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das Fahrrad der ewigen Stille
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eBook341 Seiten4 Stunden

das Fahrrad der ewigen Stille

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Über dieses E-Book

Ein junger Mann, der seine Phantasien auslebt, der tötet, um das absolute Machtgefühl zu erreichen, der tötet, um nicht verraten zu werden ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Juli 2020
ISBN9783734520532
das Fahrrad der ewigen Stille

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    Buchvorschau

    das Fahrrad der ewigen Stille - hedda fischer

    1 – Vorspann

    Hauptkommissar Winter betrachtete den jungen Mann, der ihm - durch einen Tisch getrennt - gegenüber saß. Er seufzte innerlich.

    Es ist immer wieder dasselbe, dachte er, ein halbwegs vernachlässigtes Kind, ein Jugendlicher, der mit der Schule und überhaupt mit dem Leben nicht zurecht kommt, sich in eine Traumwelt begibt, sich weiß Gott was einbildet, Macht-Phantasien entwickelt und sie letztendlich sogar auslebt …

    Nur wenige konnten sich aus dieser Spirale befreien. Zu oft hatte er das in seinen langen Dienstjahren miterlebt, es war nachgerade langweilig. Und er hatte keine Lust, mit dem jungen Mann zu diskutieren, sich dessen angeblich gute Beweggründe anzuhören, sich dessen Leben erklären zu lassen. Schon gar nicht zu dieser unchristlichen Zeit.

    Am liebsten hätte er jetzt in einem bequemen Sessel gesessen, zurückgelehnt, richtig guten alten Whisky getrunken und eine Zigarre geraucht. Und Clara auf dem dunkelblauen Kissen zu seinen Füßen, nackt, zwischen seinen Beinen an ein Knie gelehnt, so dass er bequem ihren Nacken, ihre Haare oder ihre Brüste streicheln könnte …

    Es war inzwischen fast drei Uhr morgens. Sie hatten den jungen Mann vor einer guten halben Stunde gefasst, nach wochenlangen Ermittlungen. Kollege Zufall hatte geholfen, wie so oft. Winter holte seine Gedanken zum Wesentlichen zurück. Die Befragung. Heißer Tee wurde gebracht. Der Recorder wurde angestellt. Winter straffte sich.

    2 – Benjamin ( 11 Jahre )

    Er lehnte halb verdeckt hinter einem Strauch am Zaun und beobachtete die Haustür. Seine Mutter war in der Wohnung, das wusste er, er sah schließlich das Licht, aber sie war vermutlich nicht allein, das wusste er aber nicht mit Sicherheit. Was er mit Sicherheit wusste, war, dass sie demnächst das Haus verlassen müsste, da die Putzkolonne, in der sie momentan arbeitete, Abendschicht hatte. Das hieß: von 18 bis 24 Uhr Büros putzen. Einen anderen Job hatte sie nicht. Schon seit Jahren nicht. Er fragte sich schon gar nicht mehr warum.

    Nach einer guten Viertelstunde ging das Licht im Treppenhaus an. Es war um diese Zeit – gegen 17 Uhr – noch recht hell, aber das Treppenhaus war durch die halbhoch mittelgrau gestrichenen Wände immer düster. Unebene Ölfarbe. Die hellen Wände darüber oft mit Graffiti verschönert, auch mit seinen, wenn er denn Geld für einen dicken schwarzen Marker ausgeben konnte. Er schlenderte zur Haustür. Als er sie erreicht hatte, öffnete sie sich, und seine Mutter trat zusammen mit einem Mann aus dem Haus. Er tat so, als ob er gerade eben von der Nachmittagsbetreuung heimgekommen wäre. Dabei war er schon seit Wochen nicht mehr hingegangen.

    Seine Mutter begrüßte ihn erfreut. Küsste ihn auf die Wange und strubbelte sein Haar. Das war ein gutes Zeichen, denn das hieß, dass der Mann an ihrer Seite sie gut behandelt hatte. Er kannte ihn nicht. Unsympathisch war er ihm auf jeden Fall. Unsympathisch waren ihm alle, die seine Mutter mitbrachte. Ganz egal, ob ihn einer freundlich ansprach, ihm Geld schenkte, ihn wie einen Erwachsenen behandelte. Er konnte keinen gebrauchen, er wollte seine Mutter für sich. Sie hatten immer zusammen gelebt, waren eine Einheit. Den echten Vater hatte er nicht zu Gesicht bekommen, besser gesagt, er erinnerte sich überhaupt nicht.

    Er fühlte sich mit seinen elf Jahren alt genug, um auf seine Mutter aufzupassen, sie zu beschützen, sie zu ernähren. Was natürlich Unsinn war. Das war ihm auch irgendwie bewusst, drang aber nicht so recht bis zu seinem Gehirn vor. Die meiste Zeit fühlte er sich durchaus imstande, die Schule zu schmeißen, einen Job als Aushilfe in einem Geschäft, als Zeitungsausträger, als Gehilfe auf dem Markt zu erledigen und damit Geld zu verdienen. Er war zwar nur mittelgroß, aber kräftig.

    Einer der zahlreichen Freunde seiner Mutter hatte ihn einmal wegen einer angeblich frechen Bemerkung geohrfeigt, und er hatte sich nicht wehren können. Daraufhin hatte er beschlossen, seine Muskeln zu trainieren. Heimlich hatte er im Keller die schweren Holzklötze eines Nachbarn gestemmt. Zwanzigmal, fünfzigmal hintereinander. Eines Tages hatte der Nachbar ihn dabei beobachtet und ihm Tipps gegeben, wie er richtig stehen, richtig die Arme bewegen und auch die Beine einsetzen musste. Zwar lief ihm nach kurzer Zeit der Schweiß herunter, und der Muskelkater wollte gar nicht mehr aufhören. Aber dann – nach rund drei Wochen – bemerkte er Fortschritte. Die Klötze schienen leichter zu werden, Arme und Beine schmerzten nicht mehr so sehr. Muskeln hatten sich noch nicht gebildet, aber wenn er seine Oberarme befühlte, schienen sie härter geworden zu sein.

    Er übte auf dem Schulhof den ’knallharten Blick’ – wie Jackie Chan in den Kung-Fu-Filmen -, um die anderen in Schach zu halten. Die anderen, das waren die Jungs aus seiner Klasse, die ihn wegen seines Namens hänselten. Er hörte die höhnischen Stimmen jeden Tag.

    Sie waren nicht unbedingt größer oder stärker als er, hatten aber mehr Selbstbewusstsein, besaßen die richtigen Sachen, Handys, gute Turnschuhe, coole Klamotten. Das alles hatte er nicht. Was daran lag, dass seine Mutter zeitweise gar nichts und wenn, dann nur wenig verdiente. Irgendwie ungerecht war das schon. Aber ändern konnte er es nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht.

    Seine Mutter hängte sich bei dem Mann ein, sagte im Vorbeigehen, er solle brav sein und zu Hause bleiben, und dann machten sich die beiden auf den Weg. Sie drehte sich nicht mal um. Natürlich blieb er zu Hause.

    Was sollte er denn sonst tun?

    Taschengeld bekam er nur wenig, und diesen Monat hatte er ohnehin schon fast alles ausgegeben. In seiner Hosentasche befanden sich noch ein Euro fünfzig. Aber damit konnte er nicht ins Kino gehen - allein war das sowieso langweilig -, sich keine Bratwurst kaufen, es reichte allenfalls für eine Tüte Chips zu 99 Cent. Dann blieben ihm noch 51 Cent für morgen. Oder er kaufte sich jetzt Kaugummi, und damit wäre das ganze Geld weg. Er ärgerte sich, dass er gestern für 2,49 Kuchen vom Vortag gekauft hatte. Die Hälfte hätte es auch getan.

    Langsam stieg er die Treppe hoch bis zum fünften Stock. Er nahm nie den Aufzug, weil er das Treppensteigen gut für seine Kondition hielt. Abgesehen davon, man wusste nicht, wer sich mit in den Aufzug drängte. Wenn er Pech hatte, stiegen die Zwillinge aus dem dritten Stock ein, hielten ihn fest und durchsuchten seine Taschen nach Brauchbarem. Sie waren drei Jahre älter und größer als er. Gegen sie kam er nicht an. Wenn er ihnen auf der Treppe begegnete – was eher selten vorkam – hatte er gute Chancen zu entkommen, denn er war schnell. Wenn er nach oben rannte, drückte er im Vorbeilaufen auf sämtliche Klingelknöpfe, so dass die Leute die Köpfe aus den Türen steckten, sich beschwerten, und die Zwillinge aufgaben. Wenn er nach unten rannte, war er blitzschnell aus der Haustür und in einer der anliegenden Straßen verschwunden. Die Zwillinge machten sich nie die Mühe, ihn ernsthaft zu verfolgen. Sie wussten nur zu gut, dass er ihnen wieder einmal über den Weg laufen würde.

    Auch konnte es sein, dass andere Hausbewohner im Aufzug einen prüfenden Blick auf ihn warfen und lauthals über seine Mutter sprachen ( als ob er gar nicht vorhanden wäre ). Und sie sprachen nichts Gutes. Es klang immer abfällig, obwohl er nicht so richtig einordnen konnte warum eigentlich. Er fühlte dann, dass er rot wurde, blickte zu Boden, und schwor sich, diesen Leuten eines Tages eine reinzuhauen, aber so richtig.

    Im Kühlschrank fand er Salami und Käse, schnitt sich einige Scheiben Brot ab, nahm alles mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Auf dem Tisch davor standen eine Flasche klarer Schnaps und zwei Gläser. An einem sah er Lippenstift. Er roch an dem Glas und ließ den winzigen Rest auf seine Zunge tropfen. Er schmeckte grässlich. Im Vorabendprogramm lief die „Lindenstraße". Von dieser Serie kannte er bereits alle Folgen, aber da er nichts Interessanteres fand, sah er erst einmal zu. Der gemütliche Abend konnte beginnen.

    Viertel nach zwölf war seine Mutter noch immer nicht nach Hause gekommen, und er fragte sich, ob sie mit zu dem Mann gegangen war. Eigentlich war er müde, aber es hatte noch einer der Filme angefangen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet waren ( wie es im Vorspann immer so schön hieß ), der ihn aber interessierte. Er zwang sich, die Augen offen zu halten, wenn Leute verprügelt oder gefoltert wurden und Blut floss. Auch wenn er manche Szenen nicht ansehen mochte, weil sie ihn erschreckten, zugegeben hätte er das nie. Danach konnte er mitunter nicht einschlafen oder er fand sich, mit eingeschlafenen Gliedern und verrenktem Nacken, um zwei Uhr morgens auf dem Sofa wieder und wusste gar nicht, wie der Film ausgegangen war.

    3 – Mutter Valentina

    Benjamin wurde in die Möwensee-Schule eingeschult. Sie lag nicht weit von ihrer damaligen Wohnung in der Otawistraße entfernt. Zu Fuß - sogar mit seinen kleinen Füssen und den kurzen Beinen - in fünfzehn Minuten zu erreichen. Er war ja eher ein kleines Kind, klein, aber stämmig. Er war voller Vorfreude an ihrer Hand dorthin getrabt. Und die ersten zwei-drei Jahre ließen sich auch gut an. Er war aufmerksam, kam gut mit. Doch irgendwann kam er mit den anderen Jungs nicht mehr zurecht. Warum, wusste sie nicht. Er wurde aggressiv und schlug um sich, wenn sie ihn ärgerten, und dann hänselten sie ihn noch mehr. Allein gegen mehrere konnte er sich nicht wehren. Einen richtigen Freund hatte er ab der dritten Klasse nicht mehr, da der einzige, Lars Meyer, mit seiner Familie in einen anderen Bezirk gezogen war. Vater Meyer, das war auch so einer, von einem Job in den nächsten. Aber diesmal schien es etwas Besseres zu sein. Denn sie zogen nach Wilmersdorf, eine recht feine Gegend, nicht so fein wie Zehlendorf oder Charlottenburg, aber zumindest feiner als Wedding. Und unendlich weit weg. Zumindest für kleine Jungen.

    Danach konnte sich Benjamin mit keinem anderen mehr anfreunden. Er wurde auch nicht zu Geburtstagen eingeladen. Kinder können sehr grausam sein.

    Mit Mädchen ging es besser. Mit denen konnte er reden und spielen. Und wenn sie ihn akzeptierten, machte es ihm nichts aus, dass die anderen Jungen ihn belächelten. Bei den Mädchen war er der Star, weil er mehr Kraft hatte, wenn es darum ging, einen Ball zu werfen, auf einen Baum zu klettern, ohne sich darum zu kümmern, ob die Kleidung verschmutzt oder zerrissen wurde, Papierkörbe umzuwerfen, ohne die Strafe zu fürchten beziehungsweise sie mit einem Achselzucken abzutun. Entsetzlich, wie er manchmal nach Hause kam ! Aber sie war froh, dass er überhaupt mit anderen unterwegs war.

    Er war ohnehin erwachsener als andere Kinder, weil er schon mit sechs-acht Jahren viel allein war ( sie ging ja immer arbeiten ), einkaufen gehen musste, einen eigenen Schlüssel besaß, sein Leben zum Teil selbst bestimmte. Sich auch erwachsen fühlte, wenn sie mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach. Er versuchte, es ihr recht zu machen, was nicht immer gelang. Sie wusste durchaus, dass er komplette Nachmittage vor dem Fernseher herumhing, anstatt seine Hausaufgaben zu erledigen, konnte allerdings nichts dagegen tun. Oder er vergaß, einkaufen zu gehen, obwohl sie ihm einen Einkaufszettel und Geld hingelegt hatte. Erst viel später erfuhr sie, dass er es nicht vergessen, sondern sich in die Wohnung geflüchtet hatte, wenn er von den Zwillingen verfolgt wurde und sich nicht wieder hinaus traute, aber nicht wagte, ihr das zu gestehen.

    Und sie schimpfte auch noch mit ihm. Er wollte nicht, dass sie sich einmischte. Das hätte ausgesehen, als ob er ein Muttersöhnchen wäre. Und das war er ganz sicher nicht.

    Natürlich berührte sie ihn, wenn sie ihn badete. Und das tat sie lange Zeit. Denn auch wenn er allein in die Wanne kletterte, freute er sich, wenn sie das Badezimmer betrat, ihn einseifte, überall. Ihr machte es Spaß und auch ihm schien es Spaß zu machen. Seine weiche Haut. Sein kleiner Penis, der sich erfreut aufrichtete.

    Im Großen und Ganzen kam er gut allein zurecht, würde sie sagen.

    Ihre Mutter war nicht dieser Ansicht. Man könne ein so kleines Kind nicht dauernd allein lassen, bekam sie oft zu hören. Aber er war gar nicht so viel allein. Allenfalls an den Abenden, an denen sie arbeiten gehen musste.

    Schulisch gesehen hatte er sich letztendlich doch angestrengt und war mit elf Jahren ins Lessing-Gymnasium gewechselt. Auch dort war er nicht der beliebteste. Woran es lag ? Das wusste sie nicht. Es war ja nicht der Fall, dass er unfreundlich zu den Klassenkameraden gewesen wäre, dass er nichts auslieh, dass er unsportlich war. Nein, er kam aus einer anderen Schicht, obwohl der Bezirk Wedding nicht gerade mit wohlhabenden Leuten gesegnet war. Aber er hatte weniger Taschengeld als die anderen. Das war aufgrund ihres Gehaltes so. Sie ließen es ihn spüren. Wobei durchaus unklar war, weshalb die anderen mehr Taschengeld hatten. Auch andere Eltern waren nicht gerade gut gestellt. Wurde da geklaut ? Heimlich Geld aus dem Portemonnaie der Mutter genommen ?

    So nach und nach passte er im Unterricht weniger auf, hörte nicht zu, begriff den Stoff nicht mehr. Sie merkte das erst viel später. Bei den wirklich guten Klassenkameraden nachzufragen traute er sich nicht. Einer wohnte in ihrer Straße, dieser Noah. Denn zu diesem Zeitpunkt waren sie schon in die Cambridger Straße umgezogen. Eigentlich hätten die beiden zusammen zur Schule und nach Hause gehen können. Aber das geschah selten. Sie gingen oft nur hintereinander her. Vielleicht lag es auch an Noahs Familie. War ja auch nicht das Wahre ! Der Vater kellnerte in dem Restaurant des Kaufhauses Wertheim in der Schlossstraße. Sechs Tage die Woche. Zumindest kam er abends nach Hause und musste nicht - wie andere - die halbe Nacht arbeiten und vielleicht noch mit Kollegen einen trinken gehen. Die Mutter ? Sie wusste es nicht.

    Sie sagte oft zu ihm

    »Nun lade doch mal einen von deinen neuen Klassenkameraden ein.«

    Darauf antwortete er gar nicht. Sie wusste nie warum.

    Das änderte sich eines Mittwochs ( sie stand gerade auf dem Balkon ), als die Zwillinge aus der dritten Etage Noah in die Zange nahmen und versuchten, ihm seinen Schulrucksack zu entreißen. Noah wehrte sich. Sie boxten ihn, und sie waren zu zweit. Benjamin sah es auch, zögerte nur einen winzigen Moment und rannte hinzu. Schlug auf einen der beiden ein, sie wusste nicht, ob es Moritz oder Kai war, sie konnte die beiden ohnehin nicht auseinanderhalten. War ja auch egal.

    Nach kurzer Zeit ließen die Jungen voneinander ab, keiner hatte gewonnen, aber die Angreifer hatten zumindest den Rucksack nicht entwenden können. Schwer atmend blieben sie stehen und sahen sich an. Die Zwillinge wechselten einen Blick, sagten im Weggehen zu Benjamin etwas. Später erzählte er, dass sie ihm gedroht hatten.

    »Pass auf, wenn wir dich allein erwischen …«

    Sie fragte nach, aber der Sohn winkte ab.

    Damit würde er schon fertig, sagte er.

    4 – Benjamin ( 12 Jahre )

    Noah und er wischten sich nach der Prügelei verlegen die Hände an den Jeans ab, räusperten sich und gingen schweigend die paar Schritte weiter bis zu dem Block, in dem Noah mit seiner Familie wohnte.

    »Komm mit ’rein«, sagte der kurz.

    Benjamin nickte und folgte ihm. Die Wegners wohnten in der ersten Etage, in der sich die größeren Wohnungen befanden. Auch Noah hatte einen eigenen Schlüssel. Er schloss auf und rief:

    »Ich bin da.«

    Eine alte Frau erschien in der Küchentür. Noah gab ihr einen Kuss auf die Wange. War das die Mutter ? Nein, es war die Oma. Er wurde kurz vorgestellt. Noah winkte ihn in sein Zimmer, ging dann in die Küche und holte zwei eiskalte Colas. Sie setzten sich, Noah auf das Bett, Benjamin auf den Schreibtischstuhl. Sie schwiegen einen Moment.

    »Kennst du die beiden ?«

    »Ja«, sagte Benjamin, »sie wohnen in meinem Block im dritten Stock. Ich sehe sie nicht so oft, sie gehen auf eine andere Schule, aber sie versuchen immer wieder, mich zu beklauen.«

    Ein Moment Pause. Dann setzte er hinzu:

    »Aber sie schaffen es nicht.«

    Das stimmte nicht ganz, aber er wollte nicht zugeben, dass er meist der Unterlegene war. Er hatte Kraft und konnte zuschlagen, aber gegen zwei kam er nicht an, schon gar nicht, wenn sie ihn unglücklicherweise in eine Haus- oder Park-Ecke gedrängt hatten.

    Von dem Tag an gingen sie ab und zu zusammen von der Schule bis in die Cambridger Straße. Für ihn fühlte es sich so an, als ob sie befreundet wären. Er trödelte oft herum, um auf Noah zu warten. Aber der unterhielt sich mit Klassenkameraden, zog Benjamin nicht mit ins Gespräch, ging einen anderen Weg oder spielte gleich nach der Schule beim BSC Rehberge Fußball. Der Club lag in der Afrikanischen Straße, nicht weit von Schule und Wohnung entfernt. Benjamin war einmal dorthin gegangen, hatte so getan, als wäre er zufällig vorbeigekommen und eigentlich hatte er mitspielen wollen. Der Trainer hatte gefragt, ob er Mitglied wäre und als er das verneinte, ob er Mitglied werden wolle … Er hatte die Schultern gehoben. Sich nicht getraut, nach der Beitragshöhe zu fragen. Getan, als ob es ihm egal wäre, ob er nun mitmachen durfte oder nicht. Dabei wünschte er es sich. Wünschte sich, irgendwo dazu zu gehören. Sich mit anderen auszutauschen. Freunde zu haben.

    Einen Sonnabendnachmittag waren Noah und Benjamin zum Olympia-Stadion gefahren. Das hatte sich eher zufällig ergeben, denn er hatte Taschengeld bekommen – diesmal reichlich, was damit zusammenhing, dass seine Mutter ihn aus dem Weg haben wollte, weil sie einen neuen Bekannten mitbringen wollte.

    Ihm war die Sache sofort klar gewesen. Denn diese Situation kannte er seit Jahren. Wenn seine Mutter freundlich und aufmerksam war, mit ihm neue Kleidung kaufen ging, sich überhaupt für ihn interessierte, dann stand ein neuer Mann ins Haus. Sie trank dann nicht viel, nur eben so viel, um bei Laune zu bleiben. Sie ging zum Friseur, um sich die Haare schneiden zu lassen. Sie kochte. Die Wohnung wurde geputzt. Sie tat alles, was richtige Mütter eben so tun.

    Er hatte im Vorübergehen auf Plakaten gelesen, dass das Olympia-Stadion einen Tag der Offenen Tür veranstaltete, an dem man sich alles ansehen konnte und an dem Sportvereine Informationstische aufstellen würden. Also waren Noah und er Sonnabendmittag zum Stadion gefahren. Man brauchte zwar noch eine Jacke, aber eine Jeansjacke reichte, die Sonne schien. Sie waren ausgezeichneter Stimmung, redeten laut, sogar Noah, der sonst eher der ruhige Typ war. Sie blödelten herum, lästerten über die Mitfahrenden in der U-Bahn, fühlten sich stark und unangreifbar.

    Die verschiedensten Vereine hatten Tische aufgestellt, Flyer ausgelegt, Landkarten aufgehängt, Vereinserfolge aufgelistet. Da gab alles: Fußball, Handball, Tischtennis, Radfahren, Tennis, Hockey, Basketball, Leichtathletik, sogar Voltigieren … einfach alles ! An jedem Stand waren Mitglieder, Trainer und junge Leute zugange, die Fragen beantworteten und neue Mitglieder anlocken wollten.

    Noah und Benjamin schlenderten herum. Tennis kam gar nicht in Frage, zu teuer. Und all diese feinen Clubs, da hätten sie gar nicht gewusst, wie sie sich benehmen sollten. Tischtennis ? Nein, dieses schnelle Hin- und Herspringen lag beiden nicht, hinzu kam, dass Benjamin Muskelmasse hatte und sich nicht schnell bewegte. Langsam war einfach cooler. Für Basketball waren beide zu klein. Hockey – egal ob Rasen- oder Eishockey – kam auch nicht so recht in Frage. Außerdem hatte er noch nie Schlittschuhe an den Füssen gehabt. Und bei Noah herrschte auch nicht so ein Wohlstand, dass er eine Beteiligung ins Auge gefasst hätte. Voltigieren ? Noah sah sich die Informationen genau an. Nein, für Benjamin war das nichts. Das machten nur kleine Mädchen.

    »Wo willst du denn das Pferd hintun ?« fragte er grinsend, »auf den Balkon ?«

    »Ich hätte gern eins«, sagte Noah.

    Benjamin sah ihn überrascht an. Das hatte nachdenklich geklungen.

    »Wäre schön, so ein Tier«, sagte Noah, ein wenig verlegen. Er sah ihn nicht an, sondern guckte in der Gegend herum.

    »Naja«, sagte Benjamin zögernd, »aber ein Pferd ? Nimm doch einen Hund.«

    »Geht auch nicht«, sagte Noah, »wo soll der tagsüber bleiben ? Meine Eltern arbeiten, ich gehe zur Schule, und Oma kann nicht gut laufen.«

    Ein Moment des Schweigens.

    »Aber ich hätte schon gern ein Tier … «

    Sie schlenderten schweigend weiter, kamen an den Stand des Radsportvereins RC Charlottenburg. Dort standen keine anderen Leute, daher konnten sie die ausgelegten Informationen in aller Ruhe in Augenschein nehmen. Es stellte sich heraus, dass Jungen jeden Alters mitmachen konnten, besser gesagt mindestens fünf Jahre alt sollte man schon sein. Wer kein Fahrrad besaß und sich auch keins leisten konnte, bekam erst einmal eins gestellt, das er allerdings nicht mit nach Hause nehmen durfte, weil es von mehreren Jungen benutzt werden musste. So

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