark an dem unteren Rheinwerft, schon am frühen Nachmittag erkennbar angetrunken.

    »Das sind wilde Kerle«, sagte der Fährmann, als habe er Wilhelms Gedanken erraten. »Einige von ihnen haben nach dem Krieg einfach nicht mehr ins normale Leben gefunden und schleppen sich irgendwie durchs Leben. Sie leben als Tagelöhner vom Löschen der Schiffe. Kisten und Säcke tragen, Kies und Kohle schaufeln - eine harte Arbeit. Bei jedem Wetter stehen sie in Ihren Unterständen und warten auf Tonnage. Manche ertragen das nur mit `ner billigen Flasche Brandewein«.

    Das Leid der Kriegsversehrten war im Nachkriegsdeutschland alltäglich. Zerschossene

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