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Piraten unter falscher Flagge
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eBook658 Seiten9 Stunden

Piraten unter falscher Flagge

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Über dieses E-Book

Als die Geschwister Mary und Niclas unerwartet voneinander getrennt werden, müssen sie sich von nun an alleine durchschlagen. Für beide beginnt ein Abenteuer, das beide verändern und stetig von Neuem herausfordern wird.  
Auf der Suche nacheinander stoßen sie immer wieder auf die dunklen Geschichten ihres skrupellosen Vaters und die mysteriösen Geheimnisse ihrer Mutter.
Geplagt von Erinnerungen und Schicksalsschlägen, gehen beide ihren gefährlichen Weg und lernen sich und die Welt von immer neuen Seiten kennen.

Aber all ihre Fragen scheinen sie nur mithilfe der zwielichtigen Gestalten der hohen See beantworten zu können … PIRATEN!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juli 2022
ISBN9783347543492
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    Buchvorschau

    Piraten unter falscher Flagge - Norbert Joël

    1. Kapitel Niclas

    Mein Name ist Captain Blacksoul und das ist meine Geschichte.

    Damals, hieß ich noch Niclas Soul und an die raue, verschlafene Hafenstadt Falmouth an der Südküste der Grafschaft Cornwall in England wo alles begann, kann ich mich noch sehr genau erinnern. Sofort schmecke ich wieder die vertraute Mischung der salzigen Seeluft und den rauchigen Rum meines Vaters John Soul. Die dunklen, dreckigen Gassen, die von Hunger gezeichneten Gesichter und den von menschlichen Fäkalien und Abfällen verseuchten Hafen werde ich wohl auch nie vergessen können.

    In unserer kleinen Hütte mit dem schäbigen Tisch aus alten Planken und der großen Kochstelle, wo Johns Frau Annabell ihren trostlosen Alltag verbrachte, fühlte ich mich nie wirklich zu Hause.

    Die meiste Zeit war ich damit beschäftigt, mit John am Hafen als Tagelöhner grade genug zu verdienen, dass es für das Notwendigste reichte. Allerdings verprasste John das meiste des lächerlichen Lohns für Huren und Rum. Die Verachtung in Annabells Augen war jedes Mal deutlich zu sehen, wenn John betrunken vom Hafen kam und seinen Frust am Mobiliar, an ihr oder mir ausließ.

    Sie hasste ihn, sie hasste ihr Leben, aber am meisten hasste sie mich. Der einzige Grund, aus dem sie mich duldete, war, dass sie selbst keine Kinder bekommen konnte, John jedoch auf einen Erben bestand. Auch wenn mir damals nicht ganz klar war, was er zu vererben hätte.

    In irgendeiner Weise verstand ich Annabells Hass mir gegenüber sogar. Ich war der außerehelich geborene Sohn einer Hure, der ihr schon früh geistig überlegen war. Hätte John nicht darauf bestanden, dass sie mich akzeptiert, wäre ich wohl elendig auf der Straße verreckt. Man kann fast sagen, meine kleine Schwester Mary hatte da mehr Glück, denn sie wuchs bei unserer Mutter im Bordell auf. Doch dazu später mehr.

    Zurück zu meiner Zeit in Falmouth. Ich möchte es nicht so darstellen, als wäre alles daran schlecht gewesen. Schon mit 13 Jahren hatte ich mir nützliche Fähigkeiten angeeignet, wie das Öffnen von Schlössern, dessen Schlüssel man nicht hat oder das Beschaffen von Gegenständen. Aber vor allem las ich gerne und interessierte mich für alles, dass mir vielleicht irgendwann einmal von Nutzen sein könnte. Ein Mensch, der immer ein Auge auf uns Soul-Kinder hatte, wurde uns für diese Zeit ein Lehrer und brachte uns immer wieder wichtige Lektionen bei. Ihn möchte ich in meiner Geschichte nicht vergessen. Er war ein älterer Seemann, den man am Hafen unter dem Namen Blackeye kannte. Die Leute sagten, man sollte sich besser von ihm fernhalten, denn er sei ein verwirrter, zorniger Mann.

    Meine erste bewusste Begegnung mit Blackeye war im Winter. John hatte mal wieder alles versoffen, was wir beim Eisfischen verdient hatten und wie so oft musste ich selber zusehen, wie ich an etwas zu Essen komme. Der Tag war nass, dunkel und bitterkalt. Ein starker Wind schleuderte alles, was nicht angebunden oder vernagelt war, durch die engen Gassen von Falmouth. Ich kauerte in einer Ecke vor einem der vielen Gasthäuser in der Hoffnung, hier vielleicht von einem der kommenden oder gehenden Gäste eine Münze oder was zu Essen zu bekommen. Abgesehen davon war man ein wenig vor dem eisigen Wind geschützt und durch das Fenster des Gasthauses drang etwas Wärme nach draußen. Irgendwann stand Blackeye vor mir und sah mich an. Ich zitterte nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst. Was will der Mann von mir? Warum starrt er mich so an? Er stand einfach nur da, sah mich lange an, ohne auch nur mit einer Miene zu verraten, was seine Absichten waren. Ich konnte nichts in seinem Gesicht erkennen, keine Emotion, keine Regung war in seinen Augen wahrzunehmen. Plötzlich griff er in seine Tasche, holte ein Bündel heraus und warf es mir zu. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit.

    Verwirrt öffnete ich das Bündel, sah hinein und fand zu meiner Überraschung darin ein Stück warmes Brot, Käse, etwas gebratenes Fleisch und eine Flasche mit Bier. Ich stand auf, sah dem alten Mann nach und verstand nicht ganz, was hier passierte. Die Almosen, die ich normalerweise bekam, bestanden aus hartem, schimmligem Brot oder Essensabfällen. Aber man stellt auch keine Fragen, wenn einem ein solches Festmahl zugeflogen kommt.

    Bumm bumm bumm klier! Riss mich plötzlich der Krach aus meinen Gedanken, als John Soul, mein Vater betrunken wie die Mannschaft des Fliegenden Holländers aus dem Gasthaus stolperte. Er warf sein Glas durch die Tür, während er schrie: »Verräter! Anzünden sollte man dich und deine schäbige Spelunke! Ich bin mit Blackbeard gesegelt, ihr Hunde. Ich …« John stolperte und landete ziemlich unsanft auf der Gasse. Er nuschelte etwas in seinen Bart, drehte sich zu mir um, und als er mich sah, schrie er: »Duuuu, du kommst mir gerade recht, Freundchen!« John richtete sich unbeholfen und taumelnd auf und scheiterte kläglich an dem Versuch, eine zerbrochene Flasche nach mir zu werfen. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, der Flasche auszuweichen, die mich weit verfehlte und dachte mir nur: Nach Hause gehe ich heute Nacht besser nicht! Was mich nicht wesentlich störte, da ich ohnehin nicht gerne dort war.

    So sah ich zu, dass ich von hier verschwand. Ich schlenderte durch die Gassen und überlegte, wo ich heute die Nacht verbringen könnte. Ich beschloss, meine kleine Schwester Mary aufzusuchen. Schließlich hatte ich heute so viel zu essen, dass wir uns mal wieder richtig satt essen konnten. Ich bog in die Straße ein, wo das Freudenhaus von Falmouth seine zwielichtige Adresse hatte. Zwei rivalisierende Crews zerlegten mal wieder alles. Und mir wurde sofort klar, dass ich auch hier keinen warmen Platz für die Nacht finden würde.

    Schlägereien waren in Falmouth nichts Ungewöhnliches, besonders in den Tavernen waren sie an der Tagesordnung. Bei solchen Auseinandersetzungen ist es immer besser, möglichst weit weg zu sein. Wie ich Mary kannte, sah sie das auch so. Ich änderte also meinen Plan und beschloss zum Hafen zu gehen. Bei dem Wetter würden alle Boote im Hafen sein und nur wenige der Fischer würden sich bei den Hütten herumtreiben, in denen man die Netze und das Werkzeug für den Fischfang aufbewahrte. Ich suchte also nach einem Schuppen, von dem ich glaubte, dass er genügend Schutz bieten würde, sodass ich dort mein Abendessen verdrücken und bis zum nächsten Morgen ungestört ein paar Stunden schlafen konnte. Meine Wahl fiel auf eine Hütte, die etwas abseits der Anlegestelle stand. Sie sah etwas stabiler und winddichter aus als die anderen. Also versuchte ich hier mein Glück.

    Klick! Schloss geknackt und hinein in die gute Stube. Ich zündete ein Streichholz an und blickte mich um. Keine Netze? Kein Gerümpel? Ich zündete eine Öllampe an, die auf dem Tisch stand und sah mich weiter um. Das war auf keinen Fall eine Fischerhütte! An den Wänden hingen allerlei Gegenstände wie Seekarten, Entermesser und Pistolen. Das Bett war an Tauen aufgehängt, so wie man es von Schiffen kannte und in der Ecke lag ein großes schwarzes Tuch. Mich überkam das ungute Gefühl, dass dieser Ort kein so sicheres Nachtlager war, wie ich es mir erhofft hatte. Da mir die Hütte unheimlich war, beschloss ich wieder zu verschwinden, bevor der Eigentümer zurück sein würde. Ich wendete mich um, wollte grade wieder gehen, da stand Blackeye in der Tür und sah mich wieder mit diesem tiefen, durchdringenden Blick an. Er ging an mir vorbei zu dem Tisch und drehte das Licht wieder runter und fragte mich: »Was suchst du hier?«

    Ich, der noch starr vor Angst mit dem Bündel in der Hand mitten im Raum stand, antwortete: »Ich, ich wollte mich bedanken.«

    »Rede kein Unsinn, Junge! Eingebrochen bist du. Hast du was gestohlen?«

    »Nein Sir«, antwortete ich und senkte meinen Blick. Ich schämte mich, schließlich hatte Blackeye mir etwas zu essen gegeben. »Ich wusste nicht, dass es Euer Haus ist, Sir«, stammelte ich. »Ich habe nur nach einem Platz gesucht, wo ich heute Nacht bleiben kann.«

    Blackeye drehte sich zu mir um und sah mich forschend an. »Du bist der Sohn von John Soul, oder?« Ich nickte, sagte aber nichts. »Brauchst du Arbeit?« Wieder nickte ich. »Dann komm morgen früh wieder her.« Dann ging er zum Kamin und machte Feuer. »Und jetzt verschwinde!«

    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich drehte mich um und lief so schnell ich nur konnte davon, auch wenn ich keine hatte Ahnung wohin.

    Als ich mich umschaute, bemerkte ich, dass ich in der Nähe vom alten Leuchtturm war. Mary und ich waren oft hier. Es war so etwas wie unser Zufluchtsort wo wir uns versteckten. Oft kletterten wir in den Ruinen des alten Gemäuers herum oder Mary zeigte mir, was sie Neues gelernt oder geklaut hatte. Eigentlich mochte ich es nicht, wenn sie ihre Fingerfertigkeit für dieses fragwürdige Hobby einsetzte, aber ich konnte sie auch nicht davon abhalten und hoffte einfach, dass man sie nicht eines Tages erwischen würde.

    Es gab aber auch Tage, da redeten wir nur über Dinge, die uns beschäftigten, oder ich erzählte ihr Geschichten von Seeräubern und ihren Abenteuern auf hoher See. Am liebsten mochte sie Geschichten über Meerjungfrauen und Wassernixen. Manchmal lag sie aber einfach nur in meinem Arm und wir schauten auf das Meer und beobachtenden die ankommenden oder abfahrenden Schiffe. Wir liebten diesen Platz. Das war unser Versteck, in dem wir uns sicher fühlten, denn hier waren wir weit weg von dem tristen Alltag in Falmouth. Ich kletterte in das alte Gemäuer, machte ein Feuer, öffnete das Bündel und aß.

    »Hast du das mitbekommen?«, ertönte eine freche Stimme aus der Dunkelheit. »Die haben nichts heil gelassen. Mum hat sogar einen mit ‘nem Stuhl umgehauen.« Mary grinste. In der Dunkelheit konnte man nur ihre leuchtenden blauen Augen und eine Strähne ihrer fast weißen Haare erkennen.

    Wie immer trug sie ihren schwarzen Kapuzenmantel und die schwarzen Hosen mit den Stiefeln, die ich ihr vor einiger Zeit geschenkt hatte. »Und, ich habe seine Uhr! Hier schau mal.« Sie saß auf einem Vorsprung knapp drei Meter über mir und pendelte mit einer goldenen Taschenuhr.

    Freudig blickte ich auf und sah, wie meine kleine Schwester sich über einen Balken direkt in meine Richtung schwang. »Fang mich, großer Bruder!« Ich konnte kaum reagieren, schon hing Mary an meinem Hals, küsste mich und sagte: »Ich hab dich vermisst.«

    Ich drückte sie sanft von mir weg und lachte. »Das waren doch nur acht Tage. Abgesehen davon war ich ein paar Mal in der Meermaid, doch du warst immer ausgeflogen.«

    Mary senkte ihren Blick. »Ja ich weiß, war oft bei Eddy. Er hat mir gezeigt, wie man beim Hütchen spielen immer gewinnt und …, ach, das willst du bestimmt gar nicht wissen.« Ich verdrehte die Augen. »Aber die Schlägerei war toll!«, schwärmte Mary.

    Sie erzählte mir in allen Einzelheiten, wie die Schlägerei begonnen hatte. »Als es zu gefährlich wurde, habe ich mich dann auch aus dem Staub gemacht.«

    Ich liebte Marys Lachen, ihre Leichtigkeit, ihren Mut. Sie machte sich um Gefahren nie wirklich Gedanken. Ich sah sie wieder einmal lange an. Sie hatte die Augen und das Haar unserer Mutter. Manchmal kam es mir so vor, als wenn ihre Augen hier am Leuchtturm besonders hell glänzten. »Bist du schon lange hier?«, fragte ich sie.

    »Lang genug, um zu sehen, dass du ewig brauchst, um Feuer zu machen.« Mary grinste und steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund.

    Wir aßen und alberten herum, bis wir uns am Feuer unter einer Decke einkuschelten. Ich liebte diese Momente, wenn sie ihren Kopf an meine Schulter legte und einschlief. Ich liebte meine Schwester mehr als alles andere auf der Welt.

    2. Kapitel Mary

    Früher war ich einfach nur Mary. Ein cleveres Mädchen aus dem beschaulichen Hafenstädtchen Falmouth. Seit ich mich erinnern kann, waren unmoralisches Verhalten, Betrügereien und die Chance in eine gefährliche und nicht selten schwer zu kontrollierende Situation zukommen, meine ständigen Begleiter. Was auch kein Wunder war, da meine Mutter in einem der beliebtesten Bordelle von Falmouth arbeitete, der Feinen Meermaid. Meinen Vater kannte ich nicht und meine Mutter machte immer ein großes Geheimnis aus meiner väterlichen Abstammung. Das Einzige, was sie mir immer wieder aufs Neue predigte, wenn mich die Neugierde nach meinen Wurzeln plagte, war, dass er ein Säufer und ein brutaler Taugenichts sei und er es nicht mal wert sei, ihn auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Angeblich war er ein verwahrloster Tagelöhner, der all sein Geld an Rum und Huren verschleuderte und ich nicht weiter nachfragen solle. Was ich dann in der Regel auch nicht tat. Mein Bruder Niclas lebte bei seinem Vater und seiner Stiefmutter. Meine Mutter erzählte mir, dass sie vor meiner Geburt mit John Soul verheiratet war, er sie jedoch für seine jetzige Frau Annabell verlassen und ihren Sohn, meinen Bruder Niclas mitgenommen hatte.

    John Soul war ein unangenehmer Zeitgenosse. Ich habe nie verstanden, was sie jemals an ihm gefunden hatte und ich war meiner Mutter zutiefst dankbar, dass sie immer energisch abstritt, dass ich wie Niclas auch von ihm abstammen würde. Ich fragte mich natürlich hin und wieder, warum Mum sich scheinbar immer solche Männer suchte wie John Soul. Er war nun wirklich kein Mann, in den man sich meiner Meinung nach verlieben könnte. Meine Mutter erzählte mir dann immer, dass sie nach meiner Geburt aufgegeben habe, einen Mann zu finden, der sie liebt und versorgt. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass man nur äußert selten als Hure in einer Hafenstadt anständigen Männern begegnete.

    Meine Mutter warnte mich, seit dem ich denken kann vor der Tücke und Bosheit, die Männer in sich trugen. Bei jeder Gelegenheit erinnerte sie mich daran, dass ich aufpassen und niemals einem Mann vertrauen und schon gar nicht mein Herz unüberlegt an jemanden verschenken solle. Im Laufe meines Lebens sollte ich dann auch am eigenen Leib erfahren, wie sehr meine Mutter damit recht hatte.

    Abgesehen von meiner Mutter war Niclas der einzige Mensch, dem ich voll und ganz vertraute. Ich bewunderte meinen großen Bruder. Er brachte mir alles bei, was ein Kind in Falmouth wissen musste. Lesen, schreiben, wie man schnitzt und vieles mehr. Er zeigte mir, wo man sich überall verstecken konnte und wie ich mich aus dem unheilbringenden Griff der Stadtwache befreien konnte. Ich liebte Niclas und wir versuchten jede freie Minute, die wir hatten, miteinander zu verbringen. Was leider durch unsere unterschiedlichen Lebensbedingungen oft nicht so einfach war.

    Niclas musste mit John meistens am Hafen arbeiten. Ich hingegen hatte meine täglichen Aufgaben im Bordell. Und so musste ich oft selber zusehen, wie ich alleine zurechtkomme. Aber eigentlich fand ich mich ganz gut in dieser Welt zurecht und entwickelte nützliche Talente, die ich neben meinen Aufgaben wie Wäsche waschen, kochen und aufräumen perfektionierte.

    Aber vor allem lernte ich, dass Tauschgeschäfte sehr lukrativ sein konnten, besonders wenn man Dinge eintauschte, dessen Herkunft fragwürdig schien. Ich musste mir nur etwas beschaffen, dass ich gegen etwas anderes tauschen konnte, was mir gefiel. Eine Taschenuhr gegen ein neues Paar Schuhe, ein Messer gegen Süßigkeiten, eine Kette gegen ein sauberes Bad und regelmäßig ein paar Münzen für Jakob den Bordellbesitzer, womit mir das Schicksal der anderen Mädchen erspart geblieben ist. Ich muss wahrscheinlich niemandem erklären, dass hübsche junge Mädchen besonders gefragt und äußerst profitabel waren.

    Jakob erkannte aber schnell, dass er mehr davon hatte, mich stehlen zu lassen oder sogar Aufträge an mich weiterzuleiten. Im Laufe der Zeit wurde dann auch immer bekannter, dass ich gewisse Fähigkeiten hatte. Somit hatte ich immer was zu tun. Es machte mir auch nichts aus, ganz im Gegenteil, ich hatte einen Riesenspaß daran und liebte die Herausforderung. Hier ein paar Papiere aus dem Rathaus. Da eine Truhe vom Pfandleiher. Seekarten von einem Schiff, dass gerade in Falmouth festmachte. Eigentlich gab es immer jemanden, der nach mir fragte oder mich direkt darauf ansprach, ob ich etwas Bestimmtes besorgen kann.

    Abends, wenn es draußen zu ungemütlich war und ich nicht wusste, wo ich sonst hinsollte, saß ich an der großen Treppe im Schankraum der Feinen Meermaid, in der wir auch wohnten. Ich schaute dann den Betrunkenen zu, die aus den Zimmern der Frauen kamen und sich an der Theke weiter betranken, ihre Heuer verjubelten und mit ihrer Manneskraft prahlten. Ich mochte die Heiterkeit, die vielen Geschichten von Abenteuern auf See, mutigen Piraten und verborgenen Schätzen. Allerdings sollte man vielleicht erwähnen, dass zwielichtige Gestalten, Diebe und heruntergekommene Piraten den größten Anteil der Gäste ausmachten, die hier verkehrten. Aber ganz besonders mochte ich die Lieder. Wenn alle mitjohlten, dass der ganze Raum vom Klopfen und Stampfen des Taktes erzitterte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, dass genau diese Lieder ein ständiger Teil meines Lebens werden würden. Eines von ihnen ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, noch heute kann ich mich an jede Zeile erinnern:

    15 Mann auf des toten Manns Kiste

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Schnaps stand stets auf der Höllenfahrtsliste

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Der Maat war senkrecht aufgespießt

    Mit Smutjes Spieß, den der stecken ließ

    Der Anblick Smutjes war ähnlich fies

    Das Blut ihm aus den Ohren rann

    Und da lagen sie tot, 15 Mann

    Ein Szenario was der Teufel ersann

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Der Steuermann lag in seinem Blut

    Zu erkennen nur an seinem Hut

    Dem Käptn erging es auch nicht gut

    Ein Enterhaken hat ihn erwischt

    Da lagen sie tot im düsteren Licht

    Wo im feuchten Nebel der Tag anbricht

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Es war ein Säbelstreich oder ne Unze Blei

    Eine blutrünstige Metzelei

    Und über dieser Barbarei

    Der Hafenhimmel in rostigem Rot

    Und da lagen alle 15 tot

    Durchsiebt von Eisen, Blei und Schrot

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Sah man durch ein hinteres Bullauge rein

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Die Koje eines Weibes – wer mochte das sein?

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum

    Ein dünnes Laken auf dem schmalem Bett

    Und in der Brust die Klinge noch steckt,

    Die Seidenspitzen steif im purpurnem Fleck.

    War sie nun Hure oder zitternde Maid,

    bei Gott, dieses Weibsbild, sie hatte den Schneid

    Griff den Dolch und brachte sich selber um

    Yo Ho Ho und ne Buddel voll Rum.

    Es wurde jeden Abend gefeiert und getrunken, und es wurde viel getrunken, Gewürfelt und Karten gespielt. Hin und wieder gab es auch Schlägereien. Das war zwar für ein Mädchen wie mich gefährlich, denn man wusste nie, was so durch den Gastraum geworfen wurde oder ob jemand die Kontrolle verlor und eine Waffe zog. Es konnte aber auch recht lukrativ sein, wenn man pfiffig und schnell genug war. Am Boden lagen dann nicht selten mehr als nur Scherben oder die Überreste der zerstörten Einrichtung, sondern auch so mancher kleiner Schatz.

    Lustig war vor allem das Wetttrinken. Oft begannen diese schon am helllichten Tage. Dafür setzten sich zwei Männer gegenüber an einen Tisch und es wurde Rum in mehrere Gläser gefüllt, die auf ein Stück Planke gestellt wurden. Nacheinander musste nun jeder abwechselnd ein Glas leeren. Waren alle Gläser geleert, wurden sie erneut mit Rum gefüllt. So ging es Runde um Runde, bis einer aufgab oder nicht mehr konnte.

    Besonders spaßig war es anzusehen, wenn einer soviel Rum getrunken hatte, dass ihm so die Sinne versagten, dass er vom Stuhl rutschte. Es wurde immer gewettet, wer als Sieger aus diesem feuchtfröhlichen Duell hervorgehen würde. Ich stellte mir immer vor, wie ich auch mitspielte und jeden Mann gnadenlos unter den Tisch trank, der mich herausforderte.

    Hin und wieder verbrachte ich meine Zeit mit den Straßenkindern von Falmouth. Es war ein bunter Haufen von Taschendieben und Trickbetrügern. Hier holte ich mir nützliche Tipps. Auch wenn ich mich nur selten an ihren Aktionen beteiligte, schaute ich gerne zu, wie sie die ahnungslosen Bürger um ihr Hab und Gut erleichterten.

    Eddy war der selbst ernannte Anführer, auch wenn ich mich immer wieder fragte, warum. Er war weder besonders geschickt beim Taschendiebstahl, noch hatte er ein Talent für die Taschenspielertricks. Selbst bei den einfachsten Betrügereien, wie dem Hütchenspiel, das Kartenraten oder die Schwindelei mit den gezinkten Würfeln durchschaute ich ihn stets und gewann so gut wie immer. Allerdings konnte er gut reden, kannte so manches Versteck und verstand es, die Streitereien unter den Bandenmitgliedern schnell zu schlichten. Er kümmerte sich vor allem darum, immer neue Unterschlüpfe zu finden und dass immer genug zu Essen für alle da war. Trotzdem war und blieb er ein Gauner, dem man nicht zu sehr vertrauen sollte. Oft konnte ich beobachten, wie er sich noch ein kleines Extra von der Beute des Tages für sich selbst einsteckte. Aber da ich nicht zu der Gruppe gehörte, störte ich mich nicht daran. Ich war ganz zufrieden damit, nur ein Freund und gelegentlicher Gast zu sein. Natürlich war es gut und nützlich, jemanden wie Eddy zu kennen. Schließlich kannte er eine Menge Leute, wusste auch immer darüber Bescheid, was in der Stadt so los war und hin und wieder schob er mir einen kleinen Job zu. Wie schon gesagt, es hatte durchaus seine Vorteile ihn zu kennen.

    Dann war da natürlich noch Blackeye. Ein alter Mann, der am Hafen ein einsames Leben führte. Die meisten hatten Angst vor ihm, da er angeblich ein noch immer treuer Gefolgsmann und Mitglied von Blackbeards Crew war. Wer Blackbeard nicht kennt, er war der Pirat schlecht hin und an Grausamkeit nicht zu übertreffen. Die einen erzählten, Blackeye wäre sogar sein erster Maat gewesen. Die anderen wiederum erzählten, dass er höchstpersönlich Blackbeard, verraten und umgebracht habe und er sich nun in Falmouth vor der Rache seines Geistes versteckte. Wieder andere erzählten, Blackbeard hätte ihm aufgetragen, einen Schatz von unvorstellbarem Wert zu beschützen, bis er zurückkehrte.

    Keine Ahnung, ob das stimmte, aber wenn ich ehrlich bin, konnte ich mir nie wirklich vorstellen, wie der alte Blackeye als gefährlicher Pirat die Meere unsicher machte. Ich hatte da meine eigene Theorie und die war nicht so spektakulär. Manchmal, wenn ich ihn in seiner alten Hütte am Hafen besuchte und ich eine Flasche Rum aus dem Bordell mitgehen lassen konnte, beschrieb er mir sehr ausführlich verschiedene Schiffsmanöver, beschrieb, wie man Kanonen am effektivsten einsetzte und wie man anhand der Sterne einen Kurs bestimmen konnte. Ich lauschte diesen Vorträgen immer sehr aufmerksam und war jedes Mal begeistert und erstaunt darüber, was er alles wusste und wie detailliert er die Dinge beschrieb.

    Hin und wieder überließ er mir eine Münze oder was zu essen. Manchmal aber, wenn ich allein am Hafenbecken saß, tauchte er wie aus dem Nichts hinter mir auf, setze sich einfach nur neben mich, legte seine Hand auf meine Schulter und blickte aufs Meer hinaus. Nach einer Weile stand er dann wortlos auf und verschwand wieder genauso unscheinbar, wie er aufgetaucht war. Ich hatte jedes Mal das Gefühl, als wollte er mir irgendwas sagen. Er war wirklich ein komischer Vogel.

    Im Laufe der Zeit freundeten wir uns auf eine gewisse Weise an. Was ich aber weder Niclas noch meiner Mutter erzählte. Sie mochte Blackeye nicht, und da ich ihr keine zusätzlichen Sorgen bereiten wollte, machte ich ihn einfach nicht zum Thema. Niclas sah es auch nicht so gerne, wenn ich bei Blackeye war. Er sagte immer, ich solle mich besser fernhalten. Er würde mich nur auf dumme Gedanken bringen. Wenn er wüsste, was Blackeye mir sonst noch alles beibrachte …

    Eigentlich hatte ich ein recht unbekümmertes Leben, solange ich mich aus Schwierigkeiten heraushielt. Und damit meine ich besonders Begegnungen mit John Soul oder seiner Frau. Annabell hasste mich. Sie konnte es nicht ertragen, wenn ich ihr Haus betrete oder mich auch nur in der Nähe davon aufhielt. Sie ließ auch keine Gelegenheit aus, mir das zu zeigen. Immer wenn sie mich sah, rief sie mir Flüche und Beschimpfungen hinterher und schrie so laut, dass es jeder hören konnte, dass sie keine Kinder von Huren in ihrer Nähe haben wolle und erst recht nicht von so einem verlogenen Stück Abschaum, wie sie unsere Mutter mitunter gerne nannte. Es sei ihr genug, dass sie den faulen Hund Niclas durchfüttern und ertragen müsse.

    Wenn ich meinen Bruder besuchte und sie mich zu fassen bekam, setze es auch mal ein paar Hiebe. Wenn sie mich nicht erwischte, musste später Niclas häufig dafür herhalten. Aber in den meisten Fällen schafften wir es rechtzeitig zu verschwinden.

    Wenn ich mich aber nicht am Hafen oder in der Stadt herumtrieb oder mit Niclas unterwegs war, verbrachte ich meine Zeit in der Meermaid, lauschte dem Seemannsgarn, beobachtete die Gäste, hörte den Liedern zu oder schnitzte.

    Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als ein Mann das Bordell betrat. Jakob saß wie immer an seinem gewohnten Platz in einer dunklen Ecke der Meermaid, wo man den Laden gut überblicken konnte. Der Unbekannte steuerte zielstrebig den Tresen an und fragte Toni, unseren Barmann, nach dem klugen Mädchen, das alles beschaffen kann. Er war elegant gekleidet und passte irgendwie nicht hier her. Er hatte lange schwarze Haare, die am Hinterkopf zusammengebunden waren und eine breite Narbe lief quer über sein Gesicht, die in seinem Bart verschwand. Er war nicht besonders groß und durch die schlecht sitzende Kleidung konnte man nicht erkennen, ob er nur dick und unförmig war oder sich einfach in der Größe seiner Kleider vertan hatte. Ich musste kichern, da der auffällige, rote Mantel so übertrieben mit goldenen Schleifen und Knöpfen verziert war. Seine schwarzen Stiefel glänzten wie frisch poliert und die weiße Hose mit den roten Streifen an der Seite erinnerte sehr an eine Uniform. Aber irgendwie passte nichts davon zusammen.

    Toni winkte mich zu sich. »Bitte schön«, sagte er mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht, »das Mädchen, das alles beschaffen kann.« Mit einer ausladenden Geste wies er auf mich.

    Ich ging zum Tresen, wo mich der Mann von oben bis unten argwöhnisch musterte und mich skeptisch fragte: »Hab gehört, du kannst gut klauen?«

    Ich strahlte über das ganze Gesicht. Endlich konnte ich mich beweisen, mein erster regulärer Auftrag. Jetzt gehörte ich zu den Großen. Ich streckte die Brust raus und versuchte genauso gefährlich zu wirken wie die Piraten, die bei uns häufig zu Gast waren. Mit tiefer gestellter Stimme und ernstem Blick versuchte ich so taff wie möglich zu klingen. »Jap, ich bin die Richtige. Was brauchen Sie denn?«

    Der Mann schaute mich erst ungläubig an und dann fing er an laut zu lachen.

    Im Nachhinein betrachtet, verstehe ich, warum er sich so über mich amüsierte. Nach einigen Sekunden beruhigte er sich wieder, nahm einen großen Schluck Rum und sagte sichtlich belustigt, aber vor allem verächtlich: »Nun ich denke, da frage ich dann doch besser jemand anderes. Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst, du siehst eher so aus, als wenn man mehr Ärger als Nutzen mit dir hat.« Er drehte sich um und während er ging, rief er Jakob zu: »Ich wusste zwar, dass du kleine Mädchen beschäftigst, aber vielleicht hat dir der Rum und das Kraut, das du immer rauchst, so den Verstand vernebelt, dass du nicht mehr weißt, was du tust.« Dann stellte er sein Glas auf einen Tisch und fügte hinzu: »Es ist traurig, was aus dir geworden ist, Jakob.«

    »Wenn du hier nur rumpöbeln willst, verschwinde einfach!«, rief Jakob ihm nach und stapfte wütend in die hinteren Räumlichkeiten während der Mann die Meermaid verließ. Toni stellte mir ein Glas mit Saft hin. »Er hat keine Ahnung Mary, wir alle wissen, das du unschlagbar bist«, sagte er mit einer tröstenden Stimme und zwinkerte mir zu.

    Ich ließ das Glas stehen, setze mich wieder auf die Treppe und nahm das Messer und das Stück Holz in die Hand. Ich war gekränkt und wütend. Was weiß der denn schon?, sagte ich mir, während ich wütend auf das Holz ein stocherte.

    Als ich da saß und vor mich hin schmollte, bemerkte ich, wie Jakob sich neben mich stellte und mir eine Weile zusah. »Mary! Vergiss den Kerl. Wenn er meint, woanders jemanden Besseren zu finden, soll er doch dort sein Glück versuchen. Er wird schon sehen, was er davon hat.« Er setzte sich neben mich auf die Treppe und sagte leise: »Du musst was für mich erledigen. Springt auch was für dich raus und wir können diesem rausgeputzten Dummkopf einen Denkzettel verpassen.«

    Okay, das war neu. Normalerweise sprach Jakob nicht so mit mir und ich blickte interessiert auf.

    »Da gibt es einen Lederumschlag in der Schreibstube des Gouverneurs …«, er überlegte kurz, bevor er weiterredete. »Ich denke, wenn wir ihn zuerst beschaffen könnten …«, er machte eine weitere Denkpause, »Dann wird er nicht mehr an mir zweifeln und schon gar nicht an meinen Mitarbeitern.« Während er seine Augen zusammenkniff, murmelte er: »Das wird ihm noch teuer zu stehen kommen, dass er es gewagt hat, mich in meinem eigenen Haus derartig zu beleidigen« und sah mich an. »Was meinst du, schaffst du das, Mädchen?«

    Ich grinste und nickte eifrig, nichts würde ich lieber tun.

    Jakob schaute mich zufrieden an. »Du verdammtes Gör.« Er lachte, stand auf und ging. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, drehte sich noch mal um und sagte: »Geh zu Toni und lass dir was zu trinken geben und dann beweisen wir dem Kerl, dass ich mich nicht geirrt habe und mein Vertrauen in dich gerechtfertigt ist.«

    3. Kapitel Niclas

    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Mary wie so oft bereits verschwunden. Ich schaute, was sie mir von meinem Essen übrig gelassen hatte, frühstückte und machte mich dann auf den Weg Richtung Hafen zu Blackeyes Hütte. Auch wenn ich etwas unsicher war, was ich für den alten Mann tun sollte, war ich dennoch neugierig. Ich klopfte an die Tür und wartete. Von innen hörte ich ein Grummeln, dann öffnete sie sich.

    Blackeye sah mich an. »Da bist du ja. Dann kannst du den Schaden ja abarbeiten, den du gestern hier angerichtet hast.«

    Ich schaute ihn etwas verwundert an, weil ich mir sicher war, keinen Schaden verursacht zu haben. »Ich habe doch gar nichts kaputtgemacht, Sir«, stammelte ich, da ich mir sicher war, dass die Tür beim Öffnen heil geblieben war.

    Blackeye sah auf. »Hast du gestern meine Tür aufgebrochen, oder nicht?«

    »Ja, Sir, aber …«

    »Dann sei still. Such die Netze zusammen und mach das Boot klar, das draußen am Kai liegt.«

    Ich schaute mich in der Hütte um, konnte aber nichts finden, das wie ein Fischernetz aussah. Dann ging ich nach draußen, um dort nach dem Boot zu sehen. Vielleicht lagen die Netze ja bereits darin. Aber abgesehen von einem alten Wrack, das halb im Wasser lag, konnte ich nur die Boote der anderen Fischer entdecken.

    Nachdem ich auch hinter seiner Hütte gesucht und nichts gefunden hatte, ging ich wieder hinein und sagte unsicher: »Ich kann keine Netze finden und im Wasser liegt nur ein altes Wrack.«

    Blackeye schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und lachte rau. »Tja, wenn du kein Netz finden kannst, dann musst du wohl eins knüpfen.« Er stand auf, ging zu einer Truhe und holte mehrere Rollen Weidenbastgarn heraus, die er vor mich auf den Tisch legte. »Bis heute Abend will ich ein Netz zum Fischen hier haben«, sagte Blackeye und ging.

    Verunsichert fing ich an, das Garn zu einem Netz zu knüpfen, aber schon bald merkte ich, dass ich auf diese Weise nie bis heute Abend fertig werden würde, wenn überhaupt. Warum mache ich das eigentlich, fragte ich mich und legte das unfertige Netz zur Seite. Ich stand auf und wollte grade gehen. Da fiel mein Blick wieder auf das schwarze Tuch in der Ecke. Ich ging hin und schaute es mir genauer an. »Verdammt!«, rief ich erschrocken, als ich die Flagge der Queen Anne’s Revenge, dem Piratenschiff von Blackbeard, in den Händen hielt. Langsam blickte ich mich erneut im Raum um. Ich legte die Flagge zurück an ihren Platz, setze mich auf einen Stuhl und dachte nach. John hatte immer erzählt, er wäre früher mit Blackbeard gesegelt, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihm kein Wort davon geglaubt. Ich ging zurück zum Tisch, schaute auf meine unfertige und nicht grade saubere Arbeit und gelangte zu dem Schluss, dass es einfacher wäre, sich irgendwo ein fertiges Netz zu besorgen. Also packte ich meine Sachen zusammen und verließ die Hütte, vielleicht konnte mir ja Mary dabei helfen, ein Fischernetz aufzutreiben. Während ich am Hafen entlang lief, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht doch mehr Zeit mit dem alten, knurrigen Mann verbringen sollte.

    Als ich das Bordell erreichte, in dem Mary und meine Mutter wohnten, war man gerade dabei, die Schäden des gestrigen Abends zu beseitigen. Ich ging durch die Tür und sah das Durcheinander im Schankraum, trotzdem herrschte eine ausgelassene Stimmung. Scheinbar hatte sich der Abend für Jakob finanziell gelohnt, trotz der Schlägerei, die einen erheblichen Schaden am Mobiliar hinterlassen hatte.

    »Hast du Mary gesehen?«, fragte ich Toni. Er war quasi die rechte Hand von Jakob und kümmerte sich um alles, was in der Meermaid so anfiel.

    »Nee. Oder doch warte, sie ist oben mit diesem Gauner Eddy the Broom«, sagte Toni belustigt, indem er the Broom besonders ausladend betonte.

    Ich mochte Eddy nicht. Eddy the Broom, wie er sich nannte, war einer von Marys Freunden, der ihr Dinge beibrachte, die kleine Mädchen eigentlich nicht wissen sollten. Er war einer der Taschenspieler-Jungs von Falmouth. Eine Bande von kleinen Dieben und Gaunern. Aber wirklich gefährlich waren die nicht und immer noch ein besserer Umgang als der Menschenschlag, der sich sonst in der Feinen Meermaid herumtrieb.

    Ich ging die Treppe hinauf, die zu den privaten Zimmern der Frauen führte. Erstaunlicherweise war in den oberen Stockwerken nichts von der nächtlichen Verwüstung zu sehen. Ich öffnete eine Tür und sah, wie Eddy Mary grade zeigte, wie man eine Münze zwischen den Fingern verschwinden lassen konnte, um sie gegen ein wertloses Stück Metall auszutauschen.

    »Niclas!«, zwitscherte Mary, als ich den Raum betrat. Sie stürmte auf mich zu und umarmte mich zur Begrüßung. »Tut mir leid, dass ich so früh weg bin, aber ich wollte zurück sein, bevor hier das große Aufräumen losgeht und man noch die guten Sachen findet.« Sie nahm mich an die Hand und zog mich ans Bett, auf dem mehrere Dinge lagen. Einige Goldzähne, ein Ring, die Uhr, die sie mir gestern bereits gezeigt hatte, ein Messer und ein Beutel mit Pistolenkugeln. »Fette Beute«, grinste sie.

    »Na ja, wenigstens hast du das Zeug nicht geklaut«, witzelte ich.

    »Nee, dann wäre das mehr«, lachte Mary. »Was machst du hier?«, fragte sie mich, während sie das Beutegut verstaute.

    »Eddy, kannst du bitte rausgehen, ich möchte alleine mit meiner Schwester reden.«

    Er schaute meine Schwester an und antwortete trotzig: »Mary und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Kannst dich schon mal dran gewöhnen!«

    Mary blickte Eddy überrascht an. »Wovon redest du? Ich habe einen Haufen Geheimnisse vor dir!« Ich musste lachen als ich sein beleidigtes Gesicht sah.

    »Eddy, geh bitte. Wenn Niclas mit mir alleine reden will, wird das seinen Grund haben.« Eingeschnappt packte Eddy seine Sachen und ging zur Tür. »Eddy, die Münze!«, sagte Mary tadelnd, während sie ihn mit einem Blick ansah, der keine Widerworte zuließ.

    »Einen Versuch wars wert.« Er schnipste die Münze in ihre Richtung und verschwand durch die Tür.

    Mary setze sich aufs Bett und sah mich erwartungsvoll an. »So, was gibt es denn so wichtiges?«

    Ich erzählte ihr von den Aufgaben, die Blackeye mir stellte, wie ich die Flagge gefunden hatte und natürlich von meinem erbärmlichen Versuch, ein Netz zu knüpfen.

    Mary lachte laut auf. »Ist mir klar, dass du bis heute Abend kein Netz knüpfen kannst.« Sie sprang auf und rannte aus dem Zimmer, um ein paar Augenblicke später mit einem Fischernetz wieder zurückzukehren. »Hier!« Sie warf mir das Netz zu. »Ich will wissen, wie es weiter geht«, sagte sie amüsiert. »Und, wenn er wirklich mal etwas mit Blackbeard zu tun hatte,« Mary überlegte kurz, »ist das doch ein Grund, mehr herauszufinden. Ach übrigens«, Marys Miene verdüsterte sich. »John war gestern auch hier.«

    »Was ist passiert?«

    »Na ja, er hat dich gesucht und geschrien, du hättest ihn bestohlen oder so was. Aber ich konnte nicht wirklich verstehen, was er da genau gebrüllt hat. War ja auch ziemlich laut hier. Ende vom Lied, er war bei Mum und …«, sie schaute traurig aus dem Fenster bevor sie weiter redete, »… muss wohl übel gewesen sein. Jakob und Toni sind dann rein und haben John rausgeworfen und haben mich nicht zu ihr gelassen.« In ihren Augen sammelten sich Tränen. »Ich frage mich, warum ihn keiner aufhält. Scheinbar kann er machen, was er will, mit wem er es will, und wann er es will.«

    Ich nahm Mary in den Arm und versuchte sie zu trösten. »Wie geht es Mum?«, fragte ich sie schließlich.

    Sie wischte sich die Tränen ab, stand auf und wühlte in einer Kiste. »Keine Ahnung, hab sie heute Morgen nur kurz gesehen. Aber sie sah schlimm aus.«

    Wut kochte in mir hoch. »Irgendwann, Mary. Irgendwann wird er bezahlen!« Sie nickte und in ihrem Blick spiegelte sich eine Entschlossenheit wider, die mir einen kalten Schauer über den Rücken trieb. »Kommst du heute wieder zum Leuchtturm?«, frage ich sie.

    »Nein, ich werde lieber in Mums Nähe bleiben.« Ich nickte, steckte das Netz in meine Tasche und nahm sie zum Abschied in den Arm.

    Auf dem Weg die Treppe hinunter, steuerte ich die Zimmer an, in denen die Frauen ihre Freier empfingen. Toni, der grade dabei war, die zerschlagenen Tische wieder zu richten, blickte auf. »Hey, kleiner Pirat.« So nannte er mich häufig. »Geh da besser nicht rein. Komm besser morgen wieder.« Er überlegte kurz und sah mich mit einem traurigen Blick an. »Heute braucht eure Mutter Ruhe.« Ich nickte kurz und machte mich auf den Weg Richtung Hafen.

    Als ich wieder in Blackeyes Behausung angekommen war, legte ich das Netz, das mir Mary gegeben hatte, auf den Tisch, steckte die Garnrollen in meine Tasche sowie meinen kläglichen Versuch, selbst ein Netz zu knüpfen, dann setzte ich mich auf den Stuhl und wartete. Die Zeit verging, aber Blackeye ließ sich nicht blicken. Ich stand auf und sah mich noch einmal in der kleinen Hütte um. Neben dem Bett stand eine große Seekiste, die meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. John hat auch so eine, dachte ich. Ich setzte mich vor die Kiste auf den Boden und öffnete sie langsam. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, aber ein Gefühl von Enttäuschung breitete sich in mir aus, als ich nur einen Haufen Papiere, Seekarten, einen alten Hut und anderen Kleinkram erblickte. Ich wollte die Kiste gerade wieder schließen, da fiel mein Blick in den Deckel, in den mit großen Buchstaben der Name Edward Teach eingeritzt war. War das der richtige Name von Blackeye? Ich schloss die Kiste, setze mich wieder auf den Stuhl und wartete darauf, das Blackeye zurückkehrte.

    Es dauerte auch gar nicht lange, bis der alte Mann durch die Tür stapfte und mich prüfend ansah.

    »Bist du fertig geworden?« Ich nickte und reichte ihm das Netz, das mir Mary gegeben hatte. »Hast du das Netz selber gemacht?«, fragte Blackeye mich und sah mich mit einem Blick an, den ich wie immer nicht deuten konnte. Ich war mir unsicher, wie ich auf die Frage antworten sollte.

    Ich schüttelte den Kopf und stotterte: »Ähm, ich also, na ja, Sir, Ihr habt nicht ausdrücklich gesagt, dass ich das Netz selber machen soll, lediglich, dass Ihr heute Abend ein Netz haben wollt, mit dem man fischen kann.« Ich deute auf das Netz, das er in seinen Händen hielt. »Das ist ein Netz und ich habe es mir angeschaut, es ist gut. Ich bin mir sicher, dass man damit fischen kann.«

    Blackeye lachte lauthals los, als ich mit meinem Gestammel fertig war. »Recht so Junge, recht so. Dann geh heim und komm morgen wieder. Ich denke, du kannst ganz brauchbar sein.«

    Mit gesenktem Kopf und ratlos, wie er das jetzt wieder gemeint hatte, verließ ich die Hütte. Von außen hörte ich Blackeye lachen und verstand nicht ganz warum. Was ist daran so lustig, fragte ich mich.

    Auf dem Weg nach Hause machte ich einen Bogen über den Marktplatz, wo sich die Taschenspieler für gewöhnlich herumtrieben. Ich hoffte, Mary zu begegnen, aber niemand aus der Bande war zu sehen, nicht mal Eddy. Also schlug ich wieder den direkten Heimweg ein, doch je näher ich unserer Behausung kam, desto mehr Widerstand verspürte ich weiterzugehen. Ich bin jetzt zwei Tage nicht zu Hause gewesen. Nicht, dass das jemanden störte. Im Gegenteil, Johns Frau konnte gar nicht oft genug erwähnen, wie sehr sie mich verabscheute und ich nur der Bastard einer Hure sei. Doch es war immer ein willkommener Grund, wenn ich mich mehrere Tage nicht habe blicken lassen, ihre Frustration und ihren Hass auf John an mir auszulassen. Ich war gespannt, was es heute war, mit dem sie auf mich einschlagen würde. Der Gürtel, ein Seil? Irgendwas fiel Annabell immer ein. Meine einzige Chance, der anstehenden Prügel zu entkommen, war, eine Flasche Rum mitzubringen und zu hoffen, dass John daheim war. Ich ging also zu Marys und meinem Versteck, in dem wir für genau solche Situationen einen kleinen Vorrat angelegt hatten. Ich schnappte mir eine Flasche und ging die Straße runter. Es war spät und meine Hoffnung wurde erfüllt. Man hörte John schon aus einiger Entfernung. Dieses Geschrei war einzigartig und ich versuchte herauszubekommen, um was es dieses Mal ging, da öffnete sich die Tür und John stand vor mir und schaute mich überrascht an. Noch bevor er was sagen konnte, hielt ich ihm die Flasche Rum hin und sagte: »Hallo Vater, schau, was ich heute im Hafenbecken gefunden habe. Ich dachte, bei dir ist sie besser aufgehoben als im Wasser.« Ich versuchte zu lächeln, aber ich hatte Angst, dass John sich die Flasche schnappte und sie mir über den Kopf zog. Doch er stand nur da und überlegte, dann packte er mich an der Schulter und drückte mich durch den Eingang. »Annabell!«, brüllte er. »Hier! Hier ist der Beweis, dass ich und meine Nachkommenschaft, wie du es nennst, nützlich sind. Hier!« Er winkte mit der Flasche in der Luft herum, während er sich am Türrahmen festhielt. »Niclas, der denk an mich«, lallte er. »Steckt sich nicht selber alles ein. Nein, er denkt an seinen alten Herrn.«

    Jetzt wusste ich, worum es ging. Wahrscheinlich hatte Annabell es mal wieder gewagt zu fragen, ob er Geld verdient hatte. Ich versuchte ihr aus dem Weg zu gehen, als ich mich kleinlaut zu meinem Nachtlager schlich. John setzte sich in den Stuhl vor dem Kamin, trank direkt aus der Flasche, die ich ihm mitgebracht hatte, und starrte ausdruckslos ins Feuer.

    Manchmal saß er so die ganze Nacht da. An manchen Abenden stand er auf, ging zu seiner alten Seekiste und holte etwas heraus, setze sich wieder in den Stuhl und starrte wieder in die Flammen. Das waren die seltenen Momente, in denen ich fast Mitleid mit John hatte. Er hatte nie von seiner Vergangenheit geredet, abgesehen von den Prahlereien und Geschichten über sein wildes Piratenleben mit Blackbeard. Ich musste wieder lächeln, da ich mir John weiß Gott nicht als einen gefährlichen Piraten vorstellen konnte.

    Damals glaubte ich, er sei ein trauriger und gebrochener Mann, der durch den vielen Rum letztlich den Verstand verloren hatte.

    Aber zu diesem Zeitpunkt machte ich mir noch keine Gedanken darüber, warum das geschehen ist. Allerdings entschuldigte das nicht die Dinge, die er tat und schon löste der Hass auf John das Mitleid wieder ab. Er war ein gewalttätiges, unbeherrschtes Monster. Eine Bombe, bei der man nie wusste, wann sie losging. Ich dachte daran, was Mary mir erzählt hatte und an die unzähligen Demütigungen und Schläge, die er uns im Laufe der Zeit zukommen ließ.

    Annabell ging zur Kochstelle, um die Essensreste vom Feuer zunehmen. Als sie mit dem heißen Eisentopf an John vorbeikam, schwappte etwas vom Inhalt auf Johns Beine. Er sprang auf und schrie: »Pass doch auf, du nutzloses Weib!« Ich wusste, wie es jetzt weiter gehen würde. John würde einen Wutanfall bekommen und alles zerschlagen oder verprügeln, was sich in seiner Nähe befand. Also packte ich mir schnell meinen Mantel und sprang durch das kleine Fenster über meinem Bett. Bravo, wieder eine Nacht in der Kälte. Aber besser als in Johns Reichweite zu bleiben. Soll Annabell es doch abbekommen, dachte ich und machte mich auf den Weg in Richtung Feine Meermaid.

    Dort angekommen, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, dass alle Türen und Fensterläden fest verschlossen waren. Kein Licht, kein Lachen betrunkener Seefahrer.

    Merkwürdig! Normalerweise sollte hier doch richtig was los sein, dachte ich mir. In diesem Moment fiel mir auch auf, dass die ganze Straße verdächtig still war. Niemand war unterwegs und die Tavernen hatten geschlossen, auch die Lampen der Straßenbeleuchtung waren nur in unregelmäßigen Abständen angezündet worden. Komisch, so schlecht ist das Wetter doch gar nicht und so spät kann es auch noch nicht sein.

    Ich ging zum Hafen und je näher ich kam, desto mehr Menschen waren auch wieder auf den Straßen unterwegs.

    Als ich in die Gasse einbog, die direkt zum Haupthafenbecken führte, sah ich auch, warum die ganze Stadt sich versteckt hatte und alles dunkel war. Zwei Kriegsschiffe der Royal Navy lagen bei uns vor Anker. Am Kai sah man das übliche Spektakel, wenn so große Schiffe anlegten. Der Ablauf war immer der gleiche. Bei großen Handelsschiffen war jeder am Hafen, um sich sein Stück vom Kuchen abzuholen. Bei Kriegsschiffen war es etwas anders, da verschwand jeder, der einer eher fragwürdigen Beschäftigung nachging und versteckte sich, alle anderen hofften auf Arbeit. Ich ging ein Stück weiter und wen entdeckte ich auf einer Terrasse, von der man das nächtliche Treiben gut beobachten konnte? Natürlich, wen auch sonst, Mary!

    Bevor ich etwas sagen konnte, strahlten mich schon ihre leuchtend blauen Augen an. Sie hatte ihre Kapuze vom Kopf gezogen, sodass ihre hellen, langen Haare wie ein Fluss aus Licht über ihre Schultern fielen. »Niclas! Komm her, schau dir das an.«

    Ich setzte mich neben meine kleine Schwester und schaute in die Richtung, in die sie zeigte. Eine Reihe von Menschen und Lasttieren zogen zahlreiche Kanonen zur Anlegestelle.

    »Weißt du, was die da manchen?«, fragte mich Mary neugierig.

    »Keine Ahnung, sieht so aus, als ob sie Kanonen auf die Schiffe verladen.«

    »Und warum? Die haben doch schon welche auf ihren Schiffen.«

    »Das weiß ich auch nicht.«

    Mary lachte vergnügt. »Du hättest dabei sein sollen, als die hier ankamen. Die halbe Stadt ist wahrscheinlich in den Hügeln. Jakob und Toni haben sofort alle rausgeworfen und alles verrammelt. Voll die Angsthasen«, kicherte Mary.

    »Na ja, hast du dir mal überlegt, wer sich bei euch so herumtreibt und zu Gast ist? Da wäre ich auch vorsichtig.«

    »Ach …«, Mary machte ein verächtliches Gesicht. »Mit zu viel Vorsicht erlebt man doch nichts«, und sah wieder sehnsüchtig zu den beiden Kriegsschiffen.

    »Aber man lebt länger«, merkte ich an.

    »Irgendwann Niclas, da haben wir auch so eins und Segeln über das Meer. Raus aus diesem Loch«, flüsterte sie und kuschelte sich in meinen Mantel.

    Ich legte meinen Arm um sie, küsste ihren Kopf und sagte: »Es ist egal, was wir für ein Schiff haben. Hauptsache, wir kommen hier weg.«

    Mary lächelte und legte ihren Kopf an meine Schulter. »Niclas?«

    »Ja?«

    »Bitte versprich mir, dass wir uns niemals trennen und immer beieinanderbleiben.«

    Ich schaute aufs Meer und antwortete: »Mary, das kann ich dir leider nicht versprechen, aber ich schwöre dir, bei allem was mir heilig ist, sollten wir aus irgendeinem Grund getrennt werden, werde ich alles tun, um dich wiederzufinden. Es würde keinen Platz auf dieser Welt geben, wo ich dich nicht suchen würde.«

    Mary drückte sich noch fester an mich. »Wehe, wenn nicht!«, und blitze mich frech mit ihren blauen Augen an.

    »Kann ich heute Nacht bei euch schlafen?«

    Mary sprang auf und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. »Natürlich, das weißt du doch.«

    »Und was ist mit Jakob?«, fragte ich etwas unsicher.

    »Ach, das ist kein Problem, solange die Navy hier rumläuft, lässt er sich in der Meermaid sowieso nicht blicken. Der traut sich doch eh erst wieder in die Stadt, wenn die Schiffe weg sind.«

    Eigentlich mochte Jakob es nicht, wenn ich über Nacht bei meiner Mutter und Mary blieb. Ich würde Mum und sie von der Arbeit abhalten, sagte er dann immer, und auf einer gewissen Weise hatte er auch nicht ganz unrecht damit, denn wenn wir drei einmal die seltene Gelegenheit hatten, zusammen zu sein, wurde das auch ausgenutzt. Mum war eine liebevolle Mutter, sie kochte dann und verwöhnte uns mit so viel Liebe, wie es einer Mutter nur möglich war.

    Als wir die Feine Meermaid erreichten, nahmen wir die Tür hinter den Ställen. Das war so eine Art Personaleingang und ein Ausgang für diejenigen, die schnell und ungesehen das Bordell verlassen mussten. Es war dunkel hier und ständig stolperte ich über irgendwelche Dinge.

    »Mensch Niclas«, sagte Mary genervt, als ich über eine Kiste mit Dosen stolperte, die daraufhin mit lautem Geschepper auf den Boden fielen. »Musst du so einen Krach machen.« Es war immer wieder beeindruckend, wie Mary es schaffte, in absoluter Dunkelheit alles zu erkennen. »Ich verstehe nicht, wie du immer über alles fällst, sobald das Licht aus ist. Das machst du doch mit Absicht«, spottete sie.

    »Mary!«, schimpfte ich. »Es ist stockdunkel, ich kann ja nicht mal meine Hand vor Augen erkennen.«

    »Jetzt stell dich nicht so an, so dunkel ist es auch wieder nicht. Ich kann ja auch alles sehen.« Angeberin, dachte ich bei mir. Wir schlichen weiter durch den Schankraum, die Treppe hinauf und öffneten die Tür zu dem Zimmer, in dem Mum und Mary wohnten. Mum lag auf dem Bett und schlief. Sie sah wirklich schlimm aus. John hatte sich dieses Mal wirklich Mühe gegeben, dachte ich hasserfüllt.

    »Mum«, flüsterte Mary, »Schau mal, wer hier ist.«

    Sie öffnete leicht die Augen und sah mich an. Diese Augen, tief und blau wie das Meer. Nur tausendmal schöner. »Niclas!«, flüsterte sie und streckte ihre Hand aus. »Ist das schön, dass du hier bist.« Mum versuchte sich aufzurichten, aber ich drückte sie wieder sanft zurück.

    »Mum, bleib liegen, ruh dich aus, dir geht es doch nicht gut«, und griff vorsichtig nach ihrer Hand.

    »Ach es geht schon wieder, so schlimm ist es nicht mehr.« Ich reichte ihr einen Krug mit Wasser und während sie trank, kam es mir vor, als ob ihre Augen anfangen würden, auf eine eigenartige Art zu glänzen und zu leuchten. Ich glaubte auch zu sehen, wie die Schwellungen in ihrem Gesicht leicht zurückgingen.

    »Was ist passiert?«, fragte ich sie.

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