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Die Mädchen aus Himmelpfort: Kriminalroman mit Geza Bòdy
Die Mädchen aus Himmelpfort: Kriminalroman mit Geza Bòdy
Die Mädchen aus Himmelpfort: Kriminalroman mit Geza Bòdy
eBook329 Seiten4 Stunden

Die Mädchen aus Himmelpfort: Kriminalroman mit Geza Bòdy

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Über dieses E-Book

Aus einem kleinen Dorf in Brandenburg, Himmelpfort, ist eine junge Frau nach Berlin gefahren - und dort spurlos verschwunden. Die Eltern, er früherer Polizist, sie Arbeiterin, beauftragen Bòdy, nach ihr zu suchen. Bòdy weiß schon, wo er ansetzen muß: Er hat ein Pornovideo gesehen, auf dem die junge Frau sich vor einer Kamera auszieht. Bòdy ermittelt, stößt gegen eine undurchdringliche Wand. Er sucht den anonymen Pornofilmer, der reihenweise junge Frauen auf der Straße anquatscht, sie dazu bringt, vor seiner Kamera zu posieren. Die Verschwundene war noch nicht 18...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Juni 2020
ISBN9783347066663
Die Mädchen aus Himmelpfort: Kriminalroman mit Geza Bòdy

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    Buchvorschau

    Die Mädchen aus Himmelpfort - Thomas Til Radevagen

    Krimi-'Held' Geza Bòdy

    'Geza Wilhelm Bòdy, Private Ermittlungen & Personenschutz', so steht es auf seiner Geschäftskarte. Bòdy lebt und arbeitet in Berlin, der deutschen Hauptstadt mit ihren 3,4-Millionen Einwohnern. Mit den Menschen im Berlin umgebenden Speckgürtel und im entfernteren Umland - Brandenburg - ballen sich hier 7 Millionen Menschen zusammen.

    Bòdy steht allein in der Masse, neudeutsch: er ist ein Single. Er hat eine Vergangenheit in den alten Ländern der Bundesrepublik; sie spielt ab und zu sachte hinein in seine Geschichten. In seinem Lebenslauf stünde, dass er in der tiefsten Provinz, auf dem Dorfe, im Münsterland aufwuchs, das Gymnasium in der Stadt besuchte, als Austauschschüler ein Jahr in Amerika war; dass er nach dem Abitur als Längerdienender in die Bundeswehr eintrat und es dort bis zum Leutnant brachte. Dann besann er sich anders. - Dank eines unerwarteten Erbes konnte er ein Uni-Studium aufnehmen, Sport und Geographie.

    Schon von seinen Anlagen und Neigungen her ist er sehr sportlich, körperbetont und aktiv. Deshalb ist er an Sportthemen generell stark interessiert; andererseits geht er leidenschaftlich gern auf Reisen. Er hat schon viele Ecken der Welt gesehen. Bòdy tendiert - vielleicht unbewusst - dahin, seine privaten Hauptinteressen mit Dienstlichem zu verbinden. Während der Semesterferien verdingte er sich als Sportinstrukteur und Animateur in exotischen Ferienclubs.

    Nachdem sein Erbe auf (zu) vielen Fernreisen fast aufgezehrt war, ergab sich relativ zufällig die Gelegenheit - über Studienkollegen und ex-Kameraden der Bundeswehr - in seinen jetzigen Job hineinzurutschen. Bòdy machte sich nach einigen erfolgreich erledigten Aufträgen selbständig. Er lebt einmal ganz gut (dann zieht es ihn wieder auf Reisen), ein anderes Mal so la la - von den unterschiedlichsten Aufträgen.

    Geza Wilhelm Bòdy verdankt den ersten Vor- und den Familiennamen dem ungarischen Vater. Dieser heiratete seine Mutter und verließ sie und den Sohn mit unbekanntem Ziel, als Geza noch ein kleiner Junge war. Vom Vater geerbt hat Bòdy das Aussehen, er ist ein attraktiver Mann: Mitte bis Ende 30, dunkelhaarig, südländisch vom Typ her. Er ist zwar nur mittelgroß und kein aufgepumpter Muskelmann, doch das gleichen seine Durchtrainiertheit und äußerste Reaktionsschnelligkeit aus. Er kann zu einer explosiv-gefährlichen Kampfmaschine werden, wenn die Situation es erfordert.

    Bòdy kleidet sich geschmackvoll, sportlich-leger. Er trinkt nicht und raucht nicht.

    Obwohl er gerne in Berlin lebt, ist er kein eingefleischter Stadtmensch. Er hält sich ebenso oft ausgesprochen gern im Freien auf, er mag die Natur und Tiere.

    Bòdy besitzt kein eigenes Auto, dafür aber mehrere Zweiräder - zwei Motor- und diverse Fahrräder, sowie andere eigene Sportgeräte - Windsurfboard, Tauchausrüstung, Paraglider, Skier.

    Für die Arbeit, seine Fälle, nimmt er meist Leihwagen oder ein 'StattAuto' - ohne jedoch ein 'Grüner' zu sein. Politik ist ihm ein ausgesprochener Gräuel!

    Häufig fährt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln, er ist leidenschaftlicher Bahn Fan, er kennt die Streckennetze und Verbindungen in- und auswendig.

    Bòdy ist ledig. Teils, weil er 'die Richtige' noch nicht gefunden hat, teils, weil er Job und Lebensweise für eine Ehefrau als Zumutung empfände. Er hat gelegentlich kürzere Affären mit Frauen. Vermutlich aber ist er heimlich ein unverbesserlicher Romantiker (wie viele klassische Detektive).

    Zeitweise kommen die Prägungen der strenggläubigen ländlichen Region, in der er aufwuchs, wieder in ihm durch, und zwar stärker, als ihm selber lieb ist.

    Er pflegt und schätzt echte, langanhaltende Freundschaft, er sucht diese auch zu Frauen - wenn sie nicht zu lieben sind…

    Bòdy ist nicht unerfolgreich, dennoch passiert es ihm auch, dass er die Lösung 'seines' Falles im schlimmsten Fall in der Zeitung lesen muss. Er ist - was in dem Job zugegebenermaßen hinderlich ist - in seltenen Fällen gutgläubig und ein wenig naiv. Im 'worst case' geht er schon einmal zwiespältigen Auftraggebern auf den Leim. Er leistet sich trotzdem so etwas wie ein Ethos. Obwohl ihn fast jeder Fall etwas mehr desillusioniert, möchte er sich seine Naivität bewahren, Zynismus lehnt er ab. - Das ist womöglich gegen den Trend.

    - Ist Bòdy wirklich ein Naivling? Oder ein romantischer Träumer, der in diesem harten Job nichts verloren hat? - Weder noch!

    Geza Bòdy ist ein Mann unserer Zeit. Er steht mitten im Leben. Er schlägt sich so durch, wie die meisten heutzutage.

    Bòdys eigene, nicht verleugnete Biographie macht ihn nur empfänglicher für bestimmte Konstellationen. - Dass ihn sein Erleben als Kind sehr geprägt hat, wird in manchen Situationen ebenfalls spürbar. Die Mutter, Münsteranerin, hatte den Vater, einen jungen Exil-Ungarn geheiratet, obwohl die konservativen Dörfler dagegen waren, Anfang der 60er. Der Vater, kaum akzeptiert von der Bevölkerung („Der Zigeuner") hielt es in dem Kaff nicht aus, er verschwand, als Geza noch klein war. Der Junge wuchs so vaterlos auf, von Großvater und Onkeln beeinflusst. Seine katholische Mutter blieb allein, bis an ihr Lebensende.

    Das unerwartete Erbe vom 'verschollenen' Vater ermöglichte ihm zu studieren. Sein Erzeuger hatte sich keine 150 km weit entfernt, hinter der Grenze in den Niederlanden eine einträgliche Existenz aufgebaut. Gezas Mutter erlag kurze Zeit nach dem das Erbe auf Mutter und Sohn gekommen war, einer schweren Erkrankung.

    Geza war außer zu dem Erbteil ganz unerwartet auch zu einem Halbbruder in Holland gekommen. Mit ihm versteht er sich gut, nachdem sie sich kennenlernten.

    Bòdy hat eine Schwäche: Frauen. Er weiß darum, dass er gut aussieht. Es fiele ihm nicht schwer, Freundinnen zu haben. Er hat gute Manieren und kann sich auf allen Parketts bewegen. Die große Liebe scheint ihm jedoch noch nicht über den Weg gelaufen zu sein. Vielleicht misstraut er solchen Begriffen auch. Er pflegt Freundschaften. Womöglich hat er auch eine Tendenz, sich heimlich in Klientinnen zu verlieben, wenn sie das 'gewisse Etwas' besitzen.

    Wie er dem Beruf kam: Gerade als das Erbe fast aufgebraucht war, hatte er sein Studium abgeschlossen. Aussichten auf eine Referendars Stelle als Lehrer waren gering, sie reizte ihn ohnehin nicht sonderlich. Bòdy hatte überlegt, wie er sich mit seinen Qualifikationen den Lebensunterhalt sichern könnte. Da er schon einige Male aushilfsweise als Bodyguard gearbeitet hatte, bei Großveranstaltungen, beim Personenschutz von Prominenten, kam eins zum anderen: Er rutschte quasi naturwüchsig in den Job des Privaten Ermittlers hinein.

    Kurz nach der Wende im Herbst 89 war er endgültig nach Berlin gezogen.

    Geza Bòdy studierte früher einige Semester in Berlin, machte aber in den alten Ländern Examen. Er hat ein Gewerbe angemeldet, zuvor an einer privaten Akademie Kurse absolviert. Diese haben ihm neben seiner militärischen Ausbildung und Karriere das Rüstzeug für den Beruf gegeben. Seitdem arbeitet er, mal erfolgreich, das heißt, gutverdienend, mal weniger erfolgreich, was Durststrecken bedeutet, in dem Job.

    1. Es war Sommer. In der Luft schrillten Vogelschreie. Rotten junger Mauersegler und Mehlschwalben. Direkt unterhalb des Dachfirsts, hinter der mit Schieferplättchen verkleideten Wetterwand des massigen Hauses, musste ein Nest sein. Die Jungvögel übten Sturzflüge, Loopings, atemberaubende Kehren. Vor einer halben Stunde hatte ihn das freche Geschwader doch tatsächlich mit Kot bombardiert! Hier auf der Terrasse, als er gemütlich in einer Schlechtwetterpause draußen Tee trinken wollte, Übermut oder Absicht? Ihr Ferkel! rief Geza Bòdy aus, ehe er mehr belustigt als verärgert vorsichtshalber seinen Teebecher abdeckte.

    Drinnen klingelte das Telefon. Ob er es gleich beim ersten Mal wahrnahm, war ungewiss; der Apparat stand weit entfernt und um die Ecke im rollschuhgeeigneten Korridor. Wer ruft jetzt an? Nur wenige Leute wussten, dass er hier war. Für den Freund, in dessen Heim er die dicke Katze versorgte? Bei O… sagte er und lauschte.

    Ist da die Detektivi… Boddi? Meine Tochter ist weg. Verschwunden. Nicht wiedergekomm' aus Berlin. - Sie sind doch in Berlin? - Sie iss nach Berlin. 'Ne Woche bloß, zu 'ner Freundin, hat se gesagt. Vor acht Tagen sollte sie wiederkomm'. Aber sie iss nich gekomm'. Bitte, könn' Sie sie suchen? Die Stimme des Mannes klang weinerlich, er sprach unsicher, als wenn er zu viel getrunken hätte. Bòdy konnte ihn erst unterbrechen, als der Sprechende am anderen Ende Luft holen musste.

    Woher haben Sie denn meine Nummer?

    Aus' m Telefonbuch. Meine Frau, hier neben mir, hat sie rausgesucht, aus ‘m Telefonbuch. Das Mädel iss unser liebstes. Es ist ihr hoffentlich nichts passiert.

    "Moment, bitte, mit wem spreche ich überhaupt? Hier ist Geza

    Bòdy."

    Ja, zu Ihn' wollt' ich. Entschuldigen Sie. Ich bin ganz fertig, 'n bisschen durcheinander: Also, Schwenrich iss mein Name, Dieter Schwenrich, von Dranse… Tut mir leid, meine Nerven…

    Beruhigen Sie sich doch. Bitte! Haben Sie Vermisstenanzeige erstattet? Bei der Polizei?

    Nein, keine Polizei, wir wollen keine Polizei."

    Warum nicht?

    Wir wohnen auf' em Dorf. - Da wird so viel gequatscht. Ich kenn den Laden. Polizei - da passiert nischt!

    Wie alt ist Ihre Tochter denn?

    Achtzehn.

    Und wie lange ist sie - äh, abgängig? Bòdy ärgerte sich über den blöden Ausdruck und schnitt eine Grimasse in den Garderobenspiegel hinterm Telefonboard.

    Vier Tage.

    Herr Schwenrich, mit 18 ist man volljährig, erwachsen. Das wissen Sie sicher. Wer weiß, wo ihre unternehmungslustige Tochter in der Weltgeschichte herumgondelt. Sagt man heute noch jedes Mal den Eltern Bescheid, wenn man mal ein paar Tage…?

    Unsre schon! - Die fährt nich' weg und kommt einfach nich' wieder. Ick mach' mir wirklich Sorgen. Wollen Sie uns nicht helfen oder können Sie nicht? Bitte! Sie kenn' sich doch aus in der riesen Stadt…

    Nach Bòdys Ferndiagnose hatte der Anrufer einen über den Durst getrunken, so unsicher und verschliffen, wie er sprach. Andererseits, würde jemand so eine Geschichte im Suff erfinden?

    Hören Sie: ich wäre ja unter Umständen bereit, den Fall zu übernehmen. Im Moment bin ich aber gar nicht in Berlin. Ihr Anruf wurde mir durchgestellt, von meinem Bürodienst aus. Heute ist - ? - Freitag. Fragen Sie doch erst mal bei allen Freundinnen ihrer Tochter herum, ob sie da ist, oder ob sie was wissen. Bestimmt klärt sich alles übers Wochenende…

    Sie sind gar nich' in Berlin? Aber ich hab' doch 'ne Berliner Nummer gewählt! Und Sie sind am Telefon! zweifelte der Mann.

    Rufumlenkung.

    Im Hintergrund hörte er eine andere, weibliche Stimme, verstand aber nichts.

    Ich habe schon überall rumgefragt, das könn'se mir glauben. Aber wenn Sie nicht da sind, könn' Sie jemand anderen empfehlen?

    Ich geb' Ihnen die Nummer von einer Kollegin, die in solchen Angelegenheiten Erfahrung hat…

    So endete ihr Gespräch.

    Bòdy trottete auf die Terrasse zurück, trat an die Brüstung. Er seufzte, halb in die Luft, halb an Hund Bürste gewendet: Mannoman! 18-jährige verschwindet im Sündenpfuhl Berlin! Das ist ein Hit, undankbarer Job! Nichts für dich.

    Hier auf dem Lande, das war das pure Gegenteil vom Moloch Großstadt: Das ganz unländlich hochragende Haus thronte wie Neuschwanstein auf einem Hügelsporn. Mit der Schieferverkleidung und dem graublauen Dach hätte es eher in ein Eifelstädtchen oder ans Fichtelgebirge gepasst. So stand es, etwas deplatziert wirkend, als vorletztes an einem Sträßchen, in dem sonst nur Einfamilienhäuser gebaut worden waren.

    Hinter 'seinem' Haus endete der öffentliche Weg, er führte als Privatstraße durch eine Toreinfahrt in ein herrschaftliches Anwesen. Das wurde als Alters- und Pflegeheim genutzt. Bei erträglich schönem Wetter saßen immer ein paar steinalte, im Kopfe oft nicht mehr ganz richtige Weiblein und Männlein auf Bänken vor dem Portal des Hauses. Wer noch einigermaßen gut zu Fuß war, musste von den Pflegern im Auge behalten werden. Sie liefen manchmal verwirrt weg. Kurz nachdem er angekommen war, hatte Geza so ein altes Muttchen einen Heidenschrecken eingejagt. Es lag regungslos im Straßengraben unten am Fluss und sah aus, als wäre es tot. Die Greisin war aber nur eingeschlafen. Geza kannte sie nicht, schaltete aber richtig. Er hatte sie geweckt und das fettlose, fleischarme und federleichte Knochengerüst die 400 Meter nach oben getragen. Seitdem grüßten ihn die Leute. Geza benutzte, nicht ganz legal, aber geduldet, öfter den Privatweg durchs private Heimgelände. Er ging in das unheimlich steile Sträßchen über, das direkt vor der Brücke zum Dorf in die Landstraße mündete. Das sparte mindestens einen Kilometer Umweg.

    Von der Terrasse hier oben ging der Blick weit hinaus ins Tal. Unten, kaum 150 Meter Luftlinie entfernt, eilte der Fluss dahin. Sein Bett war randvoll; braun, schnell und leise gluckernd strömte das Wasser durch die nassen Wiesen, strudelte gurgelnd durch die Biegungen. Starke Regenfälle in den letzten Tagen hatten den Fluss anschwellen lassen. Für Geza war das frustrierend. Unten im Garten lagerte, unbenutzt seit seiner Ankunft, das Kajak, ein Paddelboot aus farblosem Polyester. Ja, paddeln hatte er hier wollen. Daraus wurde nun nichts. Der Freund hatte ihn damit hierher gelockt, zwei Wochen ganz in Ruhe und viel frischer Luft: Zwischen Wald, Hügeln und Wasser. Er brauche sich dafür nur ein bisschen um die Katze kümmern. Füttern und ihr Klo säubern - was sie sowieso nie benutze, sie sei Tags immer draußen. Ohne zu zögern hatte er ja gesagt. Eine willkommene Gelegenheit, einmal mehr dem immer lärmenden Berlin zu entfliehen.

    Unter immer noch dicken Wolkengebirgen, die über einen etwas freundlicheren Himmel segelten, schweifte der Blick über den weiten, flachen Talboden hinweg auf den Gegenhang. Dort hüpfte er über den Bahndamm, stieg höher hinauf, weit oben verlief die Autobahn. Von ihr war nur ein spielzeugkleiner endloser Strom von Lastzügen, ihren Aufbauten, zu sehen. Wenn die Sonne sich in den Scheiben spiegelte, blinkte es blendend auf, reflektierten die Strahlen bis zu ihm. Tag und Nacht war ein ständiges fernes Rauschen zu hören, nicht unangenehm. Die Eisenbahnzüge machten mehr Krach, aber auch ihr Geräusch war erträglich, fast beruhigend. Im Winter musste es sehr still sein, da mochte er kaum hier wohnen. Er unterschied Güter- und Personenzüge ohne hinzusehen.

    Hinter dem waldlosen Gegenhang waren sanfte Hügel geschichtet, je ferner, desto blasser wurden sie. Ganz links im Blickfeld lag unten das nähere Dorf. Dort gab es ein Gasthaus, aber keinen Laden mehr: Zum Einkaufen musste man ins andere, größere rechts; mit Bahnhof, Geschäften, Apotheke, Post, und der Autobahnauffahrt, es lag hinter der Waldecke, nur ein paar Gewerbebetriebe ragten in sein Sichtfeld. Bis an die Landstraße heran, die ein Stücklang direkt oberhalb des Flusses verlief, zog sich der Wald vom Hügel hinter dem Haus herab. Hangaufwärts stieg der Hochwald steil bis an die Hügelkuppe. Auch aus dem Wald tönten Vogelschreie den ganzen Tag: Im verborgenen Horst eines Raubvogelpärchens musste sich Nachwuchs eingestellt haben. Manchmal sah man einen der Alt Vögel hoch über den Wiesen kreisen. Die Schwalben kümmerte das nicht. Sie waren viel zu schnell und wendig für den Mäusejäger.

    - Schön war es hier! - Richtiges echtes, deutsches Märchenland. In einigen der umliegenden Dörfern hätten die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm aus der nahen Universitätsstadt sich von den alten Frauen Märchen erzählen lassen und sie dann aufgeschrieben. Die deutsche Märchen Trasse versuchte das in Tourismus umzumünzen.

    Die nahe Natur, ihre Geräusche wie ihre Stille erfreute Geza. Er empfand den fernen Verkehrslärm nicht als störend.

    Molly, die dicke Katze, hatte ihn auf das Mauerseglernest aufmerksam gemacht. Mindestens einmal täglich sprang sie vor seinen Augen aufs Terrassengeländer, reckte den Hals, keckerte leise aufgeregt, leckte sich das Schnäuzchen und sah ihn auffordernd an, als wollte sie sagen, Los, hilf mir mal rauf! Klar! Unerreichbar für sie war das Nest hinter den Schieferschindeln - welche Provokation für sie!

    Was war das eben gewesen? Der Anruf aus einer anderen Welt?

    Junge Frau verschwand, kam einfach nicht mehr nach Hause! Das würde sich hoffentlich von selbst klären, oder die Kollegin machte es.

    Geza suchte das Beste aus der Situation zu machen. Trotz des unerwartet durchwachsenen, mistigen Wetters: Am Tage radelte er mal ins Dorf zum Einkaufen, mal durch die Felder - in eins der nächstgelegenen Städtchen. Unter zweien hatte er die Auswahl - rechts oder links? Noch zwei solche Märchenkulissen, die Touristen bis von Holland hierherzogen: die Altstädte bildeten ein Gewirr aus Fachwerksgassen. Fast alle Häuser waren historisch restauriert und schmuck bemalt. Ihm, der Berliner Großstadt Pflanze, kam das unwirklich vor wie die Modellbaulandschaften von Freunden der elektrischen Eisenbahn.

    An allen Tagen las er viel und lange. Der seltsame Anruf aus Berlin war bisher der einzige gewesen. Er hatte das Telefon auch kaum benützt. Warum auch? Für dringende Fälle war mit seinem Büro-Service eine Rufumlenkung hierher vereinbart. Seine letzten Aufträge waren Durchschnitt und Routine gewesen, sie hatten ihn aber dennoch ganz gut verdienen lassen. Er war momentan nicht darauf angewiesen, unbedingt gleich den nächsten Auftrag anzunehmen, der ihm angeboten wurde. Noch dazu so einen!

    Abends langweilte Geza sich. Im Sommer, durch die Europäische Sommerzeit verstärkt, wurde es sehr spät dunkel, erst nach zehn war es richtig dunkel. Dem gewohnheitsmäßigen Spät-zu-Bett-Geher Geza blieb noch ein langer Tagesrest. Der tägliche Wald - eher Crosslauf - bergauf, bergab und auch die Radelei forderten ihn körperlich nicht genug. Geschweige denn, dass er erschöpft war. In die größere Stadt mit Studentenleben, auch nicht weit, wollte er nicht; auf Dorfkneipen stand ihm der Sinn schon gar nicht.

    Die Dickmadame, Molly, hielt sich tagsüber lange draußen in den Nachbargärten auf, sie ließ sich mehrmals bitten, bevor sie antrollte. Das war ein Ritual. Geza musste oft zum letzten Mittel greifen, das letztlich wirkte: Er rappelte mit ihrem Futternapf, rührte klappernd mit einer Gabel in der Futterdose. Das typische Geräusch hörte sie anscheinend auch auf hundert Meter und mehr. Dort ruhte sie unter irgendeinem trockenen Unterstand mit guter Übersicht. Das war Gezas tägliches Zeremoniell: er stieg die Treppe hinunter an die Haustüre und rief: Molly, reinkommen. Fressen! - Nichts. Wieder hinaufgehen, das Blechzeug holen, vor der Haustür damit herum rasseln, wieder lockend rufen, Fresschen! Und nach einiger Zeit kam sie dann, aufreizend langsam. Maunzend und damit sagend, sie wollte jetzt sowieso gerade kommen. Nach verlorenen Revierkämpfen mit Nachbarkatzen, die hier turniermäßig täglich stattfanden, flüchtete sie allerdings, dann im Galopp. Es gab ein paar jüngere und kampfkräftigere Katzen in der Nähe, die ihr das Leben schwer machten. In ihrer Höhle - der Wohnung des Freundes - war sie sicher. Geza, der fremde Mitbewohner, hielt ihr die Tür auf und gab ihr Futter. Die dicke, alte Katzendame im zu weit wirkenden Pelzmantel hielt auf Abstand zu diesem Lakaien: selbst nach fünf Tagen noch verschmähte sie das Fußende seines Bettes, wo es doch dort so schön warm war! Und dann dieses fremde, kurzfellige Wesen! Gezas Hund Bürste. Sie ignorierte ihn einfach, sah durch ihn hindurch, obwohl der freundlich wedelnd signalisierte, dass er sie mochte.

    Mit Bürste redete Geza die Tage selten. Er war vom Mitlaufen und Tollen tagsüber am Abend schlapp und lag faul und zufrieden in der Ecke des Erkerzimmers; vielleicht war es auch die ungewohnte Umgebung, die den Setter so wenig unternehmen ließ.

    Geza langweilte sich. Es gab zwar einen Fernseher, aber er empfing nur drei Programme, und das mit einer grauenhaften Zimmerantenne! Jedes Mal musste er minutenlang an ihr herumdrehen, bis das Bild einigermaßen deutlich war, ohne Doppelschatten. Für den zwanghaften Zapper Bòdy eine ganz haarige Situation. Selbst im Appartement an der Ostsee, wo er ein-, zweimal im Jahr ein paar freie Tage verbrachte, gab es Satellitenanschluss, spendierte die Schüssel auf dem Dach dreißig Programme. Im Erkerzimmer, dem Wohnraum des Freundes, standen aber zum Ausgleich gleich zwei Videorecorder und eine Reihe Kassetten mit Aufzeichnungen, auch ein Stapel bunter Hüllen von Kaufkassetten lag im Regal daneben. Er machte also sein Programm selber.

    Di, 2.12., Mi, 26.11., Do, 13.11.

    Ohne große Lust sah er sie durch. 'Western' und 'Erotik'-Filme hatte der Freund von Hand notiert, irgendwo musste er ein Verzeichnis haben, die Kassetten waren nummeriert, aber es war nichts zu entdecken.

    Was versteht der unter 'Erotik'? murmelte Geza. Wenn er das so offen herumliegen lässt, wird wohl kaum was Schärferes dabei sein… Er hätte sie weggeräumt, irgendwo eingeschlossen. Aber gut.

    Einsame Männer brauchten sicher ab und zu einmal etwas Anregendes…Er schob eine Kassette in den Schacht und drückte die Fernbedienungen, es jaulte. Er probierte mehrere Kassetten durch, ihre Bildqualität war zum Wegsehen, der Freund hatte tatsächlich mit dieser Zimmerantenne empfangene Sendungen aufgezeichnet! Mein lieber Mann! Schenk' ihm zu Weihnachten eine Satellitenanlage! schwor sich Geza, Sonst kommst du nicht mehr! Sowas gab es mittlerweile für rund 250 Mark, mit Schüssel.

    Die Rückenschilder der Kaufkassetten mit buntbedruckten Papphüllen verhießen auch nichts Besseres. Er probierte die erste, 'Grusel' stand handnotiert da. Besser als gar nichts! Er ließ sich in die Couchkissen sinken. Der Film startete mit einem Vorspruch in mehreren Sprachen. Er drohte missbräuchliche Verwendung juristisch zu verfolgen. Na, was soll's? Endlich ein Vorspann: ein runder Po, um den ein Bogen gezogen wurde, das war ein Firmenname, die Marke. Was danach kam, hatte er nicht erwartet. Das war eigentlich kein Grusel, sondern ein ganz anderer Film. Quicklebendige Teenies - Ganz frei und ausgezogen.

    Was ist das denn? Geza ließ die Kassette weiterlaufen.

    Der Film begann dokumentarisch: Eine Straße, städtisch. Autos fuhren durchs Bild, entfernt gingen Passanten. Von außerhalb des Bildes ein Geräusch, das er kannte: Ein orgelnder Ton von Elektromotoren: Tatra-Straßenbahnen, wie in Berlin viele fuhren! Da kam eine ins Bild, im dunkelorange-elfenbein der unmodernisierten Version. Sie stoppte, es klingelte und blinkte. Das musste in Berlin sein! Wo ist das aufgenommen? Der Ehrgeiz des Stadtkenners packte ihn: Scheint 'ne Endhaltestelle. - Rückseite der Humboldt-Universität, Hauptgebäude getippt!" Er sah und lauschte weiter. Aus dem Off klang jetzt nah, gedämpft, eine männliche Stimme:

    Wollen mal sehen, ob nicht eine kommt. Da, da ist doch schon jemand! Eine junge Frau in schwingendem Minirock mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken stieg aus der Tram und entfernte sich aus dem Bild. Die Kamera lief ihr hinterher, das heißt, derjenige, der sie bediente, fing sie wieder ein: Heda, hallo, junge Frau! Die junge Frau hatte zwei abstehende schwarze Zöpfchen, die sie betont schulmädchenhaft aussehen ließen. Sie stutzte, blieb aber nicht stehen. Meinen Sie mich? fragte sie über die Schulter. Die Kamera ging näher an sie heran.

    Ja, Sie! Sehen Sie hier jemand anderes? Und dazu noch eine so Hübsche! Die junge Frau schien leicht perplex, aber auch geschmeichelt. Sie ermahnte den Forschen aber: Was wollen Sie? Sprechen Sie immer so Leute auf der Straße an?

    Ja. Wieso denn nicht? Ist doch nichts dabei! - Ich würd' Sie gerne mal kennenlernen! Sie gefallen mir. Sie sehen gut aus. Wie heißen Sie denn?

    Einfach so die Leute ansprechen! Hier, mit der Kamera? Also nein…

    Sagen Sie mir doch Ihren Namen. Er stellte sich im selben Atemzug vor, um nicht anonym zu bleiben: Ich bin der Bernie.

    Verblüfft von der höflichen Annäherung zögerte sie, Ich, ich…Was wird das denn hier?

    Ich mach' nur ein paar Aufnahmen. Von hübschen Mädchen wie Ihnen. Hmm, tolle Figur haben Sie! Nun sagen Sie mir doch endlich, wie Sie heißen!

    Sie drehte sich wie angekurbelt kokett einmal um die eigene Achse, ihr kurzes Röckchen flog. Der Unsichtbare mit der Kamera hatte eine angenehme Stimme, sie klang nicht ölig oder frech. Der Typ musste ein charmanter Draufgänger sein.

    Ich bin die Kathrin!

    Kathrin, ein toller Name! Oh, Mensch, Kathrin - Du hast klasse Beine, die machen mich ganz verrückt! Sag' mal, würdest Du mir auch ein bisschen mehr zeigen?

    Sie zögerte wieder. Wie meinen Sie das?

    Nur mal das T-Shirt ein bisschen anheben, dass ich sehe, was Du so drunter hast? Nur ganz kurz!

    Die junge Frau blickte zweifelnd in die Kamera und um sich. Hier? Vor allen Leuten? Nee! Empört. Er setzte nach, wollte ihren Widerstand mit Charme und Entschlossenheit brechen:

    Kathrin, hier ist doch niemand. Gehen wir da rüber! Sie setzten sich in Bewegung, die Kamera bewegte sich neben der jungen Frau her, sie im Fokus haltend. Aus dem Off wieder die neugierige, angenehme Stimme: Was machst Du so, Kathrin? Bist Du hier zu Besuch?

    Ja. Ich mach' Ferien.

    "Gehst noch zur Schule?

    Mmh.

    Was hast Du denn heute so vor?

    Will eine Freundin treffen. Wir wollen ins Bad - bei dem Wetter. Sie stand an der Straße von der Kamera umkreist. Sie waren allein.

    Los, heb' mal Dein T-Shirt! - Ein bisschen, nur einen Moment! Bitte! Sie sah sich zweifelnd um, dann lüftete sie entschlossen die Vorderseite ihres nabelkurzen weißen T-Shirts.

    Aber nur ganz kurz! Ein weißer, blau gemusterter BH wurde für Sekundenbruchteile sichtbar.

    Oh, Du hast ja auch einen wunderbaren Busen! Der ist Klasse! Die junge Frau hatte das Shirt schnell wieder fallengelassen.

    "Pass mal auf, Vera, äh Kathrin, ich habe da 'ne Idee. Was hältst Du davon, wenn wir zu mir gehen? Ich bin Fotograf und Kameramann, wie Du siehst. - Ich hab' hier in der Nähe ein Studio.

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